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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

möchte! Der brausende Zuruf der unabsehbaren Menge war Bürge dafür. Möge der Trauerflor von der blau-weiß rothen Fahne beim nächsten großen Turnfeste Deutschlands verschwunden sein!

Wie viel rührende und erhebende Scenen boten sich aber auch im Publicum selbst dar! – An einer Straßenecke stand auf einer Erhöhung ein ehrwürdiger Greis mit entblößtem Haupte, das nur von wenigen Silberhaaren noch umspielt wurde. Die zitternde Rechte schwenkte mit sichtlicher Anstrengung den Hut zum Willkommen der vorüberziehenden Turner, und das Tuch in der Linken wurde oft zu den Augen geführt, die dem würdigen Alten vor freudiger Rührung übergingen. Die beiden Ordensbänder im Rocke zeigten, daß der Greis vor vielen Jahren seine Kräfte der Befreiung des Vaterlandes geweiht hatte, und bald sollte eine lebendige Erinnerung an jene gewaltige Zeit an ihm vorüberziehen. Als der Brehnaer Turnverein nahete, sah man unter den Mitgliedern desselben einen alten Invaliden in preußischer Uniform, der von zwei jüngeren Turnern geleitet daherschritt und den der endlose Jubel fast zu verjüngen schien. Wie jener Greis den alten Kriegsgenossen erblickte, da richtete auch er sich höher auf und anstatt des Gut Heil rief er mit aller Anstrengung seiner Stimme ein dreimaliges Victoria! hinüber. Zwar verschlang der allgemeine Jubel diesen Siegesruf, aber mein Freund, welcher dem Greise zunächst stand, stimmte in den Ruf mit ein, und glänzenden Auges reichte Jener ihm die zitternde Hand wie zum Danke. „Der Ruf paßt wohl eigentlich nicht recht hierher,“ meinte der Greis. – „Im Gegentheil,“ erwiderte mein Freund, „es ist ein großartiger Sieg über die unselige Spaltung der deutschen Stämme, der heute ohne Blut errungen wird und dem hoffentlich noch andere folgen werden. Wir sollten heute alle Victoria! rufen.“ – „Mir kam dieser Ruf nur so unwillkürlich aus dem Herzen, als ich jenen Invaliden so mitten zwischen dem jungen kräftigen Nachwuchs daherschreiten sah,“ sprach der alte Herr weiter. „O, ich kenne den Mann recht wohl, ’s ist ein preußischer Landwehrmann, der vor fünfzig Jahren dem blutigen Feste bei Leipzig auch mit beiwohnte. Ich habe ihn heute schon gesprochen, ehe der Zug begann. Ach ja, lieber Herr, es ist noch etwas Anderes als die Freude über Deutschlands kräftige Jugend, die mir altem Manne Thränen abpreßt, deren sich ein ergrauter Soldat doch wohl erwehren sollte. Aber die Erinnerung an jenen Einzug, dem ich als kräftiger Krieger vor fünfzig Jahren hier in denselben Straßen nach dem errungenen Siege über den Erzfeind beiwohnte, sie ist es, die mich so weich stimmt, die Erinnerung an meinen besten Freund und treuesten Cameraden, den ich hier an meiner Seite sterben sah. Es war ein furchtbarer Tag, jener 19. October 1813, überall Blut und nichts als Blut, grenzenlose Verwüstung, unendlicher Jammer! Ich war auch Landwehrmann, lieber Herr, und wir zogen genau an derselben Stelle in die Stadt ein, wo heute dieser Friedenszug sie betrat; aber damals stand dort noch ein hohes finsteres Thor, durch das wir uns hindurchdrängen mußten. Aus den Fenstern aller Häuser und in allen Straßen tönte uns auch endloser Jubel entgegen, denn man begrüßte uns als Befreier; aber das waren keine festtäglich geputzten Menschen, sondern bleiche, abgehärmte, hungernde Gestalten, von denen viele selbst schon dem Tode verfallen schienen. Blumen und Kränze gab es auch nicht, mit denen man uns den Weg bestreuete, aber Kugeln und Waffenstücken, die der fliehende Feind weggeworfen, lagen genug da. Die Straßen, welche wir durchzogen, wurden jedoch hinreichend bezeichnet, denn unter uns waren Viele, denen bei jedem Schritte das Blut aus den noch unverbundenen Wunden träufelte. An Schmerz und Blutverlust dachte aber in jenem Siegestaumel kein Mensch, es war Alles vergessen, und der Donnerruf Victoria! drang hunderttausendfach gen Himmel. Ich habe damals wacker mit gerufen, so schwer es mir auch wurde, denn an meiner Seite schleppte sich, von mir nach Kräften unterstützt, mein bester Camerad mühsam hin. Aus drei Wunden blutete er, zwei davon waren im linken Arm und eine Kugel hatte ihn in die Seite getroffen; ich schämte mich fast, daß ich weiter nichts als den Hieb über die Stirn – Sie sehen die Narbe noch hier oben! – aufzuweisen hatte. Mein Camerad wurde von Secunde zu Secunde schwächer, ich wollte mit ihm aus dem Gliede treten, aber dazu war er nicht zu bringen. Er habe noch Kräfte genug, meinte er, und des Sieges wollte er sich aus voller Seele freuen. Da bogen wir um die Ecke des Marktplatzes, und dort empfing uns neuer Jubel; unaufhörlich wurde den Siegern Hurrah zugerufen. Da erhob sich mein Freund plötzlich wie mit neuer Kraft, er machte sich von meinem stützenden Arme frei, richtete sich hoch auf und rief dreimal mit wahrer Löwenstimme: Victoria! Dann aber sank er neben mir zusammen; diese Anstrengung war seine letzte gewesen – mein bester Camerad lag todt neben mir! Um den Todten bekümmerten sich aber die Anderen nicht, sondern es hieß nach wie vor: Victoria! Was war auch ein Menschenleben in jener Zeit, wo der Tod seine Ernte nach Tausenden zählte!“

