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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

sei aber die Last noch zu schwer, welche die Lider niedergedrückt hielt. Der Puls wurde auch, wie der Arzt versicherte, deutlicher und der Athem voller.

„Nun,“ sagte er, „glaube ich mich verbürgen zu können, daß sie nach einiger Zeit ganz in’s Leben und auch zum Bewußtsein zurückkehrt. Freilich,“ setzte er wohlweislich hinzu, um dem Vater nicht zu gewisse Hoffnung auf Rettung der Tochter zu machen. „freilich kann ich nicht wissen und voraussagen, was dann geschieht.“

Die günstigen Anzeichen hielten und mehrten sich. Allmählich kehrte eine gewisse Wärme in die Glieder zurück, und von den Lippen begann die bläulichweiße Leichenfarbe mehr und mehr zu weichen. Die Beengung der Brust lösete sich in Seufzern, und selbst die Augenlider öffneten sich, wenn auch zuerst nur, um sich alsbald wieder zu schließen. Michel Gerber stand in der gespanntesten und freudigsten Erwartung dabei. „Meine Martha!“ rief er noch einmal, und siehe da, die Tochter schien seine Stimme jetzt zu erkennen, denn sie that die Augen ganz auf und richtete sie auf den über sie gebeugten Vater. Dann blickte sie verwundert auch die Anderen an und in dem Zimmer umher.

So erholte sie sich mehr und mehr, sie kam endlich ganz zum Bewußtsein, fand die Sprache wieder und konnte selbst auf die Fragen antworten, was ihr auf dem Friedhofe begegnet sei.

Sie habe, erzählte sie, lange auf dem Grabe ihrer Mutter gesessen und an die Heirath gedacht, die ihr Vater wünsche, in die sie sich aber noch nicht finden könne; sie habe gebetet, geweint und darüber Alles vergessen. – Michel Gerber zog, als er das hörte, die Stirn in Falten, und der alte Zorn schien sich in ihm regen zu wollen, aber ein Blick auf die Tochter machte ihn bald wieder sanft und geduldig. Allmählich, erzählte Martha weiter, habe sie eine entsetzliche, unerträgliche Angst überkommen, so daß sie am Grabe der Mutter auf die Kniee habe sinken müssen. So habe sie die Hände gefaltet, nach dem Himmel hinaufgesehen und wohl halblaut gerufen: „Mutter! Mutter! Nimm mich zu Dir!“ In diesem Augenblicke habe sich der Himmel über ihr in Feuer aufgethan und eine Feuerwelle sie umgeben. Sie habe da wohl gar geglaubt, die Mutter, die sie so verzweiflungsvoll gerufen, steige im Himmelsfeuer zu ihr nieder, aber sie habe den Gedanken nicht ausdenken können, denn es sei plötzlich ein furchtbarer Donnerschlag erfolgt, und sie wisse nicht, was weiter mit ihr geschehen sei.

Der Arzt, welcher die ganze Nacht am Bette der Kranken geblieben war, reiste am frühen Morgen mit dem Versprechen ab, im Laufe des Tages noch einmal zu kommen, befahl aber auf’s Strengste, die Kranke im Bett zu halten. Diese schlief später lange, anfangs sehr ruhig. Als sie erwachte, klagte sie über Beängstigung. Dazu trat bald wachsende Unruhe und stechender Schmerz in der Brust. Der Arzt erkannte, als er wiederkam, sofort die beginnende Brustentzündung. Die Krankheit steigerte sich schnell zu großer Heftigkeit. Es trat starkes Fieber und mit ihm Irrereden ein. In ihren Phantasten sprach Martha bald mit Angst und Entsetzen, bald mit Spott und unheimlichem Lachen von dem ihr bestimmten Bräutigam.

„Du bist bös, Vater,“ sagte sie einmal, „ich weiß es wohl, aber habe nur noch ein klein wenig Geduld mit mir. Die Mutter kommt auf einem feurigen Wagen aus dem Himmel und holt mich ab.“

Der Vater, der dies hörte, hatte offenbar einen schweren Kampf in seinem Innern zu bestehen. Seiner Liebe zu der Tochter, seinem Wunsche, die Geängstigte zu beruhigen und durch solche Beruhigung vielleicht zu schnellerer Genesung beizutragen, stand seine festgewurzelte Ansicht von dem unbedingten Gehorsam der Kinder, sowie seine durchaus nicht erschütterte Ueberzeugung entgegen, daß die Heirath, die er stiften wolle, doch das Glück Martha’s sei, welches sie nur nicht erkenne. Er konnte deshalb auch zu keinem Entschlusse kommen und tröstete sich in seiner peinigenden Unruhe einigermaßen dadurch, daß er sich sagte, wenn er auch eine Entscheidung nach dem Wunsche Martha’s aussprechen wollte, würde sie ihn jetzt, in dem Irrsinn, doch nicht verstehen; es bleibe ihm also noch Zeit.

