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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Stimme, die den weiten Saal vollkommen ausfüllt. Sein Vortrag ist wunderbar klar und allgemein verständlich, ohne Phrase, einfach, logisch und stets zutreffend, so schlicht, daß ihn jeder Arbeiter begreifen und ihm folgen kann. Er spricht nicht zu den Leidenschaften, sondern zu dem Verstande und den Herzen seiner Zuhörer; er belehrt sie, ohne pedantisch zu sein, er überzeugt sie durch die bloße Macht der Wahrheit, durch die Kraft seiner Gedanken, ohne je der Menge zu schmeicheln; er ist im höchsten Grade populär, ohne je trivial oder oberflächlich zu werden. Frei von jeder Effecthascherei, von blendenden Schlagwörtern, von lustigen Theorien, ist es ihm nur allein um die Sache selbst zu thun, obgleich ihm alle Künste der Rede in einem seltenen Maße zu Gebote stehen, die feinste Ironie, der glänzendste Witz, der rollende Donner sittlicher Entrüstung, das erhabene Pathos der Begeisterung. So entwickelt er seine Ansichten über die schwierigste Aufgabe der Zeit, über die sociale Frage, über das Verhältniß der Arbeit zum Capital, über die Lage der Arbeiter und die Mittel zu ihrer Verbesserung, indem er das große Problem in praktischer Weise zu lösen sucht und den einzig möglichen Weg zur Versöhnung der einander gegenüberstehenden Interessen zeigt, so daß man mit Recht behaupten darf, daß er die herrlichsten Samenkörner der Bildung und Gesittung, des Friedens und der bürgerlichen Ordnung mit segenbringender Hand ausstreut.

Dieser volksthümliche Redner ist der bekannte Abgeordnete Schulze-Delitzsch, der Apostel der Arbeiter, wie er mit Recht genannt zu werden verdient, seine Zuhörer aber sind die Mitglieder des Berliner Arbeitervereins, der in kurzer Zeit einen hohen Aufschwung genommen hat und eines solchen Lehrers würdig ist. Jene Vorträge aber, die einen so mächtigen Einfluß ausgeübt, sind jetzt gesammelt unter dem Titel „Capitel zu einem deutschen Arbeiterkatechismus“ im Verlage des Herausgebers der „Gartenlaube“ erschienen. Sie geben ein vollständiges Bild von dem Wirken und Streben dieses wahren Volksfreundes, welcher als Begründer der deutschen Arbeiter-Associationen sich ein unsterbliches Verdienst um die deutschen Arbeiter erworben hat. Dieser Seite seiner Thätigkeit ist der vorliegende Aufsatz vorzugsweise gewidmet, nachdem die „Gartenlaube“ bereits früher eine ausführliche Biographie von Schulze-Delitzsch gebracht hat, worin hauptsächlich seine politische Wirksamkeit nach Gebühr gewürdigt worden ist.

Von jeher hat es bekanntlich nicht an Versuchen gefehlt, die sociale Frage, deren Wichtigkeit allgemein einleuchtet, in zufriedenstellender Weise theoretisch und praktisch zu lösen. Ganz besonders beschäftigten sich die Franzosen mit dieser schwierigen Frage, die sie mit der ganzen Lebhaftigkeit ihres für jede Neuerung schwärmenden Geistes ergriffen. In kurzer Zeit tauchten die verschiedensten Systeme und kühnsten Theorien auf, wobei es auf nichts Geringeres als auf einen vollständigen Umsturz der bisherigen Weltordnung abgesehen war. Selbstverständlich mußten diese meist unhaltbaren und phantastischen Pläne bei ihrer Ausführung scheitern. Die Einmischung des Staates, welche der Alles centralisirende Geist des französischen Volkes nicht zu entbehren vermag, erwies sich eher schädlich als nützlich. Die Nationalwerkstätten, welche nach der Revolution vom Jahre 1848 der geistreiche, aber unpraktische Louis Blanc gewaltsam in’s Leben rief, gingen an ihren falschen Voraussetzungen und ihrer fehlerhaften Einrichtung bald wieder zu Grunde und discreditirten alle ferneren ähnlichen Versuche. Durch den Aufstand des fanatisirten Proletariats und die blutigen Kämpfe in den Straßen von Paris wurde der ruhige Bürger und die besitzende Classe zum Feinde jeder socialen Bewegung gemacht und von einer fast lächerlichen Furcht erfüllt. Erst Louis Napoleon, der die ganze Bedeutung der socialen Frage erfaßt hat, benutzt dieselbe als eine mächtige Bundesgenossin für seine selbstsüchtigen Zwecke, indem er sich durch das allgemeine Stimmrecht zum Kaiser erhob und gegenwärtig noch auf die Arbeiterbevölkerung, welche er durch einen vorübergehenden, künstlichen Wohlstand zu gewinnen wußte, sich fortwährend stützt und durch sie seine Stellung behauptet.

