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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)


ganzen Geschichte, als mitten in dieser schon schrankenlosen Bewegung einen Mann zu finden, der sie mit hervorgerufen, der sie nach Kräften gefördert hatte, der aber ihre weiteren Folgen, den Sturz der Monarchie und den Eintritt der Schreckensherrschaft mit einem staunenswerthen Seherblicke voraussah und die Freiheit aus den Händen der Freiheitshelden zu retten entschlossen war. Er fühlte sich berufen, die Rolle zu übernehmen, die Boerhave in jener Harlemer Epidemie gespielt hatte, und er sah sich nur nach dem Instrument um, womit er die Operation zum Wohle des Staatskörpers vollziehen könne. Mirabeau’s frühzeitiger Tod war für seine Zeit ein unersetzlicher Verlust, der Nachwelt aber hat er das interessante Schauspiel eines Kampfes entzogen, welchen ein Genie ohne Gleichen mit einer Bewegung ohne Gleichen aufzunehmen im Begriff stand.




Der Verbannte von Brighton.

Vor mehr als dreißig Jahren begrüßten wir auf der lateinischen Schule der Franke’schen Stiftungen zu Halle einen neuen Lehrer, der Ruge hieß, Dr. Arnold Ruge. Wir sollten bei ihm deutsche Verse machen lernen. Wir liebten ihn sofort und hatten alle aufrichtigen Respect vor ihm, ohne daß er jemals etwas der Art gefordert hätte, wie dies andere Lehrer vergebens thaten. Wer von uns keinen Vers machen lernte, setzte doch immer Himmel und Hölle in Bewegung, die aufgegebenen Hexameter, Distichen, Jamben und Reime aus dem Gehirn Anderer zu liefern, blos um dem einen Blicke oder Worte des Vorwurfs oder Spottes vom Katheder herab zu entgehen.

Jeder von uns sah ohne Weiteres mit dem scharfen Blick der Jugend für die Vorzüge und Schwächen der Lehrer nicht blos den geharnischten Helden gründlichen Wissens und lebendigen, anregenden Vortrags, sondern noch mehr den kernigen, edeln Mann in seiner ungeschminkten, ich möchte sagen, naiven Würde, ganz nüchtern, ohne alle Phrase und müßige Zuthat.

Ruge personificirt ganz wesentlich den Geist der letzten funfzig Jahre, der Freiheitskriege, in deren höchsten wissenschaftlichen und praktisch-politischen Folgerungen und Forderungen. Das ungeheuere Trauerspiel dieser von Regierungen unterdrückten, vom Volke verlotterten Forderungen und Früchte geht mitten durch sein Leben und alle seine wahrhaft heldenmüthige Thätigkeit. Er personificirt diese Zeit zugleich in einer so sittlich reinen, nüchtern norddeutschen, logisch scharfen, wissenschaftlich starken, sonnenhaft durch sich selbst klaren und leuchtenden Individualität, er hat dem Inhalte dieser unserer Zeit durch Worte und Werke und namentlich einst durch die Hallisch-Deutschen Jahrbücher einen so mächtigen Ausdruck gegeben, daß wir hier, kurz nach jenen Feierlichkeiten, welche zu Ehren der nach funfzig Jahren auferstandenen Geister der Freiheitskriege in’s Leben gerufen wurden, just zur rechten Zeit uns an einem solchen Leben erquicken, durch einen solchen Mann ermannen lernen mögen. Noch jetzt als Verbannter ruft er uns vom Meere herüber zu: „Tod, wo ist Dein Stachel? Hölle, wo ist Dein Sieg? Nichts ist todt. Wir haben nicht umsonst gekämpft und gelitten. Gerade jetzt und nun erst nach funfzig Jahren fangen wir an, in diesem Geiste der Freiheit zu leben und zu fordern.“

„Bei der damaligen Umwandlung glich Deutschland dem Löwen, welchem Don Quixote den Käfig aufmachte. Er war seinen Käfig so gewohnt, daß er nicht herauskam. Oder es glich einem Schlaftrunkenen, dem die Sonne in’s Gesicht scheint und der sich herumdreht, um weiter zu schnarchen. Vor funfzig Jahren legte das Volk einen vollständigen Mangel aller politischen Fähigkeit an den Tag, ja sogar das Bewußtsein von einem freien Gemeindewesen fehlte ihm.“

Und jetzt? „Ebenso allgemein als die Forderung, daß Volk und Staat einig seien, ist die der Selbstregierung. Sie ist nicht mehr die Theorie einiger Freunde der englisch-amerikanischen Freiheit, sondern Eigenthum aller denkenden Deutschen.“

Dies sind einige Stellen aus der unbefangenen, bis jetzt in zwei Bänden erschienenen Selbstbiographie Ruge’s: „Aus früherer Zeit“, worin die tröstliche Thatsache, daß der Geist der Freiheitskriege, damals blos ein dumpfer Unabhängigkeitskampf gegen einen Eroberer, jetzt zum klaren, in allem Volke lebendigen Streben nach Unabhängigkeit zu Hause geworden, ebenso männlich als überzeugend bewiesen und uns ermuthigend an’s Herz gelegt wird.

