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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Er kam zu Hause an. Es war gegen vier Uhr Morgens, im October noch dunkle Nacht.

„Sind der Herr und der Inspector schon zu Hause?“ fragte er die anderen Knechte.

„Schon vor Mitternacht,“ wurde ihm geantwortet.

Er verwunderte sich im Stillen, aber er fragte nicht weiter. Der Inspector sprach nie wieder mit ihm über die Sache.

Das war die Aussage des Knechtes. Gegen sich hatte er ein Geständniß abgelegt, das gegen ihn voll Beweise war; gegen den Inspector hatte er nur Bezichtigungen vorgebracht, die anderweit bewiesen werden mußten. Sie konnten freilich auch durch ein Geständniß des Inspectors bewiesen werden.

Der Inspector wurde verhaftet. Seine Sachen wurden durchsucht. Es geschah Alles mit der größten Sorgfalt und Vorsicht, aber es wurde nichts bei ihm gefunden. Es war kein Geständniß von ihm zu erhalten. Andere Beweismittel fehlten eben so vollständig. Es war ihm nicht einmal eine Unwahrheit, ein Widerspruch nachzuweisen. Er gerieth in keine Unruhe, in keine Verlegenheit, in keine Verwirrung und erklärte die Angaben des Knechtes einfach für Lügen, die ihm unbegreiflich seien. Er wurde mit dem Knechte confrontirt, blieb aber kalt, ruhig, selbst würdevoll. So war kein Beweis gegen ihn da. Er führte sogar einen Gegenbeweis, daß er der Mitschuldige des Knechts nicht sein könne. Er hatte schon um elf Uhr in der Nacht mit seinem Herrn, dem Baron, den Jahrmarkt verlassen. Sie waren zusammen gefahren, in dem Wagen des Barons, und waren kurz vor Mitternacht zu Hause angekommen. Der Kutscher, der sie gefahren hatte, bestätigte es; die Wirthshausleute im Dorfe hatten das Abfahren gesehen, die Leute im Schlosse bekundeten die Ankunft.

Ob der Knecht wirklich gelogen und einen Unschuldigen falsch bezichtigt hatte, dazu fehlte für seine Angaben der juristische Beweis; der moralischen Ueberzeugung von ihrer Wahrheit konnte der Inquirent sich nicht erwehren. Der Kutscher, die Wirthschaftsleute, die Knechte auf dem Schlosse hatten die Wahrheit bekundet. Aber der Inspector konnte sofort vom Schlosse zurückgeeilt sein und darauf noch Alles gethan haben, dessen der Knecht ihn bezichtigte. Er war dann absichtlich zum Schein zurückgekehrt, um künftig einen Abwesenheitsbeweis zu haben. Er war ein rüstiger, kräftiger, behender Mensch. Die Entfernungen waren zu sehr groß nicht. Die Uhren gehen auf dem Lande verschieden. Er konnte selbst dem Knecht, als er ihn von dem Tanzboden abrief, eine falsche Stunde angegeben haben. Das Abrufen hatte Niemand gesehen.

Der Baron mußte noch vernommen werden. Der Inquirent verschob es bis zuletzt. Er hatte seine Gründe dazu.

Mit den Vermögensumständen des Barons stand es nicht besonders. Sein Gut war verschuldet. Die Gläubiger konnten ihre Zinsen nur unregelmäßig erhalten. Er war eng verbunden mit dem Inspector, den Jedermann zu allem Schlechten für fähig hielt. Ihm selbst traute Niemand; seinem häßlichen Aeußern, seinen stets zusammengebissenen Lippen, seinem unstäten Blick entsprach sein verschlossener und doch wieder jähzorniger und zugleich wieder nachtragender, rachsüchtiger Charakter. Man wußte von allen diesen Eigenschaften Beispiele genug zu erzählen. Er hatte auf dem Jahrmarkte an der Bank des Viehhändlers gespielt und hatte viel verloren, Alles, was er bei sich hatte. Und wer war jener Mensch gewesen, mit dem, nach der Versicherung des Knechts, der Inspector zweimal so heimlich geflüstert hatte, einmal gleich vor, das zweite Mal gleich nach dem Morde? Der Mörder ging jedenfalls sicherer, wenn er genauere Nachricht von der baldigen Ankunft des Viehhändlers erhielt.

An dem Tage, da ich meinen Freund, den Inquirenten, besuchte, war die Vernehmung erfolgt. Ich traf gerade bei ihrer Beendigung in dem Verhörzimmer ein. Der Baron war in allen seinen Aussagen vollkommen klar und besonnen gewesen. Nicht die geringste Unwahrheit oder nur Unwahrscheinlichkeit in seinen Angaben, nicht der leiseste Widerspruch konnte ihm vorgeworfen werden; seine äußere Ruhe war unbeweglich, unzerstörbar geblieben. Aber wie in seinem Innern die Angst, die Angst des Todes kochen und sieden mochte, das hatte deutlich genug die wilde, glühende Hitze gezeigt, mit der das sonst ewig graue, blasse Gesicht noch übergossen war, als das Verhör zu Ende war und ich ihn sah. Er mußte in seiner inneren Aufregung kaum mich gesehen haben.