Praktischer wurde der Socialismus in England begriffen und angefaßt, wie in der Natur dieses handeltreibenden, der Speculation und bloßen Theorie feindlichen Volkes liegt. Bereits im Jahre 1800 hatte hier der bekannte Socialist Robert Owen die Lage seiner eigenen Fabrikarbeiter zu verbessern gesucht und zu diesem Behufe eine auf moralische Hebung der Arbeiter berechnete sociale Musteranstalt in dem schottischen Dorfe Newlanark gegründet, wobei er von dem Grundsatze ausging, durch Erziehung und Betheiligung der Arbeiter an dem Gewinn dieselben moralisch und auch materiell zu verbessern. Owen hatte seine Ideen dem Kongresse zu Aachen 1818 und mehreren Staatsmännern in London und Paris vorgelegt, aber das Parlament in England widersetzte sich der Annahme seiner Vorschläge, weil einige darin entwickelte religiöse und moralische Ansichten Owen’s mit Recht bedenklich erschienen, indem er nämlich das persönliche Interesse als die Triebfeder und die Hauptsache aller menschlichen Handlungen hinstellte und den Menschen selbst lediglich als ein Product der äußeren Verhältnisse auffaßte. Sein Beispiel indeß sollte nicht so leicht verloren gehen; in den vierziger Jahren bildeten sich in den nördlichen Grenzdistricten von Lancashire und Yorkshire kleine Genossenschaften ärmlicher, durch schlimme Zeiten und Arbeitseinstellung heruntergekommener Fabrikarbeiter, die sich in Erinnerung an das Vorbild Owen’s zusammenthaten, um einige wirthschaftliche Vortheile durch ihre Vereinigung zu erzielen. Diesen ersten und unvollkommenen Versuchen folgten bald größere Associationen von handwerksmäßigen Arbeitern zur Gründung eines Productionsgeschäftes mit fabrikmäßigem Betriebe.

Mit reißender Schnelligkeit vermehrte sich die Zahl dieser Associationen, so daß im Jahre 1861 allein in England ohne Schottland 400 derartige Associationen mit 50–60,000 Mitgliedern, einem Capital von 2 Millionen und einem Umsatz von 6 Millionen Pfd. Sterl. bestanden. Um einen Begriff von den Vortheilen dieser Genossenschaften zu gewinnen, braucht man nur die Geschichte der unter dem Namen der Pioniers von Rochdale bekannten Genossenschaft zu lesen. Dieselbe fing 1844 mit 20 Mitgliedern und einem mühsam beschafften Capital von 28 Pfd. Sterl. an und macht gegenwärtig mit 3000 Mitgliedern und 35,000 Pfd. Sterl. Capital ein jährliches Geschäft von 160,000 Pfd. Sterl. mit einem Reingewinn von 16,000 Pfd. Sterl. Ihren Bedarf an Kleidungsstücken aller Art liefern ihre eigenen Werkstätten. Außerdem wurden hauptsächlich von den Mitgliedern dieser Genossenschaft zwei gewissermaßen Zweiggeschäfte begründet. Erstlich eine Getreidemühle, welche 1852 mit 250 Mitgliedern, einem Capital von 2000 Pfd. Sterl., einem Geschäftsbetrieb von 7000 Pfd. Sterl. und einem Gewinn von 360 Pfd. Sterl. anfing und 1860 schon 500 Mitglieder, 21,000 Pfd. Sterl. Capital, einen Betrieb von 102,000 Pfd. Sterl., einen Gewinn von 10,000 Pfd. Sterl. und eine Dividende von 10 Pfd. Sterl. aufweisen konnte. Noch beachtenswerther in mancher Beziehung ist das zweite Unternehmen, eine Spinnerei und Weberei, welche 1858 mit einem Capital von 5.500 Pfd. Sterl. begründet, seit October 1860 mit den vorzüglichsten Dampfmaschinen und Einrichtungen aller Art, welche 50,000 Pfd. Sterl. erforderten, arbeitet und 1600 Mitglieder zählt. Dazu kommt noch neuerdings die Gründung einer „Baugesellschaft“ zur Erwerbung eigenen Grundbesitzes und eigener Häuser für die Mitglieder, mit einem Actiencapital von 80,000 Pfd. Sterl.

Auch in Deutschland beschäftigte die sociale Frage vielfach die Arbeiter und besonders die kleinen Handwerker, welche sich durch den raschen Aufschwung des Fabrikwesens in ihrer Existenz bedroht und einer unvermeidlichen Armuth preisgegeben sahen, indem sie der drückenden Macht des Capitals keinen Widerstand zu leisten vermochten. Gegen diese Uebel suchte man vergebens Schutz durch die Wiederbelebung des alten Zunftwesens und durch Beschränkung der überhand nehmenden Concurrenz. Das Jahr 1848 brachte nicht nur eine politische Revolution, sondern eine eben so große sociale Erschwerung hervor. Vorzugsweise suchte der Handwerkerstand durch Petitionen und Deputationen bei den gesetzgebenden Versammlungen in Frankfurt und Berlin einen Einfluß auf die Gesetzgebung auszuüben und seine nicht immer gerechtfertigten Forderungen und Wünsche durchzusetzen; was ihm auch zum Theil durch den ausgeübten Druck und die Macht der Verhältnisse, nicht eben zu seinem Vortheile und zum Nutzen des Ganzen, gelang. Bald erwiesen sich aber diese sogenannten Verbesserungen, wie das in der Natur der Sache lag, als eitles Flickwerk und keineswegs ausreichend, die Hülfe und das Eingreifen des Staates als unzulänglich, da keine Gesetzgebung der Welt im Stande ist, Todtes zu beleben und den unaufhaltsamen Gang der Geschichte, der rücksichtslos fortschreitet, zu hemmen.

Bald erkannten die Einsichtsvolleren unter den Handwerkern und Arbeitern ihren begangenen Irrthum und suchten Rettung und Hülfe in sich selbst und in der freien Genossenschaft mit ihren unerschöpflichen Hülfsquellen. Zugleich fand sich auch der rechte

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 518. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_518.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)