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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

die im Herkommen wurzelten, abgerechnet, ein vorurtheilsfreier Mann. Außerdem that er redlich seine Pflicht, ließ sich als Mensch und Staatsbürger nichts zu Schulden kommen, und brauchte daher Niemand zu fürchten.

Um Pfingsten, nach Dortchens Confirmation, als eben die Obstbäume des ganzen alten Landes in voller Blüthe standen und süßes Aroma durch die Baumhöfe fluthete, schritt eines Abends eine ärmlich gekleidete Frau den Deichweg entlang. Um den Kopf trug sie ein buntes Tuch gewunden, das beide Augen beinahe bedeckte. Ein junger, strammer Bursche von etwa achtzehn Jahren führte die Frau und zählte die quer über den Deich laufenden Gitterthüren, die oft den Weg sperrten, sich aber leicht öffnen ließen und auch von Jedermann ohne Umstände geöffnet wurden. Jede solche Gitterthür bezeichnet nämlich die Grenze oder den Anfang eines neuen Besitzthumes, denn alle in der Marsch belegenen Häuser mit ihren Baumhöfen erstrecken sich über den Deich hinaus an den Fluß, wo die Fahrzeuge der verschiedenen Eigenthümer, von Obstbaumästen überschattet, vor Anker liegen.

Schon aus dem unsichern Gange der Frau ließ sich errathen, daß sie blind sein müsse.

„Dreißig!“ sprach jetzt der junge Mensch und streckte die Hand nach der nächsten Thür aus, um diese zu öffnen.

Die Frau blieb stehen und wandte sich der Flußseite zu. Das Abendroth umhüllte die Tausende blühender Bäume mit Purpur und hauchte auch auf die erschlafften und gealterten Züge der Blinden die Rosen der Jugend.

„Hast Du auch recht gezählt, Heiny?“ fragte sie dann und seufzte leise auf.

„Ganz genau, Mutter!“

„Wie sieht das Gitter aus?“

„Sehr sauber … auf dem Thorwege verziert es eine vergoldete Kugel.“

„Und das Haus in der Tiefe?“

Heiny beschrieb es so genau, daß die Blinde von einem leichten Zittern befallen ward.

„Es ist das gesuchte,“ sprach sie, ihren Mund dicht an das Ohr des Sohnes haltend. „Führe mich nun die Stiege hinunter zum Fluß. Dort muß es schattig sein, und Niemand sieht uns. Schiffe kommen jetzt nicht von der Elbe herauf, denn wir haben Tiefebbe, und die Besitzer der Baumhöfe gehen um diese Zeit mit ihren Leuten zu Tisch. Das ist die beste Zeit, Dich zu unterweisen. Merk’ aber genau auf meine Worte, denn unser Glück hängt davon ab!“

Der Sohn that, wie die Mutter ihm sagte. Unbemerkt gelangten Beide durch ein Labyrinth auch noch an der Deichböschung wachsender und jetzt mit Millionen Blüthen übersäeter Obstbäume bis zum kleinen Hafen des Flusses, auf dessen seichtem Wasser ein Ewer, halb in Schlamm gebettet, lag. An dem breiten, mit farbigen Schnörkeln ausgeputzten Spiegel des Fahrzeuges stand in großen goldenen Buchstaben das Wort „Fiducia“ geschrieben. Es war ein dem Baumhofsbesitzer Osten zugehörendes Schiff.

Unter einem gespaltenen, breitästigen alten Apfelbaume, der an verschiedenen Stellen mit grobem Segeltuch umwunden war, damit er noch einige Jahre Früchte tragen möge, setzte die blinde Frau sich an die Erde. Heiny lehnte neben ihr an dem kranken Stamme. Die Blinde sprach lange und mit tiefer Bewegung, doch so leise, daß der Sohn sich anstrengen mußte, damit ihm keins ihrer Worte verloren gehe. Ein paar Mal stockte die Frau, und Thränen entrannen den lichtlosen Augen. Heiny’s gebräuntes Gesicht aber röthete sich vor Zorn oder Grimm, und seine lebhaften braunen Augen schossen nach der Höhe des Deiches trotzige Blicke.

„Hast Du mich auch vollkommen verstanden?“ fragte die Blinde am Schlusse ihrer Auseinandersetzung.

„Du darfst Dich ganz auf mich verlassen,“ erwiderte der Sohn entschlossen. „Was willst Du, daß ich thun soll?“

„Das Elend Deiner Mutter rächen!“

Heiny reichte der Blinden seine Hand.

„So sage Mutter, was ich beginnen soll.“

Die Mutter zog den Sohn näher an sich und raunte ihm ganz leise Worte in’s Ohr.