Welcher Contrast zwischen jenen furchtbaren Stunden und dem friedlichen Jubel am heutigen Tage! Und doch wurde jetzt wie damals ein Sieg gefeiert. Das Siegesgeschrei von heute hieß jedoch nur Gut Heil! und der Weg ging nicht durch Blut, sondern über Blumen.

Schon aber ertönte immer wieder neuer Freudenruf, der den massenhaft anrückenden sächsischen Landsleuten galt. Allgemeinen und wohlverdienten Beifall fand das Trompeter- und Trommlerchor der Knaben, welche dem Bornaischen Turnvereine zugehörten. Hatten doch auch die Leipziger Turner, welche den Schluß des Riesenzuges bildeten, aus ihrer Mitte in wenigen Wochen ein vortreffliches Trommlerchor rekrutirt, und der demselben voran schreitende schweizerische Tambourmajor warf seinen gewaltigen Stab während des Marsches haushoch in die Luft, denselben stets wieder mit bewunderungswerther Geschicklichkeit auffangend.

Aber nicht solchen Einzelnheiten galt der Zuruf, welcher die Luft erschütterte, er galt dem erhabenen Ganzen, der Vereinigung deutscher Söhne aus allen Gauen des großen Vaterlandes. Die Begeisterung und Liebe, die man ihnen entgegen brachte, ist gewiß die schönste Erinnerung, welche die Festtheilnehmer für alle Zeiten bewahren werden.

Die Spitze des Zuges, von Kanonendonner begrüßt, erreichte den Festplatz, während die letzten Abtheilungen von ihren Sammelplätzen sich erst in Bewegung setzen konnten. Auch auf dem Festplatze war der Empfang ein enthusiastischer, denn Tausende harrten dort schon längst der Ankommenden. Die Masse der kostbaren Fahnen ward nun oben im Mittelschiff der riesigen Festhalle angebracht und verlieh dieser ein herrliches Ansehen. Einige Vereine trugen anstatt der ihnen noch fehlenden Fahnen junge Eichbäume ihren Zugabtheilungen voran. Ein Berliner Verein führte einen kleinen Tannenbaum mit sich, der mit kleinen deutschen Fahnen geschmückt war. Wohl keine der prachtvollen Fahnen aber war zu sehen, die nicht während des Zuges mit einem oder mehreren Kränzen geschmückt worden wäre.

Auf dem großen Festplatze waren 720 Turngeräthschaften aufgestellt, und inmitten denselben befand sich der freie Raum für die Freiübungen, so wie das zu den Feuerwehrübungen bestimmte Steigerhaus, welches zugleich nach einer Seite einen großen Balkon für die Festredner, Preisvertheilung u. s. w. aufwies. Als nun die Turnerschaaren vereint standen, da ergriff ein Mitglied des Fünfzehnerausschusses, Dr. Goetz aus Lindenau, das Wort, um in eindringenden Worten die Bedeutung des Festes, den Werth des Turnens zu schildern, ein freies, einiges Vaterland als das höchste Ziel aller Bestrebungen bezeichnend.

Unmittelbar hierauf traten über 7000 Turner zu den Freiübungen an. Ueber die ausgezeichneten Leistungen der Festturnerschaft ist bereits so viel anderwärts berichtet, daß wir hier billig darüber hingehen können. Unvergeßlich wird ohnedies der Augenblick bleiben, wo die vierzehntausend erhobenen Arme mit einem Male an die Körper gleichmäßig niederfielen und ein Geräusch entstand, das sich am besten mit dem Knattern des Kleingewehrfeuers vergleichen läßt. Der Abend des Montags schloß mit einem Nachtmanöver der Leipziger Feuerwehr.

Konnte man den Verkehr auf dem Festplatze bereits am gestrigen Tage einen freundschaftlichen nennen, so gewann er heute nur noch immer mehr an Herzlichkeit. In der Festhalle, wo des Abends Concert stattfand, hatten 6000 Menschen Platz zum Sitzen, aber die Summe der Anwesenden stieg zu jener Zeit auf das Doppelte, weil sich in dem breiten Mittelgang, an den Seiten und zwischen den Tischen ebensoviel hin und her drängten. Oft stockte der Verkehr ganz, doch da wußten die Turner schnell Rath; einer legte beide Hände auf die Schultern des Vormannes, und auf gleiche Weise ging es fort in endloser Reihe, die sich nun wie eine Schlange durch die dichte Menge leicht Bahn brach.

Die Standarten mit den Städtenamen, welche im Zuge den betreffenden Turnern vorangetragen wurden, waren denselben fortan

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