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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Die Beguinen in den Niederlanden.
Von Ludwig Storch.

Einer der wichtigsten Knotenpunkte in der Entwicklungsgeschichte des europäischen Menschheitslebens ist die hundertundfünfzigjährige Periode vom Anfange des 12. bis zu der Mitte des 13. Jahrhunderts. Ein ungemein lebendiges Drängen und Kämpfen entbrennt in den Gemüthern gegen und für die Strenge des christlich-kirchlichen Lehrbegriffs und wiederum der beiden Hauptparteien, jede für sich und auf ihre Art, gegen den sittlichen und religiösen Verfall der Gesellschaft, insbesondere der Geistlichkeit. Mit dem furchtbar blutigen Kampfe der Kirche gegen die auf die einfache Apostellehre zurückgehenden Albigenser und Waldenser ging die Bildung neuer geistlicher Ordensverbrüderungen, besonders die der Bettelmönche, Hand in Hand, um dem neuerwachten religiösen Bewußtsein innerhalb der Kirche selbst neue entsprechende Bahnen zu ebnen. Die bloße Asketik des Klosterlebens genügte nicht mehr; sie mußte mit dem praktisch thätigen Eingreifen in die Lebensentwicklung verschmolzen werden.

Aus dieser reich bewegten Zeit ging auch der erste weltliche Verein frommer Frauen zu sittlich religiösen und praktischen Zwecken hervor, ganz besonders zu dem Zwecke, um die sittlich verkommene gesellschaftliche Stellung der Frauen der mittlern Stände wieder auszubessern und zwar nicht durch strenge Abgeschlossenheit von der Welt, sondern besonders durch Uebung der Krankenpflege, Beschützung Verlassener, Rettung Gefallener und Erziehung Unmündiger. Diese Frauen führten den Namen der Beguinen oder Beghinen und führen ihn heute noch von ihrem Stifter Lambert le Begues (der Stammler), einem Priester zu Lüttich. Sie bilden eine nicht unbedeutende Sprosse in der Stufenleiter der sittlich-socialen Entwickelung der letzten Jahrhunderte des Mittelalters und sind deshalb einer nähern Betrachtung würdig.

Das sittlich-kirchliche Leben war damals arg in Schmach und Schande versunken, die Geistlichkeit wälzte sich im Schlamme niedriger Lüste. Die Gesittetsten waren noch die, welche sich über das Gebot des Cölibats hinwegsetzten und sich förmlich verheiratheten. In Lüttich war zu Ende des zwölften Jahrhunderts Unzucht und Schlemmerei bei der Geistlichkeit ungewöhnlich stark im Schwunge. Der Fürstbischof von Lüttich, Raoul (Radulphus), ein Lothringer, ging Allen mit dem schlechtesten Beispiele voran und übte den verderblichsten Einfluß auf die Sitten der ihm untergeordneten Geistlichkeit und der Bevölkerung des Landes. Schon früher wegen der schamlosesten Simonie als Erzbischof von Mainz vertrieben, steigerte er die Verhöhnung religiöser Zucht und Ordnung bis zu dem Wahnwitz, daß er die geistlichen Stellen durch seinen Scharfrichter Udelinus auf dem Markt Lüttichs öffentlich versteigern ließ. Aus diesem einen Zug läßt sich auf das wüste Zerrbild der ganzen Gesellschaft schließen und abnehmen, zu welcher schmutzigen Verworfenheit das Weib, die Hüterin der Sitte und die Vorsteherin eines keuschen geregelten Lebens, herabgedrückt sein mußte.

An einen gesetzlich gegliederten Verband der Kirche war nicht zu denken, nur die schlechten Auswüchse der Klerisei ordneten sich dem verbrecherischen Oberhaupte unter. Die bessern Priester entzogen sich der Oberherrschaft des Bischofs und wanderten amtlos im Lande umher zur Verrichtung der Sacramente. Es konnte nicht fehlen und ist der bessern Menschennatur, die durch ihren Gegensatz stets gestählt wird, angemessen, daß es darunter Männer gab, denen es mit wahrer Religiosität und einer derselben angemessenen Lebenseinrichtung ein Ernst war und die ihrer Entrüstung über die Liederlichkeit der höhern Geistlichkeit muthige Worte gaben.

