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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

gebrauchen würde, wenn das Heil seiner Familie, seines Ortes, seines Vaterlandes in der Wagschale läge. Selten begegnet man schwülstigen Phrasen oder hochtrabender Diction, aber ebenso selten auch gemeinen Schimpfereien oder den im Alltagsleben sonst sehr beliebten Kraft-Ausdrücken. Die Figuren des Stückes sind meist eben so einfach gezeichnet und stechen von jener Art und Weise, wie uns der alte, halb-mythische Volksheld Tell im Schiller’schen Schauspiele von coulissen-wüthend gewordenen Erwerbs-Komödianten oft (selbst auf renommirten Bühnen) vorgeführt wird, freilich gewaltig ab. Auch die katastrophe-treibenden Mittel sind lange nicht so raffinirt, wie sie die Dichter unserer Tage häufig anwenden; das Volk braucht solche mit Cayenne-Pfeffer gewürzte Anregungen nicht, um sich lebhaft in die Situation zu versetzen; – es geht auch ohne dieselben in’s Geschirr.

Bei diesen specifisch schweizerisch-historischen Dramen wirken oft hundert und mehr Personen mit, zu Fuß und zu Pferde, zu Wasser und zu Lande, und mit dem Costüm wird’s natürlich, in Ermangelung einer großen Garderobe-Auswahl, nicht so streng genommen. Eine eigentliche Bühne existirt in der Regel dann nicht. Die Eintheilung und Anlage des ganzen, mehrere Stunden spielenden Stückes ist so getroffen, daß Alles sich im Freien begiebt. So sah ich vor einigen Jahren in Rorschach den berühmten Kampf der Unterwaldner gegen die Franzosen (1799) dramatisch darstellen. Hier öffnete eine auf freiem Markplatz abgehaltene Volksversammlung (die Imitation einer Landesgemeinde) mit kleinem und großem Rath, Säckelmeister, Bannerherrn, Landeswaibel und übrigen Beamteten, das Drama. Der Landschreiber mit großer Brille und Perrücke verlas auf rohgezimmerter Tribüne ein Manifest, welches die Obrigkeit an ihre „lieben und getreuen Landsleute und Bundesgenossen“ erließ, worauf dann der regierende Landammann den „Stuhl“ (so nennt der Schweizer die Tribüne, von welcher aus bei politischen Versammlungen zu ihm gesprochen wird) bestieg und das Volk in feurigen Worten haranguirte, treu zum Vaterlande zu halten, die von den Ureltern ererbte kostbare Freiheit mit Gut und Blut zu vertheidigen und lieber zu sterben, als Heimath und Recht sich rauben zu lassen.

Die Rede war von mächtiger Wirkung, nicht nur bei demjenigen Theile des Publicums, welches activ als bewaffneter Landsturm und als „Volk“ (wie unsere Theaterzettel sagen) die Tribüne umstand, sondern auch bei demjenigen Publicum, welches sich eingefunden hatte, das Schauspiel mit anzusehen. Jetzt folgte Rede und Gegenrede; Männer aus dem Volke verlangten das Wort und gaben ihre Meinung ab, was zu thun sei, genug, es war das leibhaftige Conterfei einer Agitation, wie sie in Wirklichkeit sich abwickeln würde. Als nun der Schluß einmüthig gefaßt worden war, dem Feinde fest und entschlossen die Stirn zu bieten, da langte die Nachricht an, daß General Schaumburg mit seinen fränkischen Würgerbanden zu landen versuche. Rasch hob die Obrigkeit die Versammlung auf, und Alles eilte zu den Waffen, an die bedrohten Punkte. Dies war der expositionelle Theil des Schauspiels. Nun entspannen sich Scenen da und dort. Eine Flotille mit Dorfschauspielern, als Franzosen verkleidet, Böller auf den Kähnen, kam über den Bodensee daher und kanonirte weidlich gegen die alarmirten Ufer. Die als Unterwaldner verkleideten Landleute ließen es nicht an Gegenwehr fehlen und verbrauchten nicht minder viel Pulver, um den Angriff abzuschlagen. Es gelang; aber da lief die Nachricht ein, von anderer Seite her dringe der Feind über’s Gebirge herein. Sofort Diversion und Kampfplatz an anderen Stellen. Die guten Patrioten nahmen sich das Ding recht ernstlich zu Herzen, und die resp. Jugend vergegenwärtigte sich den Krieg so lebhaft, daß sie zu Rasenfetzen und Steinen griff, um nach Kräften das Ihrige gegen die fremden Eindringlinge beizutragen. Es gelang. Auch hier wurden die Franzosen mit Glanz zum Rückzuge gezwungen. Dieses Angreifen und Abschlagen wiederholte sich in verschiedenen Formen und an verschiedenen Orten mehrmals, bis es endlich der französischen Uebermacht gelang, in Besitz der wichtigsten Positionen zu kommen. Das treue, zusammengeschmolzene Häuflein wurde immer enger eingeschlossen. Schöne Appenzellerinnen erschienen als bewaffnete Unterwaldnerinnen und wußten die Büchse so flott zu laden und abzufeuern, daß es eine Freude war. Zuletzt wurden die Unterwaldner in eine aus Latten errichtete und mit Papier überzogene Capelle, ihre letzte Zuflucht, gedrängt, und diese, von den Franzosen in Flammen gesteckt, vergrub die keine Heldenschaar ganz theatralisch unter ihren Trümmern. Hiermit schloß das Spectaculum.