„Erst, wenn es finster ist und Alles schläft!“ fügte sie etwas lauter ihrer Weisung hinzu. „Ich warte auf Deine Zurückkunft am dritten Gitterthore von hier flußabwärts. Dort auf der Flußseite steht eine uralte Linde. Sie ist hohl und dient mir als Schlupfwinkel. Wenn ich mich in der Höhlung niederkauere, bemerkt mich Niemand. Führe mich dahin, sobald die Häuser und Gärten in der Dunkelheit nicht mehr zu erkennen sind. Also nochmals: gieb Acht! Auf der Hausdiele links ist ein Fenster. Dies riegelst Du vorsichtig auf, langst hinein und nimmst den Schlüssel. Der Deckel der großen Truhe im Hinterzimmer, das gerade vor Dir liegt, läßt sich leicht heben. Das Kästchen steht auf der rechten Seite vorn in der Ecke. Nimm es vorsichtig auf, damit Du kein Geräusch machst! Ueberbringst Du mir dasselbe wohlbehalten und mit seinem ganzen Inhalte, so sind wir geborgen, und den schlechten Mann ereilt, ehe er es ahnt, die gerechte Strafe für seine Sünden und Verbrechen!“

Eine Stunde später hörte man in der Ferne eine Uhr schlagen. Heiny zählte neun Glockenschläge.

„Ich glaube, es ist jetzt so dunkel, daß wir nicht mehr gesehen werden können, Mutter, wenn wir behutsam hinter den Bäumen nach dem Ort Deines Verstecks fortschlüpfen,“ sprach er. „Bist Du bereit?“

„Führe mich.“

Der Sohn ergriff die Hand der Blinden und geleitete sie zu dem hohlen Lindenstamme.

„Laß die Gitterthüren auf dem Deiche nicht laut zufallen!“ rief sie dem Fortgehenden mit halber Stimme nach. „Man könnte leicht aufmerksam werden und Verdacht schöpfen. Ich vertraue Dir ganz, Heiny, Du bist ja ein kluger gewitzigter Bursche.“

Der Sohn entfernte sich ohne Antwort, überschritt den Deich, öffnete und schloß lautlos jede Pforte, die er passiren mußte, und stieg dann in die Marsch hinab, wo er auf schmalem Stege dem größten der sauber gehaltenen Häuser sich näherte, die hier neben einander, nur durch Hecken und Bäume geschieden, im Frieden der warmen Frühlingsnacht ein schönes Bild ländlichen Glückes und Wohlstandes darstellten.

Nach einer kleinen Weile schon tauchte die geschmeidige Gestalt des flinken Burschen wieder am Fuße des Deiches auf, dessen Böschung er jetzt in hastiger Eile erstieg. Auf dem Rückwege zum Versteck der Mutter vergaß er in der Aufregung deren Warnung, und ziemlich geräuschvoll schlug eine der Gitterthüren hinter ihm zu. Unten in der Marsch bellte verdrießlich ein Hund, schwieg aber sogleich wieder still.

Die Blinde lag mit dem Kopf auf die Erde gebeugt, als Heiny zu ihr trat.

„Gefunden!“ raunte er ihr triumphirend zu und schüttelte das Kästchen vor ihrem Ohr.

„Gut, sehr gut!“ sagte die Mutter, und ein boshaftes Lächeln glitt über ihre fahlen, unschönen Züge. „Nun ist er nur noch ein halber Mensch; denn wo Jemand seinen Schatz hat, da hat er auch sein Herz! Komm, Heiny! Bald wird die Fluth eintreten. Der Schiffer wartet nicht auf uns, wenn wir nicht pünktlich sind, und morgen früh bei Sonnenaufgang müssen wir in Hamburg sein.“

Das Kästchen in ihrer dürftigen Kleidung verbergend, schritt die Blinde an der Hand des Sohnes den Deich entlang, der Elbe zu, deren Ufer sie nach einstündiger Wanderung unangefochten erreichten.




2.

Ein Jahr später, im Herbst, brachte Osten zwei volle Schiffsladungen des ausgesuchtesten Obstes nach Hamburg. Die Obsternte war so ungewöhnlich ergiebig ausgefallen, daß der Ertrag selbst sogenannte gute Obstjahre fast um das Doppelte überstieg. Trotzdem aber verstanden die schlauen Ohlländer aus diesem großen Segen Vortheil für sich zu ziehen, indem es ihnen durch allerhand geschickte Manöver glückte, die Preise ziemlich lange hoch zu halten.

Wenn der Obstbauer aus dem alten Lande gute Geschäfte macht, ist er, obwohl von Haus aus jedem Luxus und thörichter Verschwendung entschieden abhold, doch gelegentlich nicht abgeneigt, sich und den Seinen einen besonderen Genuß zu gönnen.

Heinz Osten war mit Frau und Kindern nach der großen Welthandelsstadt gekommen und hatte gut verdient. Die weiten Taschen seiner manchesternen Beinkleider staken voller blanker Thaler. Er trat in mehr als einen der glänzenden, lockend ausgeputzten Läden, um Kleiderstoffe zu kaufen, wie Frauen und Mädchen im alten Lande dem Herkommen gemäß sie tragen, und so genau er sonst im Handel war, heute zahlte er, ohne lange zu feilschen, ja die Ausgaben selbst schienen ihm Vergnügen zu machen.

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