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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Hierzu gesellte sich bald für Carl Ernst ein zweites Bildungsmoment, wobei ich von mir reden muß. Ich war mit vielen anderen Kaufmannssöhnen auf einer vorzugsweise für Solche bestimmten Privatanstalt Leipzigs erzogen, welche in der Hauptsache schon den Charakter der jetzt sogenannten Realschulen trug, indem Rechnen, Schönschreiben, neuere Sprachen, Geschichte. Geographie, Naturwissenschaft (mit Experimenten), sogar Technologie betrieben wurden, auch für den Körper durch Exerciren, Turnspiele, Ausflüge und Reisen systematisch gesorgt wurde. Etwa 12–13 Jahr alt entschlossen sich Einige von uns zu studiren und erhielten deshalb allabendlich eine Extrastunde in Latein und Griechisch. Von denen, welche in diesen Extrastunden beisammen saßen, sind drei Professoren geworden (darunter Einer berühmter Sprach- und Alterthumsforscher), und der vierte hat es zwar nur zum Superintendenten und Kreisdirectionsbeisitzer gebracht, ist aber nur aus Zufall nicht Professor geworden, denn er war auf der Universität weitaus der Gelehrteste in Griechisch und Latein. – Drei von uns, die Gebrüder Francke und ich kamen in das Stadtgymnasium, wo Bock saß, und wurden bei unserm wenigen Latein billigerweise gering geachtet. Als wir aber uns mit voller Wucht und ungeschwächten Kräften auf die alten Sprachen warfen, so kamen wir natürlich weit rascher vorwärts, als unsere armen Mitschüler, welche von Sexta an naturwidrig mit der alten Grammatik gequält worden waren und alle Lebensfrische dabei eingebüßt hatten. Wir griffen auch das Studium ganz anders an, als sie: praktischer, realistischer. Und diese unsere Art bewirke, daß Bock sich bald und immer enger an uns anschloß. Es bildete sich auf der Schule jenes vierblätterige Kleeblatt, welches dann auf der Universität (weil der eine Francke Theolog wurde) sich in ein bis zum Ende unserer Universitätszeit zusammenhaltendes dreiblätteriges medicinisches Kleeblatt umgestaltete. Doch dürfen wir nicht verschweigen, daß auf St. Nicolai auch andere Mitschüler einen geistigen Einfluß und manche Anregung ausgeübt haben; als Bedeutendste nenne ich nur Hermann Schulze aus Delitzsch, Emil Roßmäßler aus Leipzig, Gustav Klett ebendaher (Botaniker, der mit uns excurrirte; starb frühzeitig), H. Herz. Ja, lieber Leser, solche gefährliche Leute sind auf der Leipziger Nicolaischule gebildet worden, obgleich deren Rector der loyalste Mann des gesammten Königreichs gewesen ist.

In die Zeit unseres Primanerthums fällt nun das erste Auftauchen eines freiwilligen Turnbetriebes in Sachsen. Wir waren gewohnt, alle Nachmittage in Wald und Wiese herumzustreifen und uns auf mancherlei Weise, mit Fug und Unfug zu bethätigen. Irgend Einer (ein Schüler des alten Jahn) brachte uns ein Stückchen Gerätturnen bei. Es wurde eine Reckstange angeschafft, zwischen zwei geköpfte Weiden befestigt, und zu Auf- und Umschwüngen benutzt, nach dem Gebrauch aber sorgsam im Walde versteckt. (Denn damals war nicht nur das Turnen, sondern sogar das Turngeräth polizeiwidrig!) – Gewiß war dieses heimliche Turnen am Reck sehr thöricht von uns; wir hätten den größten Schaden nehmen können. Einmal fiel Einer so derb auf den Kopf, daß er erst bewußtlos liegen blieb, dann beim Nachhausegehen irreredete. Glücklicherweise hatte er einen dicken Schädel und war einer der Dümmsten in der Schule; als ich ihn einige Jahr später wieder sah, war er ein recht netter verständiger junger Mann geworden. Der Fall auf den Kopf hat ihm also mindestens nicht geschadet.

