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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

so leicht es auch gewesen sein würde, Martha’s zarte Gestalt emporzuschwingen. Sie würde es auch in keinem Falle geduldet haben. Wir tanzten indeß eine ziemlich lange Zeit, und Michel Gerber hatte offenbar seine große Freude daran, denn er wendete seine schmunzelnden Augen von der lieblichen Tochter nicht ab. Diese wurde jedoch des wüsten Schreiens, Stampfens und Jauchzens noch früher überdrüssig als ich, und als die Musikanten eine Pause machten, in deren Folge ein Hin,- und Herwogen und Drängen unter den Tanzenden entstand, schlug sie mir vor, die allgemeine Verwirrung zu benutzen und fortzugehen.

„Am Ende käme einer von den Burschen,“ sagte sie, „vielleicht gar ein Vetter, und verlangte, daß ich auch mit ihm tanze. Das könnte ich nicht, und doch möchte ich auch keinen durch mein Weigern beleidigen.“

Sie wand sich mit den geschmeidigen Gliedern zwischen den Drängenden leicht hindurch, schlüpfte hinaus und war verschwunden, ehe es Jemand bemerkte.

Draußen wanderten wir lange über eine duftende Wiese, an der sich ein Bach hinschlängelte. Die tiefste Stille herrschte ringsum. Einmal bückte sich Martha am Ufer des Baches nieder und pflückte einige Vergißmeinnicht. Mit diesen Blumen kam sie dann zu mir, und begann sie mir spielend in das Knopfloch des Rockes zu stecken. Sie sah mir dabei lachend in das Gesicht, und ihre Lippen kamen den meinigen so nahe, daß ich der lockenden Versuchung nicht zu widerstehen vermochte. Rasch bückte ich mich ein wenig und küßte sie auf den blühenden Mund.

Sie sah mich anfangs erschrocken an, dann wurde ihr Blick ernst und endlich erhielt er einen bittenden Ausdruck.

„Nicht küssen! Ach nein! Nicht küssen!“ sagte sie. „Wenn ich Ihnen gut bleiben soll,“ fuhr sie nach einiger Zeit fort, „und ich habe Sie gleich gern gehabt,“ setzte sie im Tone der ehrlichsten Aufrichtigkeit hinzu, – „dann küssen Sie mich nicht wieder.“ Die Röthe, welche bei diesen Worten ihr Gesicht überflog, stand ihr reizend. „Ich müßte mich sonst vor Ihnen fürchten, ich könnte Ihnen nicht mehr wie jetzt offen in die Augen sehen und auch nicht mehr mit Ihnen reden, wie mir’s eben um das Herz ist. Nicht wahr, Sie versprechen mir, mich – nicht wieder zu küssen?“

Sie hielt mir treuherzig die Hand hin, damit ich bestätigend und betheuernd die meinige hinein lege, und sie schien nicht im mindesten zu ahnen, wie schwer sie mir es machte, gerade in diesem Augenblicke sie nicht zu küssen. Ich versprach indeß, was sie verlangte, mein Versprechen beruhigte sie sogleich, und sie fuhr fort:

„Wundern Sie sich nicht, daß ich Ihnen gut bin, daß ich Sie nicht gern bald wieder verlieren möchte und daß ich Ihnen das gerade heraus sage. Mit Ihnen kann ich über Alles reden. Sie verstehen mich, das weiß, das fühle ich. Hier,“ sprach sie in recht treuherzigem Tone weiter, „hier bin ich ganz allein. Ich habe keine Freundin; Niemand versteht mich, und ich verstehe Niemanden. Was mir gefällt, begreifen die Anderen nicht, und das, was ihre Hoffnung und Freude ist, läßt mich kalt oder stößt mich gar ab, denn Alles, was sie wünschen, erscheint mir ganz und gar nicht begehrenswerth. Ich bin nicht glücklich, wenn ich auch allgemein beneidet werde. Aber“ – und sie ging plötzlich in einen ganz anderen Ton über – „ich lasse solche Gedanken nicht gern in mir aufkommen, sondern – lache sie fort.“

Sie lief trällernd voraus, so daß ich rasch gehen mußte, um sie einzuholen. Als wir in das Haus zurückgekehrt waren, kamen allmählich auch die Uebrigen an, denn es galt ja, wieder ein reiches Essen zu halten.

Am zweiten Tage gab mir Martha einen neuen Beweis ihres besonderen Vertrauens.

„Heute zeige ich Ihnen mein Lieblingsplätzchen,“ sagte sie, und sie ging mit mir durch das Dorf nach der kleinen Kirche zu; dann bog sie nach dem Friedhofe ab, auf dem sie sich nach einer Stelle an der Mauer wendete, wo im hellen Sonnenschein die vergoldeten Spitzen eines Eisengeländers leuchteten. Dieses Geländer umschloß den wohlgepflegten grünen Hügel eines Grabes, auf welchem noch einige Spätblumen blüheten. Zu Häupten des Grabes, außerhalb des Geländers, neigte eine üppig gedeihende Trauerweide ihre Zweige nieder.

