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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Jahre 1727 starb in der Hauptstadt Frankreichs der Diakonus Pâris, ein Haupt der Jansenisten, nachdem er sich durch die strengsten Bußübungen furchtbar kasteit und so zu Tode gequält hatte. Sein Grab wurde häufig von seinen Anhängern besucht, um dort Betübungen vorzunehmen und das Andenken des Verstorbenen zu ehren. Vier Jahre nach seinem Tode, es war im September 1731, verbreitete sich in Paris das Gerücht, auf dem Kirchhofe St. Médard, am Grabe des heiligen Pâris, geschähen Wunder. Kranke, besonders Gelähmte, die sich dort in der Nähe des Grabes herumgetrieben hätten, seien von unbestimmten Beängstigungen, von Zuckungen, von Starrkrämpfen ergriffen und schließlich geheilt worden. Bald war ganz Paris in Aufregung. Große Menschenmassen strömten täglich nach dem Kirchhofe St. Médard, um Zuschauer jenes seltsamen Schauspiels zu sein, das von den Einen für göttlichen, von den Gegnern für höllischen Ursprungs gehalten wurde. Zusehen und selbst mit ergriffen werden, war bald das Gewöhnliche. Aber auch für Solche wurde gesorgt, die nicht mit eigenen Augen das Gift dieser Zuckungen einzufangen vermochten. Den Abwesenden kam man dadurch zur Hülfe, daß man einige Reliquien des Verstorbenen, die Erde vom Grabe und das Wasser einer am Kirchhofe gelegenen Quelle als wunderthätig in die Provinzen verschickte. Damit gewann die Epidemie eine solche Ausdehnung, daß man bald über 800 Convulsionärs zählte. Endlich, es war im Januar 1732, und die Seuche noch im fortwährenden Zunehmen, setzte die Jesuiten-Partei es beim Könige durch, daß der Kirchhof geschlossen wurde. Die Pariser rächten sich damals durch ein Epigramm, das man am andern Tage an der Kirchhofspforte angeschlagen fand, und das ungefähr besagt, der König verbiete hiermit dem lieben Gott, fernerhin Wunder zu thun. In den Häusern und geheimen Versammlungsplätzen dauerte indessen die Epidemie in dem Maße fort, daß endlich durch königlichen Befehl geradezu alle Convulsionen verboten wurden. Die Anfälle selbst gestalteten sich verschiedenartig. Manche empfanden neben den Zuckungen die heftigsten Schmerzen, so daß ihre Glaubensgenossen ihnen zur Hülfe kommen mußten. Bald bildete sich innerhalb der Secte eine besondere Classe, die sogenannten Secouristen, welche blos Hülfsleistungen verrichteten, und zwar wie bei den Johannistänzern in der rohesten Art. Man schlug auf verschiedene Körpertheile mit Steinen, mit Hämmern, mit Degen, mit Holzstücken.

So dauerten diese merkwürdigen Zufälle, bei denen allerdings häufig genug einfache Nachahmung und Betrug mit unterlief, bis zum Beginn der Revolution, wo sie durch die dann auftretende politische Gährung ausgeglichen wurde. – Wenn bei dieser Epidemie die convulsivischen Bewegungen der Extremitäten die Hauptrolle spielten, so darf ich eine andere nicht ganz mit Stillschweigen übergehen, bei welcher die Zunge fast ausschließlich zum Ausdruck der inneren Erregung benutzt wurde. Der Uebergang geistiger Anregung auf dieses Organ ist bekanntlich ein sehr gewöhnlicher. Die meisten Menschen fühlen sich nicht eher ruhig in ihrem Innern, als bis sie sich nach jeder stärkeren Empfindung gegen Andere ausgesprochen haben. In manchen Versammlungen sehen wir dadurch förmliche Rede-Epidemien entstehen, daß manche Anwesende durch die Reden Anderer ebenso unwiderstehlich zum Selbstreden angespornt werden, wie etwa ein Canarienvogel seine Stimme erhebt, wenn in seiner Nähe gesprochen wird. In Schweden war schon in den Jahren 1842 und 1843 in der Provinz Smaeland eine Geistesepidemie ausgebrochen, von der hauptsächlich junge Mädchen ergriffen wurden. Sie fühlten einen starken Drang zur Reue und Buße, und klagten dabei über Schmerzen im Kopfe oder in der Brust. Es folgten dann starke krampfhafte Bewegungen in den Achseln und Armen, welche bis zu starkem Schütteln der Arme und des Oberkörpers ausarteten, dann aber ein Schwall von Worten, welche Ermahnungen zur Buße und zur Bekehrung enthielten, im Allgemeinen also dasselbe Bild, welches ich Ihnen in der Elberfelder Epidemie vorgeführt habe.

