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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Der Salon besteht aus einer geräumigen Stube in geviertelter Form, mit anständiger Einrichtung, ohne allen Aufwand, mit zwei gut gemalten Bildern, das Ehepaar, welches wir besuchten, darstellend. Kaum hatte ich Zeit, mich etwas umzusehen, um aus den Gegenständen den Charakter der Bewohner herauszulesen, als Madame Michelet eintrat. Sie ist eine Frau von etwa 28 bis 30 Jahren, eine anmuthige, gewinnende Erscheinung; sie begrüßte D., der kürzlich aus Constantinopel zurückgekehrt ist, mit Herzlichkeit und empfing mich, den Vorgestellten, in ungezwungener, liebenswürdiger Weise.

Bald darauf kam Herr Michelet. – Er ist unter mittlerer Größe. Trotz der grauen Haare ist etwas jugendlich Belebtes in seinem Wesen. Die Züge seines Gesichts sind beweglich und einnehmend, sie folgen den Gesprächen, sie geben rasch die verschiedenen Eindrücke wieder, wie sie der „poetische Gelehrte“ empfängt. Aus seinem grauen Auge spricht ein tiefer Ernst, Aufrichtigkeit, Wohlwollen und Schwärmerei. Er ist sehr angemessen, weder nachlässig, noch allzu sorgsam gekleidet. Die ganze Weise, sein Auftreten und Benehmen, ist französisch, und es fiel mir auf, daß in dem Knopfloch seines Rockes das rothe Bändchen fehlte, das Abzeichen des Ehrenlegionordens, der ihm 1833 verliehen worden war.

D. stellte mich ihm als einen deutschen Schriftsteller vor, der ihn um Etwas zu bitten hätte.

„Ich bin zu Ihren Diensten,“ rief Michelet, und sein ganzes Wesen schien von dem Wunsche beseelt, mir gefällig und nützlich zu sein. Michelet ist nämlich der dienstfertigste Mensch, den man finden kann. Ganze Tage läuft er umher, klopft bei Freunden und Bekannten an, beutet all’ seine Verbindungen aus, wenn es gilt irgend Jemandem, der ihm empfohlen ist oder sich ihm selbst empfohlen hat, behülflich zu sein, eine Anstellung oder sonst ein Unterkommen zu verschaffen. Und was er nie für sich gethan hat, das thut er für Andere. Und er genießt eines solchen Ansehens, selbst bei seinen politischen Gegnern, daß seine Empfehlung sogar in der amtlichen Welt einen Werth hat, besonders seitdem die Regierung mit der Klerisei zerfallen ist und man von oben herab den abgesetzten Professor hat wissen lassen, daß er nun die zweite Auflage des Buches „Von dem Geistlichen, der Frau und der Familie“ ungehindert erscheinen lassen könne, das seit dem Staatsstreich verpönt gewesen war.

Ich sprach die Bitte aus, von ihm selbst über sein Leben Etwas zu erfahren, um es der verbreitetsten Zeitschrift auf dem Festlande mitzutheilen.

„Unsereiner“, versetzte Michelet mit natürlicher Offenheit, „hat kein Leben, was man eigentlich so nennt. Ich stehe des Morgens zeitig auf, frühstücke und gehe in die Bibliothek. Um zwei Uhr Nachmittags komme ich nach Hause und empfange meine Freunde, wie Sie sehen. Ich bin zweimal von meinem Lehrstuhl entfernt worden. Meine Werke sind mein Leben.“

„Also wie unsere deutschen Gelehrten,“ bemerkte ich.

„Ganz so. Nicht wahr, Kant ist aus Königsberg nicht über sieben Meilen weit herausgekommen?“

Ich nickte bejahend. – „Wenn Sie kein äußeres Leben haben, so haben Sie doch ein inneres,“ bemerkte ich.

„Fragen Sie, und ich werde Ihnen antworten,“ sagte zuvorkommend Michelet.

„Ein solches Vornehmen ist zu zarter Natur, und ich kann mir es nicht erlauben. Ich weiß, daß es Dinge in dem inneren Leben eines Menschen giebt, von denen man nicht sprechen will.“

„Warum denn nicht? Ich bin bereit Alles zu sagen.“

Es war diese Versicherung so natürlich vorgebracht, daß sie einen tiefen Eindruck auf mich machte. Mir dünkte dieses eine Wort hinreichend, um einen bedeutenden Menschen anzuzeigen. So fremd wie ich dem Gelehrten bei einer ersten Begegnung war, hätte ich es aber für unangemessen gehalten, von dem außerordentlichen Anerbieten Gebrauch zu machen.

„Uebrigens,“ erklärte Michelet, als er meine Zurückhaltung bemerkte, „findet sich in der Vorrede zu meinem Büchlein „Das Volk“, welches 1846 erschien, ein kurzer Abriß meines Lebens. Es ist diesen Angaben nur Weniges hinzuzufügen, etwa: daß ich mich wieder verheirathet habe, daß ich durch meine Frau zum Studium der Naturwissenschaften geführt wurde. Wir haben „die Insecten“, „das Meer“ und „den Vogel“ geschrieben. Diese Werke haben mich neben meinen historischen Arbeiten beschäftigt.“

Frau Michelet bemerkte, daß Biographien ihres Gatten von Hippolyte Castille und – sie lachte – von Herrn Mirecourt vorhanden seien.