Martha nahm schweigend einen keinen Schlüssel aus der Tasche ihrer Schürze, schloß damit die Thür in dem Geländer auf, reichte mir dann ihre Hand und sagte:

„Ich führe Sie zu meiner guten Mutter, die hier schon lange schläft. Bei ihr ist mein Lieblingsplätzchen. Hierher gehe ich, wenn ich mich recht einsam und verlassen fühle und wenn Gedanken kommen wie gestern Abend auf der Wiese. Ach ja! Lebte die Mutter noch, dann würde Manches anders sein und anders – werden! Ich fürchte, ich weiß selbst nicht recht warum, daß ich hier noch recht oft weinend beten werde.“

Sie setzte sich auf das Grab, stützte die Ellenbogen auf die Kniee, den Kopf in die Hände und so saß sie eine Zeit lang schweigend da.

Es war ein rührendes Bild: das blühende Mädchen, welches vom Schicksal mit manchen seiner Gaben überreichlich bedacht war, in tiefer Trauer hier auf dem Grabe der Mutter, im Schatten der Trauerweide, umgeben von dem blitzenden Gold der Geländerspitzen.

Endlich brach Martha die einzige weiße Rose ab, die noch da blühete, und reichte sie mir mit den Worten:

„Nehmen Sie an, diese Rose gäbe Ihnen meine Mutter zum Dank dafür, daß Sie freundlich gegen die Tochter sind, die sie hier lassen mußte.“

Darauf schloß sie die kleine Thüre in dem Geländer wieder zu, und wir traten schweigend den Rückweg an.

Kaum aber hatten wir den Friedhof hinter uns, so sagte Martha:

„Nicht wahr? Ich bin ein recht thörichtes Ding, daß ich das heitere Fest durch solche Reden mir und Dir verderbe.“

Sie erschrak über das Du, das ihr entschlüpft war, und setzte hoch erröthend hinzu:

„Nehmen Sie mir nicht übel, daß ich Du zu Ihnen gesagt habe ...“

„Sie können mir keinen größeren Beweis Ihrer Freundschaft geben,“ fiel ich ein, „als wenn Sie fortfahren, mich so zu nennen, Willst Du, liebe Martha?“

„Ich weiß nicht, ob ich es thun darf,“ antwortete sie, „aber zur Erklärung meines Versehens muß ich sagen, daß das Du bei uns auf dem Lande gewöhnlich ist und daß mir Alles viel leichter vom Herzen und von der Zunge geht, wenn sich das „Sie“ nicht dazwischen drängt. Leider habe ich hier Viele Du zu nennen, zu denen ich viel lieber Sie sagte, und ich muß mich von ihnen Du nennen lassen, wenn es mich auch bei dem Du aus solchem Munde stets kalt überläuft.“

„So bleibt es zwischen uns bei dem Du?“ fragte ich.

„Wenn ... Du mir versprichst, in diesem Jahre uns noch einmal zu besuchen.“

„Im October komme ich noch einmal, wenn Du mir zu Hause Dorina bella vorspielst.“

„Ich glaube, daß ich es in – Deiner Gegenwart zu spielen im Stande wäre,“ antwortete Martha heiter und unbefangen.

Bei dem großen Mittagsessen nannte sie mich öffentlich Du, und als ihr Vater das zum ersten Male hörte, sagte er:

„Martha, der Herr ist nicht vom Dorfe.“

„Er hat es mir erlaubt, ihn so zu nennen,“ erwiderte sie.

„Nun, wenn er’s nicht übel nimmt, mir kann’s recht sein. Es freut mich, wenn Herren aus der Stadt sich auch einmal nach einer Sitte im Dorfe richten. Sehen Sie,“ fuhr er gegen mich gewendet fort, „das gefällt mir von Ihnen, daß Sie den dummen Stadtstolz nicht haben wie die Anderen.“ Er schenkte dabei sein und mein Glas voll Wein und fuhr fort. „Stoßen Sie mit mir an!“

Wir stießen an. Als es geschehen war, griff Martha nach ihrem Glase, blinzelte und nickte mir zu und ließ dann auch ihr Glas mit dem meinigen zusammenklingen.

Bald nach Tische erinnerte ich Martha an das Versprechen, das sie mir wegen des Spiels gegeben hatte.

„Ja,“ sagte sie, „jetzt kann ich spielen. Komm!“

Sie stand auf, und ich begleitete sie allein in ihr Zimmer. Ohne sich weiter bitten zu lassen, setzte sie sich an das Instrument, und als ich das Notenheft für sie suchen wollte, meinte sie lächelnd:

„Ich habe das Stück so oft gespielt, daß ich keine Noten mehr dabei brauche.“

Sie spielte mit einem Ausdrucke, in welchem sich das tiefste Gefühl, fern von Leidenschaftlichkeit, aber voll der innigsten Hingebung, kundgab. Und was sie bei dem Spielen empfand, war deutlich in den träumerisch verschleierten Blicken ihrer Augen zu lesen. Ich konnte die meinigen von ihr kaum losmachen, aber als

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