Dies ist die eine Richtung der schweizerischen Dorfkomödien, von denen ich hier nicht eigentlich erzählen wollte, die ich aber deshalb mit wenigen Linien als Beispiel skizzirte, um zu zeigen, von welch außerordentlichem Einfluß solche Volksspiele und Volksfeste sind, und wie sie auf die Hebung und Stählung des Patriotismus mächtig einwirken. Der Schweizer ergreift überhaupt mit Freuden jede Gelegenheit, um seinem Nachbar, seinem Mitbürger, seiner Jugend mit beredtester Sprache, mit den einschlägigsten Mitteln immer und immer wieder es in’s Gedächtniß zu rufen: „Du bist frei geboren! Du bist Herr deines Landes, deines Eigenthumes, deines Rechtes. Kein Mann deiner Heimath steht so weit über dir, um dich, wider deinen Willen, Staatswege zu führen, die nicht Wege der allgemeinen und öffentlichen Wohlfahrt nach deinem guten, gesunden, natürlichen Verstande sind. Kein Beamteter der Regierung ist so mächtig, daß er deine von dir gewählten Cantons- und Nationalräthe ungestraft höhnen und ihre von Volkes Gnaden übertragenen Rechte und Freiheiten beeinträchtigen dürfte. Du bist ein Schweizer! Wehre dich und hilf, daß du es bleibst!“

Ja, ja, bei solcher Entschlossenheit, bei solchem Geiste im Volke, da muß es mächtig vorwärts gehen, soweit es die allgemeine, öffentliche Wohlfahrt beschlägt.

Doch ich wollte ja eine fidele Dorfkomödiensuite erzählen. Also zur Stange zurück.

Eine andere Gattung solcher Productionen bewegt sich auf dem Boden der Legende, der Sage oder gar der historia sacra. Das renommirteste Schaustück dieser Art ist das schon unendlich oft beschriebene und abgebildete „Passionsspiel in Ober-Ammergau“, das freilich nicht der Schweiz angehört. Diese Sorte von Klosterkomödien, welche die vornehmsten und dem Volke heiligsten Personen des Dogmas in plumper Weise profaniren, bestanden früher auch in der Schweiz, so lange eben noch specifisches Pfaffenregiment in manchen Cantonen herrschte. Jetzt sind sie gefallen. Dagegen schätzt das Volk die dramatisch bearbeitete romantische Sage hoch und läßt sie gern verkörpert an seinen Augen vorüber führen. In diesen Kreis gehört die Genovesa.

Vor mehreren Jahren wurde dieser Stoff, nach einer ebenfalls nie gedruckten Bearbeitung, im Dorfe Abtwyl bei St. Gallen auf offenem Platze vor dem Wirthshause aufgeführt. Ein halbrunder, mit leinenen Laken umspannter Raum bildete das Auditorium, vor dem ein etwa 5 Fuß hohes Podium, schlicht, wie es der Zimmermann mit der Axt herrichten kann, die Bühne darstellte. Der Hintergrund war ebenfalls mit leinenen Tüchern und ähnlichen Verhüllungsmitteln abgeschlossen, deren freier Anblick jedoch den gespannten Zuschauern durch allerlei Drapirungen und davor aufgepflanzte junge Tannenbäumchen entzogen wurde. In Mitte der Bühne stand eine wackere Tafel, gedeckt und reichlich mit Blumensträußen und blank geputztem Zinngeschirr aufgerüstet. Dies war Ritter Siegfried’s Schloßhalle, der eine und allgemeine Verhandlungsort alles dessen, was innerhalb der Burg sich zutrug. Hier tafelte der Graf prächtig und in Fülle, hier verkehrte er zärtlich mit seinem trauten Ehegemahl, hier schmiedete der böse Golo seine Pläne, und hier verstieß Siegfried seine Genovefa. Das Alles konnte auch recht wohl, ohne der „Einheit des Ortes“ zu nahe zu treten, hier sich begeben. An bemeldeter Tafel wurde mit einem wahrhaft appetiterregenden Appetit gezecht und getrunken und dadurch den Zuschauern ein schlagender Beweis von der Consumfähigkeit der Leute im Mittelalter gegeben.

Aber es kommen in der Historia von der edel- und tugendreichen Genovefa auch noch andere Localitäten vor, wo einzelne Scenen sich abwickeln, – und hier kommen wir endlich zu des Pudels Kern. So wie es den alten Griechen undenkbar war, daß die gleiche Schaustätte zugleich zehn oder zwanzig verschiedene Localitäten darstellen könne, ebenso ging es den braven Dorfmimen von Abtwyl. Da, wo noch eine Viertelstunde vorher Genovefa in den Armen ihres ritterlichen Gatten geschmaust hatte, wo noch die mit Speise und Trank reichlich beladene lange Tafel stand, die man nicht so rasch abräumen konnte wie die obligatorischen Tischchen mit den grünen oder rothen Teppichen unserer Conversationsstücke, – da konnte unmöglich zugleich auch der unheimliche, schwarze Wald sein, wo die unschuldige Genovefa „umgebrungen“ werden sollte, da konnte ebensowenig der Platz sein, wo Ritter Siegfried seine Fehden auskämpfte, und am allerwenigsten konnte die gleiche Bühne

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 424. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_424.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)