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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Häuschen, ungetüncht, aus Holz und Fachwerk aufgeführt. Heutzutage macht es den Eindruck einer dürftigen Bauernwohnung. Vor dreihundert Jahren aber war es gewiß ein behäbiger und von Manchem beneideter Sitz. Um jene Zeit bewohnte es der Gentleman John Shakespeare, und in einer Oberstube desselben wurde ihm sein ältester Sohn William geboren. Beinahe wäre Europa durch einen amerikanischen Humbug auch um diesen unschätzbaren Rest gekommen. Vor längerer Zeit handelten ein paar Yankees, – die nach der Art ihrer Landsleute auf antiquarische Raritäten versessen waren, – um das Haus. Sie führten nichts Geringeres im

Shakespeare’s Geburtshaus.

Schilde, als es auf den Abbruch zu kaufen, Steine, Balken etc. einzupacken und über das Wasser zu schicken, um drüben in der neuen Welt den neuaufgezimmerten Phönix für schweres Geld sehen zu lassen. Aber England hat sich diesen Schimpf nicht angethan, und glücklich sind wir der Beschwerlichkeit überhoben, über den Ocean reisen zu müssen, um zu sehen, wo Shakespeare geboren wurde. Das Haus ist aus Staatsmitteln angekauft und Nationaleigenthum geworden. Der Beutel des britischen Volkes ist Gott sei Dank groß genug, um dem mürben Bau nun eine freie und anständige Altersversorgung zu sichern.

Die schmale Thür, die allerdings nicht für die stahlgespreizten Unholde unserer Tage eingerichtet war, die niedrigen bleigerahmten Fenster, kurz die Gedrücktheit des ganzen Baus, läßt freilich nicht ahnen, wer unter diesem Dache aufwuchs. Doch der Genius gedeiht überall! – Neben dem Eingang öffnet sich aus dem Hauserden

Shakespeare’s Ruhestätte.

auf die Straße ein Ladentisch. Hier hielt der alte Shakespeare feil; doch streiten sich die Gelehrten, was. Manche meinen, er sei ein Metzger gewesen; Andre dagegen erklären ihn für einen Wollkrämpler, und wieder Andre für einen Landwirth, der nebenbei einen Kram betrieben habe. Eine enge Treppe führt aus einer Kammer auf den Vorsaal des oberen Stocks. Von da treten wir in das Allerheiligste: die Stube, in der Shakespeare geboren wurde. Von jener Zeit her ist freilich nichts mehr übrig als die kahlen Wände. Ueber und über sind sie mit tausend und abertausend Namenszügen besät. Denn ein jeder Besucher pflegt sich in dieser Weise zu verewigen, so daß nachgerade auf den vier Seiten dieses eigenthümlichen Fremdenbuchs kaum noch ein Plätzchen leer geblieben ist, wo man seine paar Buchstaben schicklich hinbringen kann. Aber lassen will man’s doch auch nicht gerne, und wo Walter Scott, Macaulay und so viele andre Ehrenmänner sich eingezeichnet haben, da kann auch unser Einer ohne Schande diese kleine Schwachheit begehen. Shakespeare’s Stuhl und einige andre Gegenstände von Interesse, die früher das Zimmer zierten, sind jetzt in den Museen der Hauptstadt aufgestellt, um ihren Anblick einem größeren Publicum zugänglich zu machen. Das Einzige, was von Reliquien noch gezeigt wird, ist ein Stück von Shakespeare’s Maulbeerbaum. Leider soll nur dieser, wie oben erzählt, in den Ofen gewandert sein. Man würde am Ende wohl mit ebensoviel Recht den Klotz von dem leibhaftigen Maulbeerbaum herleiten können, unter dem ein grausames Schicksal den Pyramus und seine Thisbe, die es im Leben schied, im Tode zusammenführte. Und wer weiß, ob nicht Einer in einer solchen schwachen Stunde selbst daran einen Augenblick glauben könnte!

Am äußersten Ende des Städtchens, vom Friedhof eingeschlossen, liegt die Kirche der heiligen Dreifaltigkeit. Ein einfacher gothischer Bau aus alter Zeit, überragt von einem langgespitzten Thurm. Dicht daran gleitet, unter lispelndem Schilfe hin, der Avon vorbei. Ein breiter Gang ehrwürdiger Linden führt auf das Hauptportal zu. Stattliche Ulmen umschatten die Kirche und die Gräber umher. Ueber dem ganzen Ort ruht eine feierliche Stille, gehoben durch das Düster der mächtigen Bäume. Dies ist die Ruhestätte des Dichters. Da liegt er, fern den andern großen Todten des Landes, deren Grüfte die stolze Westminsterabtei überwölbt, in seinem eignen Tempel. Und wie er einen solchen verdiente, so hätte ihm auch wahrlich kein schönerer gebaut werden können, als diese bezaubernde Einsamkeit.

Das Innere der Dreifaltigkeitskirche ist in einem edlen reichen Styl verziert. Ein dämmeriges Licht fällt durch die hohen Bogenfenster, vor denen draußen das dichte grüne Gezweig lagert. Shakespeare’s Gruft liegt im Chor, gerade vor dem Altar. Ihm zur Seite ruhen die nächsten von den Seinen: zur Linken seine Gattin, Anna Hathaway, die ihn um mehrere Jahre überlebte; zur Rechten seine kluge Tochter Susanna, der Liebling ihres Vaters, und dann mehrere entfernte Anverwandte. In einer Nische der Seitenwand steht eine Büste des Dichters, die kurz nach seinem Tode von einem holländischen Künstler ausgeführt wurde. Sie und ein altes Oelgemalde sind die einzigen Portraits, die wir von ihm besitzen. Die Büste zeigt die hochgewölbte Stirn und das offne Auge, das frei und voll Zuversicht über das Grab hinwegschaut. Unter ihr trägt eine Tafel ein lateinisches Distichon folgenden Inhalts:

„Nestor an Sinn, an Witz ein Sokates, Bruder Virgilens,
Ruht er, von Allen beweint, drunten und lebt im Olymp.“

Seine trauernden Freunde setzten dem Hingeschiedenen dieses Denkmal. Eine solche Auszeichnung und der vornehme Platz der Gräber im Innern der Kirche beweisen, daß Shakespeare unter seinen Mitbürgern ein hochgeehrter und angesehener Mann war. Die Gruft selbst aber ist ohne Schmuck und Zierde, mit einer

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 508. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_508.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)