„Von Herrn Mirecourt!“ rief der Gelehrte. „Der gute Mann hat in seiner Freundlichkeit versichert, daß ich beichte und regelmäßig jeden Monat das Abendmahl genieße. Ich habe nie gebeichtet und nie das Abendmahl genossen; als ich zur Welt kam, waren die Kirchen in Frankreich geschlossen oder in Werkstätten umgewandelt, die Druckerei meines Vaters befand sich in einer Kirche, und ich habe gearbeitet, wo man sonst betet.“

Michelet wandte sich, da der besprochene Gegenstand erschöpft war, an D. mit der Frage nach den Zuständen von der Türkei, „die wohl recht krank sei“.

D. äußerte die Meinung, daß die Türkei mehr Lebensfähigkeit besitze, als man in Europa annehme.

„Wohl möglich,“ versetzte Michelet; „denn krank ist dieses Reich so lange es besteht,“ und er erinnerte an das Factum, daß die Türken in ihrer Blüthezeit Knaben raubten, um sich durch äußere Anhäufung wie die Steine zu vermehren.

„Es bringt wohl die social-politische Einrichtung, wie sie durch den Koran festgestellt ist,“ bemerkte ich, „diese Krankheit mit sich. Die Vielweiberei, durch welche die Bildung der Familie unmöglich gemacht wird, ist wohl an der chronischen Schwäche der Mohamedaner schuld, weil sie mit einer Herabwürdigung der Frau, mit der Herabwürdigung der Mütterlichkeit selbst zusammenhängt.“

„Wunderlicherweise,“ bemerkte er, „sind die Türken wegen der Neugierde unserer Soldaten, die gar zu gern von den Gartenmauern aus die türkischen Frauen lustwandeln sehen, uns abgeneigter, als den Engländern, obgleich unser Benehmen viel angenehmer, als das der Engländer ist.“

„O die Engländer sind hart,“ rief Frau Michelet, „man sehe nur, wie sie ihre Frauen behandeln.“

Obgleich gewohnt, von Franzosen aller Bildungsstufen alles Englische mit Ungerechtigkeit behandelt zu sehen, konnte ich doch nicht unterlassen, dieser Ansicht mit einiger Lebhaftigkeit entgegen zu treten.

„Meines Wissens,“ versetzte ich, „behandeln die Engländer ihre Frauen mit einer Rücksicht, die der Franzose, seiner eigenen Ehehälfte gegenüber, nicht selten außer Acht läßt.“

„Weiht der Engländer seine Frau doch nicht einmal in den Gang der Geschäfte, in den Stand des Vermögens, kurz in die wichtigsten Angelegenheiten der Familie ein,“ entgegnete Michelet.

„Er läßt sie aber dafür,“ versetzte ich, „im Hause unumschränkt gebieten, ja, in vielen Stücken sich von ihr lenken, er liebt und ehrt sie mehr, als es der Schroffe zeigen mag. Daß er sie dem Drange und den Sorgen der Geschäfte fern hält, gereicht ihm vielleicht eher zum Lobe, als zum Vorwurf; es spricht sich darin vielleicht eher eine zarte Schonung als Geringschätzung aus. Wie es der angelsächsische Stamm mit den Frauen hält, zeigt sich in den Vereinigten Staaten, wo der Mann, wer es auch sein mag, den Frauen den Platz räumen muß.“

„Im Grunde,“ gestand Michelet zu, „versteht der Engländer die Heiligkeit der Familie, und es gefällt mir an ihm, daß er sein Haus geschlossen hält. Bei uns Franzosen haben die Hauser gar keine Thüren. Man tritt ein und man ist da.“

Noch viele andere ebenso interessante Fragen regte der Gelehrte an, und sprach über dieselben in eben so origineller, als anziehender und belehrender Weise. Sein Ausdruck ist kräftig, seine Stimme hell und wohltönend. Durch die Einfachheit, die Lebendigkeit, die höhere Anschauung des berühmten Mannes gewonnen, eine Gedankenbewegung im Kopfe, verließ ich das schlichte Haus.

Michelet hat seit dieser Zeit noch zwei Bücher erscheinen lassen: „die Liebe“ und „die Frauen“, beide voll feiner und tiefer Blicke in das weibliche Herz, obwohl ich auch hier nicht Alles als unangreifbare Wahrheit unterschreiben möchte. Namentlich für deutsche Leser ist Vieles verletzend. Aber auch in diesen Büchern hat er seine große Kunst bewährt, den Leser zu fesseln, das Gefühl und die Einbildungskraft anzuregen und durch schlagende Behauptungen zu überraschen. Jedenfalls sind beide Bücher nicht ohne Beihülfe seiner liebenswürdigen Frau entstanden.



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 410. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_410.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)