Er spricht also, obgleich ein Sechziger und Verbannter, noch mit ungeschwächter Kraft und Ueberzeugung ermuthigend mitten in unsere höchsten Bestrebungen und Kämpfe hinein. Den Mann wollen wir näher kennen lernen. Ruge stammt von der Insel Rügen, in deren Hauptstadt Bergen er am 13. September 1803 geboren ward. Sein Vater war damals Verwalter der Güter des Grafen Braße, der, als er seine Kossäthen von Hörigkeit und Frohn befreien wollte, beinahe eine Revolution seiner Leibeigenen gegen sich hervorrief, die sich endlich nur befreien ließen, weil sie es nicht hindern konnten. So sagt Ruge selbst in seiner Selbstbiographie und setzt hinzu. „Die, welche mir Schuld geben, ich hätte den Deutschen immer zu viel zugetraut, wissen nicht, wie früh ich ihr Talent kennen gelernt, sich ihren Befreiern zu widersetzen.“

Sein Vater pachtete sich schon 1804 selbst ein Gut zu Bismitz auf Jasmund an der Ostküste von Rügen. Hier im Thale, von Wogen und Jasmunds blauwellig umspülter weißer Felsenbrust umgeben, von Buchenwäldern, Wassermühle, Forellenbach, Uferbergen, grünen Weiden, weidenden Thieren, Füchsen und Seehunden, von ländlichen und Meer-Schönheiten, erzogen von einem strengrechtlichen, gutherzigen Vater und einer ebenso geistvollen als körperlich starken Mutter, die einmal einen Franzosen, der sie auf den Arm gehauen, eigenhändig und allein mit einem Besenstiele so nachdrücklich zerbläute, daß er betäubt auf dem Hausflur liegen blieb und auf Befehl der zornigen Mutter liegen bleiben mußte, bis er von selber wieder aufstand (der französische Officier, der kam, um die Sache zu untersuchen, gab ihr Recht und setzte hinzu, daß sie, die Franzosen, Deutschland nicht zu sehen gekriegt hätten, wenn die große Nation Napoleon’s Angriffe so erwidert hätte, wie sie, Ruge’s Mutter) – so gesund und stark entsprossen und in solcher Umgebung zum ersten Bewußtsein erwachend, dann schon als Kind persönlich von der Franzosen Herrschaft berührt, daß er eines Nachts in einem dunkeln Gange des Gartens niederkniete und betete, der Tyrann möge zu Grunde gehen, oder er wolle ihn mit eigener Hand erstechen, endlich in und auf Schulen in Bergen, Langenhavshagen und Stralsund schon im 17. Jahre zum sprüchwörtlichen „Altklug“ geworden, fuhr er zu Ostern 1821 als „ganz vernünftiger, junger Fuchs“ mit zweihundert harten Thalern im Ränzel auf einem Hühnerwagen nach Halle hinein auf die Universität.

Mit diesem langen Satze haben wir die ganze Kind-, Knaben- und Schulzeit gleichsam übersprungen, obgleich „diese Welt der Kindheit größere Aufmerksamkeit verdient, als ihr gewöhnlich gewidmet wird.“ Blos weil wir innerhalb eines beschränkten Raumes das ganze bisherige Leben unseres Helden in seinen reichhaltigen Hauptzügen wenigstens andeuten müssen, können wir uns mit dieser frischen Jugend ebenso wenig aufhalten, wie mit der noch bedeutungsvolleren Universitätszeit, der Ruge den ganzen zweiten Band seiner Selbstbiographie[1] widmet. Wer aber nicht nur ein Muster sittlicher Strenge, muthigen Handelns, edler Resignation, riesigen Fleißes, muthigen Kampfes gegen die Albernheiten des alten Studententhums und den Reformator selbst kennen und achten lernen, sondern sich auch das klarste, reichste, lebenswahre Bild von dem damaligen Geiste der Universitäten verschaffen will, der muß diesen Band lesen. Ruge besuchte fast alle Universitäten als Hauptträger oder echter Bevollmächtigter der Burschenschaft, ihrer Bestrebungen, Pläne, Reformen, Vereine und Verschwörungen.

Wir wollen uns bei der Burschenschaft nicht weiter aufhalten: „sie hatte doch nur das Gefühl und den Glauben der Freiheit,“ sagt Ruge selbst; „die verwirklichte Freiheit war uns dann die Philosophie, und eben dieses Bewußtsein gab uns damals und giebt

  1. Ruge: „Aus früherer Zeit“ bis jetzt zwei Bände. Berlin, F. Duncker.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 380. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_380.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)