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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

ich zwar das Bett, aber nicht das Hospital habe verlassen können. Ich versehe seitdem den Dienst eines Wärters, leiste Beistand, wenn Glieder abgenommen und Wunden verbunden werden, und Du magst es mir glauben, ich könnte Bände schreiben von den herzbrechenden Geschichten, die ich hier gesehen und erlebt habe. Doch bestand das schwerste Stück Arbeit, welches ich habe verrichten müssen, darin, daß ich meinen Daumen von dem Oberschenkel eines Verwundeten zurückzog. Du wirst nicht begreifen, aber höre und beurtheile. Unter einer Menge von Verwundeten wurde ein junger Mann in das Krankenhaus gebracht Die Kugel war durch den Oberschenkel gegangen, und es mußte zur Amputation geschritten werden. Das Bein wurde dicht am Leibe weggeschnitten, die Arterien wurden unterbunden. Der Kranke befand sich erträglich, und man glaubte gewiß, ihn am Leben erhalten zu können. Nach einigen Tagen sprang eine der kleinen Arterien. Es wurde ein Einschnitt gemacht und dieselbe wieder unterbunden. Der Wundarzt sagte, es sei ein Glück gewesen, daß nicht die Hauptarterie gesprungen, sonst wäre der Mann todtgeblutet, ehe ihm hätte Beistand geleistet werden können. Es besserte sich dann erheblich mit Charley, und wir freuten uns alle über ihn. Eines Nachts, wo ich im Krankenhause zu thun hatte, sagte er plötzlich, als ich an seinem Bette vorbeikam, zu mir: „Heinrich, mein Bein blutet wieder.“ Ich warf die Betten zurück und das Blut spritzte in die Luft. Der Schurf der Hauptarterie hatte sich abgetrennt. Glücklicherweise wußte ich, was zu thun war, im nächsten Augenblick drückte ich meinen Daumen auf die Stelle, und stopfte die Blutung. Es war so dicht am Leibe, daß kaum Raum für meinen Daumen blieb, aber es gelang mir, ihn daselbst festzuhalten. Ich weckte einen der Reconvalescenten und sandte denselben zum Wundarzt, der in der nächsten Minute erschien. „Ich danke Ihnen, A–,“ sagte er zu mir, als er mich sah, „daß Sie zur Stelle gewesen sind und wußten, was zu thun sei, denn außerdem wäre er verblutet, bevor ich hier sein konnte.“

Als er aber die Stelle untersucht hatte, nahm sein Gesicht einen sehr ernsthaften Ausdruck an, und er sandte zu den andern Wundärzten mit der Bitte, sie möchten sogleich kommen. Es erschienen alle, die im Hause waren, und sie gingen zu Rathe über den armen Burschen. Ihre Entscheidung war einstimmig. Es war kein Raum da, wo sie operiren konnten, außer der Stelle, auf welcher mein Daumen lag; unter dem Daumen konnten sie nicht arbeiten, nahm ich denselben fort, so würde er zu Tode geblutet sein, bevor die Arterie unterbunden werden konnte. Es gab keinen Weg, sein Leben zu retten. Armer Charley! Er war sehr ruhig und gefaßt, als ihm sein nahe bevorstehendes Ende verkündigt wurde, und bat, daß sein Bruder, der gleichfalls im Hospital lag, geweckt und zu ihm gerufen würde. Diese kam, setzte sich an der Bettseite nieder, ich stand drei Stunden und hielt durch den Druck meines Daumens das Leben von Charley auf, während die Brüder zum letzten Male auf Erden mit einander sprachen. Gewiß, es war eine ganz eigenthümliche Lage, in der ich mich befand, zu fühlen, daß ich das Leben eines Mitmenschen in der Hand hielt, und noch sonderbarer das Gefühl, daß eine geringe Bewegung meinerseits dessen Tod nothwendig zur Folge haben werde. Der Gedanke war für mich ein schmerzlicher und drückender, um so mehr, da ich den armen Burschen lieb gewonnen hatte, aber es gab keinen Ausweg. Die letzten Worte waren gesprochen, Charley hatte seine Angelegenheit mit seinem Bruder geordnet und gab demselben zärtliche Bestellungen an seine Lieben in der Ferne, die wohl wenig ahnten, wie nahe am Rand des Grabes ihr treuer Freund und Verwandter stand. Thränen füllten meine Augen, als ich diese Abschiedsworte vernahm. Als er damit geendet hatte, wandte er sich an mich und sagte: „Jetzt, Heinrich, denke ich, wäre es am besten, Du nähmest den Daumen fort.“ „Ach, Charley“ entgegnete ich, „wie kann ich das?“ „Es muß sein,“ erwiderte er freundlich. „Ich danke Dir für Deine große Gefälligkeit, und nun lebe wohl.“ Er wandte sein Haupt ab, ich hob den Daumen, noch einmal floß der Strom des Lebens, und in drei Minuten war Charley eine Leiche.“