Auch mit mir schien sich die Kranke in ihren Phantasieen zu beschäftigen. Niemand freilich von denen, die um sie waren, verstand oder ahnte dies, und ich allein konnte es errathen, als ich erfuhr, einmal habe ein gar freundliches Lächeln ihr Gesicht gleichsam verklärt und sie dann in schalkhaft bittendem Tone gesagt: „Ach nein! Nein! Nicht küssen!“

Da alle Mittel, die der Arzt anwendete, wirkungslos blieben, schüttelte er bedenklich den Kopf und er verhehlte es dem Vater nicht, daß seine Tochter jetzt in großer Gefahr schwebe. Michel Gerber hörte diese Worte an, als wären sie sein Todesurtheil.

Er saß den größten Theil des Tages und der Nacht am Bette der Kranken, und wenn er vielleicht auch nicht erkannte, daß die Schatten des Todes sich bereits über sie zu senken begannen, litt er doch nichts desto weniger Schmerzen, die tief in seine Seele griffen. Er fing allem Anscheine nach sogar an sich Vorwürfe zu machen und Reue zu empfinden, denn er sagte sich, wenn er die Tochter nicht hätte zwingen wollen zu einer Heirath, würde sie durch die Verzweiflung nicht zu dem Grabe der Mutter getrieben und also da auch nicht von dem Unfall betroffen worden sein. Der Stachel der Reue in seinem Herzen wurde allmählich so scharf, daß er sich mehr und mehr zu dem Versuche gezwungen fühlte, gut zu machen, was noch gut zu machen sei. Er benutzte denn auch wirklich einige der lichten Augenblicke im Zustande der Tochter, faßte die eine Hand derselben, die auf dem Bette lag, streichelte mit der andern die bleiche Wange der Kranken und sagte, während ihm die Thränen in die Augen traten:

„Meine Martha! Bleibe bei mir! Thu mir das Leid nicht an mich zu verlassen! Du sollst den nicht heirathen, den Du nicht haben willst.“

Um Martha’s Lippen spielte ein Lächeln; sie sah den Vater mit dankbarer Freude an und antwortete schwach:

„Ich danke Dir, Väterchen! Ich wußte wohl, daß Du mir nicht immer zürnen würdest. O, nun Du mir verzeihst, wird mir auch das Sterben leicht. Es that mir so weh, in dem Glauben von Dir zu gehen, Du grolltest mir.“

„Du wirst nicht sterben; Du wirst gesund werden und leben. und der liebe Gott wird für das Andere sorgen,“ fiel Michel ein.

„Ja, so möchte ich wohl leben,“ sagte Martha, „aber es ist zu spät, ich fühl’s. Sterben muß ich.“

Da stand Michel Gerber rasch auf, denn der Schmerz, der ihn ergriff, war stärker als er, der starke Mann. Er sank auf einen Stuhl und weinte laut und bitterlich. Aber die Sehnsucht nach der sterbenden Tochter trieb ihn bald genug wieder an das Bett.

Als er sich da wieder niedergesetzt hatte, hob Martha mit Anstrengung eine Hand nach seinem Gesicht, um ihn zu liebkosen. Dabei sah sie ihn mit einem so lieblich bittenden Blicke an, wie er vielleicht den Augen der Engel eigen ist, und sagte:

„Väterchen, versprich nur eine letzte Bitte zu erfüllen, die ich auf Erden an Dich zu richten habe.“

„Alles, Kind, Alles!“ sagte der Vater.

„Ich bin Dir darin immer gehorsam gewesen, daß ich mich in unsere Tracht kleidete, wenn sie mir auch lange nicht mehr gefiel. Ich fügte mich Deinem Wunsche, aber – sei nicht bös! – ein Mädchen in Altenburger Tracht sieht im Leben häßlich aus, im Tode aber, im Sarge, wird sie gar widerwärtig. Mir graut vor mir, wenn ich mir denke, so im Sarge zu liegen. Versprich mir – es ist die letzte Bitte Deiner Martha – wenn ich todt bin, mir ein weißes Kleid anlegen zu lassen und mir eine weiße Rose in die Hand zu geben.“

Sie schwieg, und Michel Gerber nickte nur wiederholt zum Zeichen, daß er thun wolle, wie sie wünsche, denn sprechen konnte er nicht.

Nach einer Pause begann Martha noch einmal:

„Laß auch den Freund Engel’s zu meinem Begräbniß holen, damit er mich auch im weißen Kleide im Sarge noch einmal sehe. Willst Du?“

„Ja, ja!“ sagte Michel Gerber tief aufseufzend. Er ließ dann den Kopf auf das Bett sinken und barg da sein von Thränen überströmtes Gesicht. Martha aber legte wie segnend ihre beiden Hände auf das Vaterhaupt, und ihre Lippen bewegten sich wie in stillem Gebete. Dann schloß sie die Augen. Einige Stunden darauf war sie – zu ihrer Mutter gegangen.

Michel Gerber saß lange sprachlos und in sich zusammengesunken da; dann aber raffte er sich gewaltsam auf, um die Anstalten zur Beerdigung der Tochter zu treffen – ganz so wie sie es in ihrer letzten Bitte ausgesprochen hatte. Gleichzeitig erwachte aber auch in ihm der Stolz des reichen Bauers, der sogar in dem Begräbniß seiner verstorbenen Lieben Befriedigung sucht. Seine

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