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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Aus dem Skizzenbuche eines polnischen Officiers.

Mein Vater, polnischer Edelmann, beschäftigte sich neben der Verwaltung seines Guts vorzugsweise mit geschichtlichen Forschungen, besonders auf dem Gebiete adeliger Abstammung und Wappenkunde, und besitzt darüber trefflich geordnete Sammlungen aus den amtlichen Quellen wohl aller Länder Europas. Sein Gut, dessen Edelhof ungefähr zwei Stunden von der russisch-polnischen Grenze entfernt ist, erstreckt sich mit Dörfern und Wäldern bis an diese.

Ich wurde nach vollendeter guter Erziehung Officier in Diensten unserer Regierung und hatte, in Besatzungen deutscher Bundesfestungen liegend, Gelegenheit, mich mit den Verhältnissen unserer westlichen und südlichen Nachbarn bekannt zu machen. Vor dem Aufstand nahm ich meinen Abschied. Für den Aufstand stickte und verfertigte meine Mutter eine Fahne, deren Tuch auf der einen Seite das Bild des (durch Lech, der Polaken Stammvater, in dem Neste „Gnesen“ gefundenen) weißen gekrönten polnischen Adlers im rothen Felde, auf der andern das der heiligen Mutter Gottes von Czenstochowa trug; – diese ist in einem aus byzantinischer Zeit stammenden, von Alter schwarzbraun gewordenen Bilde das Urbild der polnischen schwarzen Muttergottesbilder geworden und hat im Jahr 1655 bei der Belagerung ihres Sitzes durch die bisher siegreichen und übermächtigen, bereits das ganze Land besitzenden Schweden die Polen zum Siege begeistert, – von nun an Schutzheilige des für Freiheit und Unabhängigkeit kämpfenden Polens. Auf die Schleife stickte meine Mutter die Worte ein: „Freiheit für uns und für Euch!“ (Letzteres ist zu den Bauern gesprochen.)

Zu dieser Fahne schwur ich und mein Bruder den Eid der Treue zur polnischen Sache bis in den Tod. Ich trat als „Generalstabsofficier des polnischen Volksheeres“ in die Bande eines alten Obersten, der im Jahre 1831 gedient hatte und dadurch mit dem großen Krieg wohlbekannt geworden war.

Der Edelhof meines Vaters wurde zum Vorbereitungsplatz für einen Zug gewählt. Namentlich empfing ich dort die dafür gelieferten Waffen. Als sie zum wirklichen Gebrauch noch näher an die Grenze gebracht werden sollten, verpackte ich sie in meinem Schlafzimmer. Dabei half mir ein im Dienste unserer Regierung stehender Officier. Im anstoßenden Zimmer war einer meiner Bekannten und höherer Regierungsbeamter. Ich hörte ihn gegen die Thür unseres Zimmers kommen und wollte sie vor ihm verschließen; die Waffen lagen im Zimmer und auf meinem Bett herum. Er sagte mir lachend: „Lassen Sie mich nur herein und ein paar Cigarren nehmen; ich sehe sonst nichts!“ Ich that es; er ging gerade und unverwandten Blicks auf mein Cigarrenkistchen los, bediente sich und entfernte sich in gleicher Weise.

Bei uns und in der Nachbarschaft lag eine Schwadron Husaren von den Regierungstruppen. Der Rittmeister, mit mir bestens bekannt, sagte mir kurz vor der zu unserem Abmarsch bestimmten Stunde: „Ich habe Befehl, heute Nacht von acht bis zwölf Uhr da und da patrouillieren zu lassen. Es ist mir nicht geboten, es geheim zu halten.“ – Nach der bezeichneten Stunde kam er zu mir und theilte mir mit, daß die Patrouille zu Ende, seine Husaren wieder in den Quartieren seien. – Ich spazierte mit mehreren Bekannten, worunter einige Officiere von den Regierungstruppen, zum russischen Grenzpfahl, überschritt die Grenze, schüttelte den noch auf nichtrussischem Boden stehenden Officieren die Hände und nahm Abschied, wobei lachend bemerkt wurde, daß sie mir nun nichts mehr thun könnten.

Unsere Bande stieg bis gegen tausend Mann an. Bald zeigte sich aber die Unfähigkeit unseres Obersten. Er mochte im großen Krieg von 1831 unter höherer Leitung seinen Dienst gehörig und tapfer gethan haben; jetzt, wo er selbstständig und unabhängig handeln, wo er einen kleinen und Parteigänger-Krieg leiten sollte, wußte er sich in keiner Weise zu helfen.

Anfangs war unsere Mannschaft vom besten Geiste beseelt. Jeden Augenblick, welchen Märsche, Gefechte, Dienst freiließen, benutzten wir zu Waffenübungen im Lager oder in dessen nächster Nähe, nach einer vom Comité herausgegebenen Kriegsinstruction, welche auf die für das polnische Heer im Jahre 1831 gültigen wesentlich französischen Vorschriften gegründet, jedoch mit Bezug auf den Plänklerdienst ziemlich nach österreichischem Muster ausgearbeitet ist. Weisungen vom Comité und Meldungen von der Thätigkeit anderer Corps erhielten wir meist durch Unbewaffnete. Namentlich gab es einen Generalstabsofficier, welcher zu Fuß, mit einem dünnen Spazierstöckchen in der Hand, seine Bekannten besuchend, von einem Edelhof zum andern ging, dabei aber auch mit unserer und anderen Banden von Aufständischen zusammentraf und dann den Führern Befehle, Nachrichten von Freund und Feind und Mittheilungen aller Art brachte.