Unter diesen Ehrenmännern zeichnete sich Lambert le Begues durch Frömmigkeit, Sittenstrenge und freimüthigen gegen das Verderbniß der Obern gerichteten Eifer aus. Daß der Mann geistigen Scharfblick besaß, beweist der Weg, den er einschlug, um die im Lasterpfuhl versunkene Menschheit auf die reinliche Höhe eines gesitteten Lebens zu retten, beweisen die rechten und zweckmäßigen Mittel, die er anwendete, um sein schönes Ziel zu erreichen. Er hatte begriffen, daß, wer die sittlich verdorbene Gesellschaft bessern will, bei den Frauen anfangen muß. Sein nicht unbeträchtliches Vermögen wandte er zu einer eigenthümlichen Stiftung auf, um unverheirathete Frauen zu einem gottgefälligen Leben zu vereinigen. In einem ihm gehörigen großen Garten in der Nähe der Stadt ließ er eine nicht kleine Anzahl einzelner Häuschen erbauen, die er Jungfrauen und Wittwen ohne Unterschied des Standes und Vermögens unter der Bedingung zu Wohnungen gab, daß sie keusch und züchtig, arbeitsam und verträglich zusammen lebten, und in der Mitte des Gartens eine kleine Kirche für seine Pfleglinge. Sämmtliche Bauten waren in zwei Jahren vollendet, und am 2. März 1184 wurde die Kirche dem heiligen Christoph geweiht. Die Oberaufsicht über seine Stiftung übertrug Lambert einem von ihm angestellten Priester. Die hier zusammenlebenden Frauen erhielten vom Volke den Namen Beguinen (Stammlerinnen), vom Zunamen des Stifters le Begues abgeleitet, und es war dies höchst wahrscheinlich anfangs ein Spottname, wie Geusen, Hugenotten etc.

Dies ist der Anfang der nachher so großen und berühmten Vereinignug der Beguinen und der erste Beguinenhof.

Der fromme Lambert, nach einer in der großen Lambertus-Kirche gehaltenen Strafpredigt von seinen wüthenden Feinden, den vornehmen Pfaffen, überfallen und gemißhandelt, wurde von den Häschern des Bischofs gefangen nach dem nahen Castell Revogue geführt. Bei dieser seiner Verhaftung in der Kirche soll er, der Sage nach, den baldigen Untergang dieser Kirche prophezeit haben. Als nun die Kirche während seiner Haft wirklich durch die Unvorsichtigkeit eines Glöckners abbrannte, wurde er von seinen Feinden der Zauberei angeklagt, aber die vom Bischof angeordnete Untersuchung konnte keinen Tadel an Lambert finden, der, da das Volk über seine ungerechte Haft murrte, freigelassen nach Rom wanderte, um sich beim Papst Urban III. zu rechtfertigen. Dieser sprach den frommen Priester von jeglichem Vorwurf frei und bestätigte ihn als Patriarchen des von ihm gestifteten Instituts der Beguinen. Nach Lüttich zurückgekehrt, starb er sechs Monate darauf, nachdem er seine letzten Kräfte der Befestigung seines wohlthätigen Werks gewidmet hatte, im Jahre 1187.

Die Beguinen vermehrten sich ungemein schnell, nicht allein in Lüttich, sondern auch in den ganzen Niederlanden, in Frankreich und Deutschland. In den Niederlanden wurden alle Beguinenhöfe nach dem Vorbilde des Lütticher angelegt, eine Anzahl sich stets vermehrender kleiner Häuser mit einer Kirche außerhalb der Städte, so daß sie eigentlich Vorstädte oder Dörfer bildeten, und von den Nonnenklöstern auch in der äußern Gestalt wesentlich verschieden waren. Erst in spätern Jahrhunderten sind sie wegen der Kriegsdrangsale, welchen sie allzu sehr ausgesetzt waren, durch die Ringmauer hier und da in die Städte aufgenommen worden. Zu Ende des 13. Jahrhunderts gab es fast keine belgische Stadt, welche nicht ihren Beguinenhof hatte.

Diese ungemein rasche Vermehrung und Ausbreitung des Beguineninstituts lieferte den Beweis, daß dadurch einem moralischen, socialen und nationalen Bedürfniß Ausdruck und befriedigende Gestalt gegeben war.

Wie die Beguinenhöfe in der äußern Gestalt und innern Einrichtung nichts mit den Nonnenklöstern gemein hatten, so waren auch die Gesetze, nach welchen die Beguinen zusammenlebten, von den Ordensregeln der Nonnen sehr verschieden, und es wäre nichts Verkehrteres, als sie für Nonnen von einer leichten Observanz zu halten. Wenn die Nonne, von welchem Orden sie auch sei, stets an eine mehr oder minder strenge Ordensregel gebunden war, hatte die Beguine höchstens sich eines nüchternen, mäßigen Lebens zu befleißigen. Gar oft war das Gegentheil der Fall, ohne daß die Beguine dadurch ihrer Stellung im Bunde verlustig worden wäre. Das Gelübde der Nonne lautet auf Gehorsam und Keuschheit für ihr ganzes Leben; die Beguine verspricht den Vorsteherinnen der Anstalt nur für die Dauer ihres Aufenthaltes im Beguinenhof Gehorsam, und von einem Keuschheitsgelübde ist bei ihr keine Rede. Die Nonne ist für die Lebensdauer an ihr Kloster gebunden; die Beguine kann zu jeder Zeit, wenn es ihr beliebt, die Anstalt verlassen, um in die Ehe oder ein anderes Verhältniß zu treten. Die Nonne tritt bei der Einkleidung ihre sämmtliche Habe dem Kloster ab; die Beguine behält die freie Verfügung über ihr Eigenthum. Die Nonne trägt ihre streng vorgeschriebene Ordenskleidung, die Beguine zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten eine

verschiedene Tracht und ist nur vorschriftlich verpflichtet sich, einfach

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 396. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_396.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)