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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

„Derselbe. Was schleicht der da herum? Als wenn er etwas Böses im Sinne hätte.“

Wir gingen dem Menschen nach, leise, mit unhörbaren Schritten, von Fichte zu Fichte, von Birke zu Birke uns zurückschleichend. Wir hatten ihn aus dem Gesichte verloren, aber wir hörten seinen Schritt vor uns. Als wir zehn Schritte von dem Pförtchen entfernt waren, sahen wir ihn wieder. Er stand an dem Pförtchen, hinter der Haselnußstaude, an derselben Stelle, an der wir vorhin gestanden hatten. Er lauschte auch, wie wir, zuerst nach dem hellen Schauplatz des Jubels, dann in die stille Laube gleich nebenan. Auf einmal hörten wir ihn sprechen. Er flüsterte in die Laube hinein; leise genug; wir konnten dennoch verstehen, was er sagte. Es wurde ihm geantwortet; wir konnten auch das verstehen.

„Madame!“ rief er leise in die Laube hinein. „Darf ich Sie um ein paar Worte bitten?“

„Um Gotteswillen, Holm, Sie? Was wollen Sie hier?“

Die blasse Frau, die geängstigte Mutter der Braut rief es zurück, mit einer Stimme, die den höchsten Schreck verrieth.

„Wo kann ich Sie allein sprechen, Madame?“ fragte der Inspector Holm. „Aber sofort!“ Er sprach dringlich, eilig.

„Müssen Sie mich sprechen?“ fragte die Frau.

„Gewiß, gewiß! Ich habe Nachrichten von Ihrem Sohn.“

„Von Ulrich?“ schrie die Frau auf.

„Von ihm und von Ihrem Manne.“

„Mein Gott, reden Sie. Auf der Stelle! Ich beschwöre Sie.“

„Werden wir hier nicht gestört werden?“

„Nein,“ wollte die von Neuem, die auf den Tod geängstigte Frau wohl antworten. Da wurden sie schon gestört.

„Frau Mutter –" sprach im Eingange der Laube eine Stimme.

Es war die harte, befehlende Stimme des vornehmen Bräutigams.

„Frau Mutter –! Aber ah, Sie sprechen da mit Jemandem?"

Der wiederholte Schreck hatte die arme Frau doch nicht niedergeworfen. Sie hatte sich zusammennehmen können.

„Ich? Mit wem sollte ich sprechen?“

„Ich werde es erfahren.“

Ein rascher Schritt nahete sich dem Pförtchen. Es war der Bräutigam. Er wollte die Thür aufreißen, aber sie war verschlossen. „Teufel!“ fluchte er.

Er sah über sie hinüber, aber er gewahrte nichts. Der Inspector hatte sich an der Hecke der Laube, fast unter ihr, zur Erde niedergelassen. Der fluchende Mann kehrte in die Laube zu der Frau zurück.

„Madame, ich will wissen, mit wem Sie sprachen.“

Er war zornig geworden. Aber die unglückliche Frau war nicht ganz seine Sclavin.

„Mein Herr.“ sagte sie, und sie sprach die Worte mit ruhiger, fester Würde – „ich hoffe, Sie werden einsehen, daß das nicht der Ton ist, in dem Sie mit mir zu sprechen haben. Sie werden keine Antwort von mir erhalten.“

Die Ruhe und Festigkeit der Frau hatten ihm imponirt. Welche Zwangsmittel hätte er auch gegen die Frau gehabt?

„Folgen Sie mir, Madame. Es paßt sich für die Frau des Hauses nicht, sich den Gästen zu entziehen, zumal wenn der Hausherr nicht da ist. Kommen Sie mit mir zu der Gesellschaft zurück.“

An ihrem harten und befehlenden Tone hatte seine Stimme nichts verloren. Wir hörten, wie die Frau mit ihm die Laube verließ. Gleich darauf erhob sich der Inspector Holm aus seinem Versteck an der Laube. Er ging rechts um die Gartenhecke herum, nach dem Theile des Gartens hin, wo dieser dunkel war. Als er uns nicht mehr wahrnehmen konnte, verließen auch der Steuerrath und ich unseren Versteck und schritten wieder in das Wäldchen hinein, um zu unserem Wagen zu gelangen, der uns als Gäste zu der Festlichkeit bringen sollte, von der wir bis jetzt Zuschauer gewesen waren.

„Das ist ja ein entsetzlicher Polterabend!“ mußte ich ausrufen. „Und die beiden Frauen sind allein in der Gewalt des Menschen! Der Mann, der Vater nicht da, der Sohn, der Bruder nicht! Und ohne sie das Fest? Auch wohl morgen die Hochzeit? Und welche Schreckensnachrichten fürchtete die Frau über die Abwesenden zu erfahren? Sie schrie auf, als die Namen des Gatten und Sohnes genannt wurden.“

Der Steuerrath hatte keine Antwort auf meine Fragen, und bald darauf erreichen wir unseren Wagen und fuhren zu dem Gutshofe.