Wir waren ziemlich weit in’s Innere von Congreß-Polen vorgedrungen, als wir zuerst auf eine etwas zahlreichere feindliche Truppenabtheilung stießen. Die Unfähigkeit unseres Obersten verschuldete den Verlust des Gefechts. Der Feind bedrängte uns hart, bis zum Handgemenge. Schon war die Stange der von meiner Mutter geschenkten Fahne in Feindeshand, da stürzte mein Bruder löwenmuthig auf die Fahne, riß Tuch und Schleife mit einem gewaltigen Zuge von der Stange ab, ließ dem Feind das dürre, nackte Holz und verbarg die geliebten Stoffe in der Busentasche seines Rockes. Wir konnten uns leidlich zurückziehen. Sobald wir in Sicherheit waren, wurde eine neue Stange beschafft, und nun flatterte wieder der weiße Adler in den reinen Frühlingslüften.

Längere Zeit waren wir einige Stunden von einem Dorfe entfernt gelagert; hier brachte uns unser spazierender Freund oder ein anderer Bote die Nachricht, daß ein Zug Kosaken gegen den Abend am Dorfe vorbeireiten würde. Das Dorf bildete eine aus zusammenhängenden Häusern und Gärten bestehende gerade Gasse. Derselben gleichlaufend, aber außen an der einen Häuser- und Gartenreihe vorbei, führte der Weg, den die Kosaken reiten sollten, und war noch weiter außen durch einen dichten Zaun begrenzt. Zu beiden Seiten des Weges, also in die Gärten und in die dabei gelegenen Häuser einerseits, hinter den Zaun andrerseits legten wir uns in den Hinterhalt und warteten auf des Feindes Durchzug. Mehrere Stunden waren vergangen, ohne daß sich ein Kosak zeigte. Es fing an Abend zu werden, der Oberst berief einige von uns zusammen und theilte uns mit, daß er uns in’s Lager zurückführen werde. „Die Kosaken kommen nicht mehr. Es fängt an spät zu werden, und wir wollen die Nacht im Lager zubringen.“ Vergeblich waren unsere Vorstellungen, nicht das ganze Unternehmen durch zu frühes Aufbrechen zu verderben. Auf seinen Befehl sammelte sich die Truppe, aus den Gärten und hinter dem Zaune hervortretend, auf dem Wege und war im Begriff, sich in Marsch zu setzen, als plötzlich aus der Mitte der letzten Leute einige Schüsse knallten und der Ruf: „Die Kosaken, die Kosaken!“ erscholl. Theils von selbst, theils auf Befehl warf sich Alles wieder so weit möglich in die Gärten und hinter die Zäune. Wie Vögel in pfeilschnellem Fluge sprengten die bisher in ruhigem Reiseschritt herangekommenen Kosaken auf ihren kleinen Pferdchen in ihren grauen Kitteln, während die Pelzzotteln ihrer Mützen wild in die Gesichter herunter schlugen, mit schwankenden Lanzen vorbei. Unsere Schüsse streckten blos zwei bis drei von ihnen nieder. Hätte unser Oberst nur fünf Minuten länger Geduld gehabt, so wäre uns von den nahezu hundert Kosaken vielleicht kein Mann entgangen. Daß wir mit Mißmuth in’s Lager zurückkehrten, kann man sich denken.

An einem spätern Tage hatten wir eine günstige Stellung in und bei einem Walde. Die Russen rückten in der Stärke mehrerer Rotten heran. Mit unsern Schützen, welche, obgleich meist wenig geübt, mit trefflichen Waffen versehen und dadurch zu vorzüglich sicherem Treffen unglaublich befähigt waren, besetzten wir den Saum des Waldes. Die Sensenmänner wurden in den Rückhalt, in’s Innere des Waldes gestellt. Die Russen, in langer Linie entfaltet, rückten gerade gegen uns heran. Auf dem einen Flügel ging allein und leicht erkennbar ein Officier. Auf etwas weniger als tausend Schritt Entfernung wurde er von einem unserer ganz jungen Schützen und einem Officier bemerkt.

„Wer trifft ihn?“ fragte der Officier, „dem gebe ich einen Rubel!“

„Ich!“ erwiderte der junge Mann, „er ist aber mehr werth. Ich möchte gern fünf Rubel!“

„Fünf Rubel? Das ist viel!“

„Er ist es werth!“

„Sei’s! Fünf Rubel geb ich Dir, wenn Du ihn auf den ersten Schuß triffst!“

Der Junge legte an, das Pulver knallte, das Blei pfiff – der Mann sank, vom ersten Schuß der erste Gefallene.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 376. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_376.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)