Der Weihnachtsbaum für arme Kinder, auf welchen die „Gartenlaube“ in Nr. 23 des vorigen Jahrgangs ihre Leser aufmerksam machte, hat zu seiner einundzwanzigsten Christbescheerung in 82 Städten und Ortschaften abermals nahe an 4000 der armen Kleinen geladen und die jungen Herzen mit jener höchsten Freude der ganzen Kindheit erfüllt, die ohne solche menschenfreundliche Sorge der großen Mehrzahl dieser Kinder gar nicht und allen nicht so zu Theil geworden wäre. Das alljährliche Christfestgeschenk des Bibliographischen Instituts zu Hildburghausen (eine Stiftung des unvergeßlichen Joseph Meyer und Friedrich Hofmann’s, der den Gedanken und seitdem die geistige Arbeit dazu gab) gehört recht eigentlich der Schule an. Ueberall, wo der „Weihnachtsbaum“ in die Hand der Lehrer gelegt wurde, hat er doppelte Frucht des Segens getragen; das Wort des Lehrers: „Wer von Euch Kindern recht brav ist, dem bescheert der heilige Christ auch Etwas hier in der Schule“ bewährt stets eine ganz besondere Kraft, und da nach der elterlichen Wohnung die Schule, nach den Eltern die Lehrer im Aug’ und Herzen des Kindes Allem voranstehen, so liegt auch in der Verpflanzung des Christbaumes in die Schulstube für die kindliche Auffassung nichts Störendes. Die Eltern wohnen der Bescheerung bei, die von Gesang und Rede begleitet wird. Ein frommes Schaustück sollte nirgends daraus gemacht werden. Wo aber im Laufe der Zeit eine neue Art Volksfestes daraus geworden ist, da hat auch die größere Oeffentlichkeit der Bescheerung keinen schädlichen Einfluß mehr. Nur in der Hand der leider sogenannten „Frommen“ verunstaltet man das schöne Fest in jenes Zerrbild, von welchem uns in Nr. 21 der „Gartenlaube“ Fr. Brunold eine Copie gegeben hat.

Die segensreiche Wirksamkeit des „Weihnachtsbaumes“ für die Schule muß zu dem Wunsche anregen, daß demselben eine noch größere Ausbreitung zu Theil werde, als er bisher durch die so sehr ehrenwerthe Munificenz des Bibliographischen Instituts bereits erlangt hat. Deutschland ist reich genug an wohlhabenden und wohlwollenden Buchhändlern und Buchdruckern, die den Hildburghäuser Weihnachtsbaum für ihre Stadt oder ihren Kreis, ihren Bezirk ebenfalls gratis herstellen und vertheilen könnten. Die geistige Arbeit würde durch Fr. Hofmann ja dann für alle ebenfalls gratis gemacht sein. Vielleicht erleben wir die Freude, daß noch vor dem fünfundzwanzigjährigen Jubiläum des „Weihnachtsbaumes“ dieser Wunsch für einen großen Theil von Deutschland in Erfüllung gegangen ist. Zu diesem Behufe soll der Weihnachtsbaum künftig schon im Monat August im Druck vollendet sein, um so rechtzeitig anderen Officinen zur Herstellung und Ausstattung des Werkchens für ihre Bescheerungskreise zugesandt werden zu können. Möchten sich möglichst bald recht viele dazu erbieten!

Für den „Weihnachtsbaum von 1862“ haben, in Folge des erwähnten Artikels in Nr. 23 der „Gartenlaube“, 182 deutsche Dichter und Dichterinnen aus Deutschland, Holland, der Schweiz, Ungarn, Rußland und Nordamerika poetische Gaben eingesandt. Davon konnten nur 76 Aufnahme in den 10 Druckbogen des Werkchens finden; ihr Honorar besteht in einem Freiexemplare des „Weihnachtsbaumes“ und in der Mitfreude am Erfolg des Ganzen.

Hinsichtlich des neuen „Weihnachtsbaumes“ (für 1863) mögen die poetischen Theilnehmer an demselben folgende Bemerkungen freundlichst beachten: Niemand schicke der Redaction des Weihnachtsbaumes (Dr. Fr. Hofmann in Reudnitz bei Leipzig) von Gedichten mehr als 3, von Erzählungen in Prosa mehr als 2 zu; Jedermann behalte von den Gedichten Abschrift, weil die Zurücksendung des Unbenutzten unterbleiben muß; Niemand sende der Redaction ganze Stöße von Gedichten mit dem Anliegen ein, sie zu prüfen, brieflich zu beurtheilen und Verleger für sie zu suchen, denn das ist zu hart; endlich frankire Jedermann seine Sendung, denn sie geschieht für arme Kinder, für deren „Weihnachtsbaum“ der Einzelne schon auch sein Antheil Kosten tragen darf. Frist der Einsendung: bis Ende Juli.


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 416. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_416.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)