Aber ich muß erzählen, was uns hingeführt hatte. Am Abend vorher hatte mir ein reitender Gensd’arm ein Schreiben der russischen Grenzbehörde überbracht. Der Gensd’arm war an der fünf Meilen entfernten Grenze stationirt. Es war schon später Abend, als er bei mir ankam. In dem Schreiben stand, daß am Morgen von patrouillirenden russischen Grenzbeamten auf russischem Gebiete, nicht weit von der Grenze, die Leiche eines ermordeten Mannes gefunden sei. Der Mord sei wahrscheinlich in der vergangenen oder vorvergangenen Nacht geschehen, der Ermordete sei unbekannt, und trage eine Kleidung, deren Schnitt und übrige Beschaffenheit in Rußland ungewöhnlich sei. Dies mit anderen Umständen leite darauf hin, daß der Mord auf preußischem Gebiete verübt sei. Die Untersuchung des stattgefundenen Verbrechens werde daher nur zu einem Resultate führen können, wenn sie, und zwar auf das Schleunigste, gemeinschaftlich von den preußischen und russischen Behörden vorgenommen werde. Man ersuche mich, zu diesem Zwecke, um sofortige Herüberkunft.

Die russische Behörde schien Recht zu haben. Ein Resultat der Untersuchung war nur von einem solchen sofortigen Zusammengehen zu erwarten. Ich traf sofort Anstalten zur Abreise nach der Grenze. Aber auch schon diesseits der Grenze mußten Nachforschungen angestellt, Ermittelungen versucht werden. Bei dem Criminalgerichte, der Kreisjustizcommission, war von einem verübten Morde nichts bekannt.

„Kennen Sie den Inhalt des Schreibens?“ fragte ich den Gensd’armen.

„Nein. Der Kosak sagte nichts darüber.“

„Sprach er nicht von einem Morde?“

„Kein Wort. Er brachte mir nur das Schreiben und gab mir durch Zeichen zu verstehen, daß es so schleunig wie möglich besorgt werden müsse. Er verstand weder Deutsch noch Litthauisch, und ich verstand sein Russisch oder Kosaksch nicht.“

„Haben Sie nichts von einem Morde gehört, der an der Grenze verübt sei?“

„Gar nichts.“

„Auch nichts von Grenzexcessen?“

„Seit vierzehn Tagen nicht. Die Schmuggler hatten Unglück, da haben sie in der letzten Zeit nichts mehr gewagt.“

„Ja, ja, das ist es.“

Das war es, es war mein erster Gedanke gewesen, als ich das Schreiben gelesen hatte. An der russischen Grenze blühte damals der Schmuggelhandel, aus Preußen nach Rußland. Er blüht noch heute dort mit seinem ganzen Gefolge von Verrath, Rohheit, Gemeinheit, von Erziehung des Volkes zu allen möglichen Lastern und Verbrechen.

Der Schmuggel nach Rußland wurde im Großen getrieben. Verwegene, bewaffnete Banden schafften die Waaren über die Grenze, mit List, und wenn die List nicht ausreichte, mit Gewalt. Eine Zeit lang hatten fast Nacht für Nacht Kämpfe zwischen den Schmugglern und den russischen Grenzhusaren und Kosaken stattgefunden. Anfangs waren sie blutig gewesen, mit wechselndem Glücke. Dann war der Erfolg regelmäßig auf Seite der Schmuggler gewesen; sie hatten durch Scheinangriffe die Russen zu verlocken gewußt, so daß dort, wo der Uebergang der Waare erfolgen sollte und erfolgte, die Grenze frei war. Auf einmal hatte sich das Blatt gewendet. Den Scheinangriffen hatten die Russen nur Scheinvertheidigungen entgegengesetzt, und die Waarentransporte, die sich sicher glaubten, waren mit drei- bis viermal überlegener Macht überfallen und angegriffen worden und hatten von den Transporteuren im Stiche gelassen werden müssen. Diese hatten kaum die Grenze erreichen können, nicht selten unter Verlust von Todten und Verwundeten. Man hatte bei dem sich wiederholenden Unglück bald von Verrath gesprochen. Man konnte zuletzt nicht mehr daran zweifeln, auch daran nicht, daß der Verräther unter den Schmugglern selbst, unter den eigenen Cameraden zu suchen sei. Seit ungefähr vierzehn Tagen war darauf von den Schmugglern gar nichts unternommen, man hatte nicht das Geringste von ihnen gehört.

Wir erreichten die Grenze, ohne irgend einen Umstand zu erfahren, der mit dem Verbrechen hätte in Verbindung gebracht werden können. Die russischen Beamten erwarteten mich dort und führten uns zu der Leiche.

In einem Erlengebüsch, zwischen zwei dichten Erlen, lag die Leiche, ungefähr sechzig Schritte von dem Grenzwalle entfernt. Ein Grenzkosak, der am Mittage vorher in der Sonnenhitze einen schattigen

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