Unser medicinisches Studium betrieben wir (das erwähnte Kleeblatt) in ähnlicher Weise, wie wir es mit dem Latein und Griechisch gemacht hatten, realistisch. Wir fingen allemal gleich mit der Sache an. Wir botanisirten schon als Schüler mit dem obengenannten Klett (dem zu Ehren ich nach seinem Tode die Frechheit hatte, als bloßer Student eine Flora von Leipzig herauszugeben); wir lernten die Pflanzen kennen, ehe wir ein botanisches Handbuch kannten. Als wir ein solches (den Wilbrand) erworben hatten, gingen wir ohne Klett in das Rosenthal und bestimmten selbst die Pflanzen des Erstfrühlings; Beides längst bevor Schwägrichen’s Collegien über Pflanzenkunde begannen. – Auf der Anatomie nisteten wir uns unter Bock’s Protection ein und begannen zu präpariren, ehe wir Anatomie gehört hatten. Und so haben wir später die Kliniken besucht, ehe wir Krankheitslehre gehört; wir haben alle Drei famulirt, ehe wir die Klinik beendet hatten. Um dergleichen möglich zu machen, dazu diente eben jenes System, mittelst dessen wir uns durch die Lateinschule geschlagen hatten. Es giebt nämlich in jeder von Menschen zubereiteten Wissenschaft gewisse Hauptsachen, welche man taktfest und in ihrer Gliederung mit 1, 2, 3, a, b, c, im Kopf haben muß, um mit fortgehen zu können. An diese krystallisirt sich dann während des Lerncursus alles Uebrige von selbst an, am besten mittelst eigener Anschauung und Praxis. Zum Einlernen dieser Grundlagen dienten uns selbstgefertigte, aus irgend einem Handbuche gezogene Excerpte, in systematischer Form, welche wir in den Taschen bei uns trugen und uns daraus während der Spaziergänge, sogar während des Badens und Schwimmens oder auf dem Grase liegend gegenseitig überhörten, bis die Sache im Kopfe festsaß. So konnten wir den Professoren stets über die Hauptsache sicher Antwort geben.

Diese Methodik hat Bock am meisten festgehalten. Ihr verdankte er seine ausgezeichneten Erfolge als Repetent und Examinator der Studenten, als Lehrer für gelehrte und ungelehrte Versammlungen, als ärztlicher und Volksschriftsteller. Selten nehme ich etwas Bock’sches in die Hand, ohne daß mir unsere ehemaligen Excerpte mit ihren dickunterstrichenen Hauptpunkten und ihren unter 1. 2. 3., a. b. c. gegliederten Unterabtheilungen unwillkürlich einfallen.

Wir waren 1831 alle Drei noch nicht fertig mit unserm Studium, als wir in’s Leben hinausgerissen wurden. Zuerst ich, den Armuth zwang, eine Famulatur bei einem Dresdner Leibarzt anzunehmen. Kurz nachher erscholl der Aufruf von Warschau her, daß deutsche Aerzte kommen sollten, um die vielen Opfer des damaligen polnischen Erhebungskrieges zu pflegen. Bock ergriff mit Feuer diese Gelegenheit, sich praktisch zu üben und Dinge zu sehen, die in den Leipziger Civilspitälern Jahre lang nicht vorkommen. Mit seinem gewaltigen Werbetalent riß er, außer dem andern Kleeblättchen Francke (später Professor der Chirurgie zu Leipzig) noch mehrere andere Studiengenossen hin. Die Facultät machte ihn ohne Disputation zum Doctor. Er bezahlte die spätere Dissertation auf eigenthümliche Weise. Während andere Aerzte nach gethaner Arbeit sich vergnügten, stand Bock im Warschauer Leichenhaus und zog Hunderte der schönsten Schneidezähne aus. Mit deren Erlös bezahlte er, zurückgekehrt, seinen Doctortitel. Denn damals gab es noch keine künstlichen Zähne. Die feinsten Damen trugen eingesetzte echte Menschenzähne, welche theuer bezahlt wurden.

Unsere Freunde wurden in Warschau sofort als Stabsärzte angestellt, und erwarben sich bald Achtung bei Vorgesetzten und Collegen. Ihre Erlebnisse daselbst verdienten eine besondere Berichterstattung; die von ihnen nach Hause geschriebenen Briefe waren sehr interessant. Einen Theil davon druckten Clarus und Radius in ihrer „Cholera-Zeitung“ ab, wodurch der berühmte Physiker Fechner veranlaßt ward, unsern Freunden öffentlich eine Huldigung auszusprechen. F. hatte nämlich unter dem Namen „Mises“ eine satirische Broschüre: „Schutzmittel für die Cholera“ geschrieben, worin er die 300 verschiedenen Meinungen von ebensoviel Aerzten mittheilt. An die Spitze stellte er die Worte von Bock und Francke: „daß sie über das Wesen der Cholera keine Ansicht zu äußern wagten“ (was noch heute das Klügste ist) – mit der Randbemerkung: „bescheidene Leute!

Die Mord- und Gräuelscenen in W. kühlten die politische Sympathie unserer Freunde bald ab. Desto eifriger ergaben sie sich ihrem ärztlichen Fach. Als den Russen Warschau übergeben worden war, wurden Bock und Francke zum Eintritt in russischen Dienst aufgefordert, den sie auch der vielen nöthigen Amputationen wegen mehrere Monate lang verwalteten.

Von dieser Warschauer Cholera-Epidemie stammt Bock’s Vorliebe für das heiße Wasser als Curmittel. Das zähe, pechartige dicke Blut der Choleraleichen leitete ihn auf den Gedanken, heißes Wasser als Verdünnungsmittel trinken zu lassen. Die Erfahrung hat auch später, bei der Leipziger Choleraepidemie, diese Behandlungsweise als eine der besseren bewährt. Später wandte sie Bock auch für andere Krankheitsfälle an, wo das Blut verdickt oder die Schleimhäute (besonders in Schlund und Magen) mit zähem, schwerablösbarem

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