Weit bedeutenderes Aufsehen machte indessen die sogenannte Predigtkrankheit und Leserei, die 1850–52 in den Lappmarken verbreitet war. Hier wimmelten ganze Gemeinden und Dörfer, ganze Landstriche von Erweckten, die mit lauter unermüdlicher Stimme Predigten vorlasen, sangen und eiferten, abwechselnd aber auch still saßen und seufzten oder auch in Ohnmacht oder Zuckungen verfielen, aus denen sie manchmal erst nach 3–4 Stunden erwachten, um nun allerhand Offenbarungen und Erscheinungen zu beschreiben, die im Zustande der Erschöpfung phantastisch ihrer Seele erschienen waren. Ein schwedischer Arzt, der damals jene Gegenden bereiste, berichtet, daß sowohl der Kutscher seines Schlittens als auch ein auf dem Pferde reitender Knabe, ebenso der Kutscher des zweiten Schlittens, seines Begleiters, und ein neben diesem sitzendes Mädchen während der ganzen Fahrt laut geheult, gesungen und gepredigt hätten, so daß ihnen selbst beinahe Hören und Sehen vergangen wäre. Es verdient hervorgehoben zu werden, daß die Leserei in den Lappmarken einen günstigen Einfluß auf den moralischen Zustand des Volkes zur Folge hatte, indem sie einen vortrefflichen Ableiter gegen die Trunksucht bildete, welche dort in ungewöhnlich hohem Grade verbreitet war.

Aber ich will Sie nicht weiter mit der Aufzählung von Vorgängen ermüden, die, wie die bisher erwähnten, unter sich eine große Aehnlichkeit haben, sondern wende mich zu denjenigen epidemischen Bewegungen, als deren Triebfeder politische Ideen anzusehen sind. Ich werde mich dabei nur auf einige Bemerkungen beschränken und mich ausschließlich auf französische Zustände beziehen; denn bei keinem anderen Volke kommt der directe Uebergang von sinnlicher Empfindung zur Bewegung häufiger und reiner zur Erscheinung als bei den Franzosen. Wer die historische Gallerie in Versailles durchwandert, den überfällt ein eigenthümliches Gefühl von der Wandelbarkeit menschlicher Bestrebungen, wenn er diese Reihen von Gemälden überblickt und sieht, wie verschwenderisch eine ganze Nation heute Liebe und morgen Haß gespendet, wie sie heute mit voller Hingebung dem Principe der Volkssouveränetät, morgen dem Absolutismns und der Knechtschaft gehuldigt hat. Tritt man aber in Paris heraus auf die Straße und sieht dort mit eigenen Augen den ewigen Wechsel der Erscheinungen, wie ihn die Mode erzeugt, sieht dort jene bewegliche, fröhliche, zugängliche Menge gaffend und horchend vorüberziehen, dann scheint das Räthsel jener politischen Wandlungen seiner Lösung näher zu treten. Robespierre, dieser eiserne Republikaner, wahrlich, er hatte eine richtige Ahnung, als er in der Mannigfaltigkeit äußerer Eindrücke den größten Feind der Republik erblickte und immer und immer wieder auf die Rückkehr zu einfachen Zuständen hinwies. Aber solches Bemühen war vergeblich in der Heimathstätte der Schaulust, der Moden und Novitäten. „Armer Robespierre,“ sagt Heinrich Heine in einem seiner Pariser Briefe, „Du wolltest republikanische Strenge einführen in einer Stadt, wo 150,000 Putzmacherinnen und 150,000 Perruquiers und Parfumeurs ihr lächelndes, frisirendes und duftendes Gewerbe treiben!“ Aber eben deshalb stand der Demagogie, so wenig sie auf dauernde Erfolge rechnen durfte, ein weiter und leicht zugänglicher Spielraum zu Gebote, den sie in einem bis dahin unerhörten Umfang zu benutzen verstand. Von den französischen Demagogen hatte Keiner es richtiger begriffen, als Camille Desmoulins, daß man nicht mit Vernunftgründen, daß man mit Knalleffecten, daß man mit Farben und Tönen die große Menge in Bewegung setzen müsse. Wer in Paris war, kennt die kleine Kanone, die im Hofe des Palais royal allmittaglich mit Hülfe eines Brennspiegels durch die Sonnenstrahlen abgefeuert wird. Camille Desmoulins war es, der am 12. Juli 1789 diesen Schuß gewissermaßen als Signalschuß benutzte und auf eine Bank tretend „zu den Waffen!“ rief. Er war es, der dabei vom nächsten Baume ein grünes Blatt herabriß, es als Cocarde an den Hut steckte und die dort zahlreich versammelten Spaziergänger aufforderte, seinem Beispiel zu folgen. Es bedurfte nur weniger Minuten, und alle umstehenden Bäume waren ihres Schmuckes beraubt, alle Hüte mit dem grünen Wahrzeichen der Freiheit versehen. Am folgenden Tage trug ganz Paris die grüne Cocarde, die Aufregung wuchs stündlich, bis am 14. Juli die Bastille erstürmt und damit der Revolution das Thor geöffnet wurde. Es ist bekannt, wie dann die blau-weiß-rothe und später, als man mit pikanteren Eindrücken die Sinne kitzeln wollte, die rothe Farbe das Symbol der Revolution geworden ist, und soll ich der treibenden Kraft der Töne gedenken, so erinnere ich nur an die Marseiller Freiheitshymne, die Hunderttausende in Bewegung setzte und mehr für die Republik geleistet hat, als die durchdachtesten Beweisgründe für die Vortrefflichkeit dieser Staatsform. Im Laufe der Revolution begegnen wir einem fein durchdachten System von Sinnesreizen, welche in schrittweiser Steigerung die Menge in Bewegung hielten; Paraden, Fackelzüge, Verbrüderungsfeste folgten eines dem andern und zeigten sich jedesmal als unvermeidliche Vorboten, wo der Sturz eines Theils der bestehenden Gewallt oder einer politischen Partei in Aussicht stand. Kein großartigerer Anblick aber in der

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