„Sie sind schuldig,“ sagte der Inquirent zu mir. „Sie sind die eigentlichen Schuldigen, der Baron und sein Inspector. Meine innere Ueberzeugung sagt es mir. Aber es fehlt der gesetzliche Beweis gegen sie, der Knecht, der Verleitete, der Mitschuldige in zweiter Linie, wird zum Tode, zum Rade verurtheilt werden, und sie, die Verführer, die eigentlichen Mörder – den Baron wird man gar nicht einmal zur Untersuchung ziehen können, den Inspector wird man vorläufig freisprechen müssen.“

Er hatte Recht.

„Hast Du noch eine Handhabe? Weißt Du noch einen Ausweg?“ fragte er mich.

Wir überlegten. Es war keine Handhabe, kein anderer Ausweg mehr da.

„Zeige mir den Inspector,“ bat ich ihn.

Er führte mich in das Gefängniß des Inspectors. Wir traten hinein, als wenn wir nur das Zimmer besichtigen wollten. Ich besah mir unterdeß den Gefangenen. Mein erster Blick auf ihn sagte mir, daß aus diesem finsteren, harten, entschlossenen und verwegenen Menschen kein weiteres Wort, als was er schon gesprochen hatte, heraus zu bekommen war. Und der Baron war vielleicht noch zäher und verschlossener.

„Gieb Dir keine Mühe weiter,“ sagte ich zu dem Inquirenten. „Laß alle Hoffnung fahren. Den Beiden wird man nach unseren vortrefflichen Gesetzen nichts anhaben können, und der Andere wird zum Tode verurtheilt werden, wenn nicht die Gnade des Königs etwas Anderes über ihn beschließt.“

Und so war es gekommen, wie mir ein halbes Jahr später mein Freund, der Inquirent, schrieb. Die Gerichte hatten erkannt, wie sie nach den Gesetzen nicht anders erkennen konnten: der Baron war gar nicht zur Untersuchung gezogen; der Inspector war vorläufig freigesprochen; der Knecht war zum Rade verurtheilt. Der König hatte die Strafe im Wege der Gnade in lebenslängliche Zuchthausstrafe verwandelt, weil bei der moralischen Ueberzeugung der Richter wie des Volkes von der Schuld wenigstens des Inspectors, das allgemeine Rechtsgesühl durch die Hinrichtung des minder Schuldigen gegenüber der Freisprechung des wahren Mörders doch zu schwer würde verletzt worden sein.

Bald nach Verkündigung des Erkenntnisses hatte übrigens der Baron sein Gut verkauft und mit seiner Familie die Gegend verlassen. Wohin er gegangen war, wußte man nicht. Einige Zeit vorher, während der Untersuchung, hatte seine Frau eine bedeutende Erbschaft gemacht. Dies war keine Vorspiegelung, die Gelder waren theilweise durch das Gericht selbst ausgezahlt worden. Der Inspector war gleichzeitig mit ihnen aus der Gegend verschwunden.

Ich habe vergessen, über die früheren Verhältnisse des Barons und des Inspectors, wie sie zu den Untersuchungsacten festgestellt waren, zu sprechen. Der Baron stammte aus der Gegend. Er gehörte einer bekannten adligen, aber verarmten Familie an, hatte in seiner Jugend die Heimath verlassen und war in fremde Kriegsdienste gegangen; nach Rom oder Neapel, meinte man. Vor etwa funfzehn Jahren war er mit Frau und zwei Kindern zurückgekehrt, und hatte das väterliche Gut übernommen. Die Frau sollte aus Italien oder aus der italienischen Schweiz sein. Der Inspector war der Sohn eines pensionirten, verkommenen Hauptmanns, der in einem kleinen Städtchen der Nachbarschaft von seiner geringen Pension ein jämmerliches Leben führte. Der Bursche war schon zu Lebzeiten des Vaters ein verwahrloster Taugenichts gewesen. Nach dessen Tode gab es keinen schlechten Streich, den er nicht ausführte. Als auch seine Mutter starb, hatte er etwas lernen müssen. Er hatte sich der Landwirthschaft gewidmet und war seit drei Jahren Inspector auf dem Gute des Barons. Der Baron und der alte Hauptmann sollten in ihrer Jugend befreundet gewesen sein.

Das war es, was ich meinem Freunde, dem Steuerrath, zu erzählen hatte.

„Und nun?“ sagte er.

„Und nen? Die beiden Verbrecher, die beiden Mörder, denen ihr Verbrechen nicht nachgewiesen werden konnte, sind hier; wir sind in ihrem Hause, wir sind ihre Gäste. In jener Gegend war ihre Ehre verloren, selbst ihre Sicherheit. Sie waren nicht ganz, nicht wegen erwiesener Unschuld frei gesprochen. Irgend ein Zufall konnte einen neuen Verdacht gegen sie hervorrufen, dieser eine neue Untersuchung, die Untersuchung doch zuletzt eine Strafe. So mußten sie fort, auch nachdem der Baron durch die Erbschaft seiner Frau ein reicher Mann geworden war. Er vergrub sich mit seinem Reichthum unter einem fremden Namen in diesem verborgenen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 451. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_451.jpg&oldid=- (Version vom 15.4.2018)