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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

es dann aber endlich den Sennen, die erschrockene Heerde wieder zu sammeln, so ist die Gefahr glücklich abgewendet; die Thiere weichen trotz Sturm und Wetter nicht mehr vom Flecke, sobald sie die schmeichelnde, beruhigende Stimme der Hirten vernehmen, als glaubten sie jede Gefahr durch die Nähe des Menschen beseitigt. Aehnlich benehmen sich bei solchem Anlasse auch die weidenden Pferde und Schafe, und erst im Sommer 1860 sprangen auf einer Entlebucher Alp zehn Füllen mit einem Male über eine hohe Felswand. Am schlimmsten wird’s in solchen Fällen bei den Schafen; springt der Leithammel vorab in den Abgrund, so folgt die ganze Heerde bis auf das letzte Stück nach.

Weniger erklärlich, als das soeben Erzählte, dürfte dem Leser als zweiter Anlaß zur Verzweiflung des Rindviehs die seltsame Thatsache vorkommen, daß, wenn auf der Alp ein Stück Vieh verunglückt oder sonst geschlachtet wird, die Sennen nicht sorgfältig genug das halbverdaute Futter des Magens oder den Inhalt der Gedärme verbergen können. Bleibt so was liegen, oder ist nicht tief genug verscharrt, so wird jede Kuh, welche die Stelle betritt, in die wildeste Aufregung gerathen, mit den Hörnern den Boden aufwühlen und damit das Signal zu einem Zusammenlauf der ganzen Heerde geben, dessen Resultat nichts Anderes als der hartnäckigste Hörnerkampf sein wird, der nicht selten schwere Verwundung oder gar den Tod einiger Stücke zur Folge hat.

Daß auch die Sage sich bis zu dem Leben des Rindviehs erstreckt, ist auf der Alm, der so sagenseligen, kein Wunder. Sagenhafter Art ist z. B. das sogenannte Alprücken, obwohl der Glaube der Sennen es nicht als etwas Fabelhaftes gelten lassen will. Sie behandeln aber diesen Stoff gewöhnlich mit einer geheimnißvollen Scheu und müssen mit einem Fremden schon auf ziemlich vertrautem Fuße stehen, bevor sie mit einer fachbezüglichen Erzählung herausrücken. So was zu besprechen, hat seine Gefahren und gehört zu den Geheimnissen des Heerdfeuers. Da soll nämlich zu besondern Zeiten, meist Abends nach dem Melken, in die Kühe plötzlich eine gewaltige Unruhe fahren und dann die ganze Heerde von unsichtbaren Wesen erfaßt und über alle Berge getragen werden, so daß auf der ganzen Alp kein einzig Stück mehr anzutreffen sei. Nach ihnen zu suchen, sei nicht eben gerathen. Glücklicherweise ständen sie am andern Morgen wieder alle gesund und munter auf dem alten Platze.

Eine der hübschesten der Sagen dieser Art ist die von der Sevinenalp im schönen Lauterbrunnenthale. Diese Alp war früher oder ist jetzt noch Gemeingut mehrerer Aelpler, die zur Frühlingszeit ihren Viehstand zu einem gemeinsamen Sennthum vereinigen und solches durch ihre Knechte den Sommer über besorgen lassen. Nun begab es sich auf dieser Alp öfter, daß die Kühe rückten und, wenn die Hirten es nicht rechtzeitig bemerkten, verschwunden waren, ohne daß ein Mensch gewußt hätte, wohin. Daß ein solches Ereigniß bevorstehe, bemerkten aber die Sennen gewöhnlich daran, daß die Kühe plötzlich starr und unbeweglich dastanden, den Kopf zur Erde senkten und keine einzige mehr ihre Schelle erklingen ließ. Trat dieser Zustand ein, so pflegten die Hirten den Kühen zuzurufen: „Steht in Gottes Namen still!“ Dann war der Zauber gelöst, und die Kühe fingen munter wieder an zu grasen. Waren aber die Thiere schon in Bewegung und jagten wie von unsichtbaren Mächten getrieben davon, so sprangen die Sennen mit Rufen und Pfeifen den Flüchtigen nach, und alle diejenigen, über welche sie noch den Melkstuhl zu werfen vermochten, blieben stehen, die übrigen aber verschwanden. War aber das ganze Sennthum gerückt, ohne daß die Hirten es bemerkt hatten, so verrichteten letztere ruhig drei Tage lang wenigstens scheinbar alle Geschäfte fort, als wenn die Heerde noch auf der Alp wäre, und nach diesen drei Tagen kehrte dann die Heerde mit fröhlichem Glockengeläut und Geschrei wieder auf die Alp zurück.

Die Skeptik ist aber auch dieser wunderbaren Sage schon stark zu Leibe gegangen. Die Simmenthaler und Saaner Sennen, die es in der Naturphilosophie schon zu ganz befriedigenden Resultaten gebracht haben, behaupten nämlich, das Alprücken auch zu kennen. Sie nennen diese Erscheinung das „Bysen“ der Kühe und sind der Ansicht, daß zu gewissen Abendstunden die Thiere von Mückenschwärmen überfallen werden und dann, wie bei einem heftigen Unwetter, mit hochgehobenen Schweifen alle auf einmal blitzschnell in einer Richtung davon rennen.

Doch kehren wir aus dem verzauberten Reiche der Sage zum Schluß in die nüchternere, aber immer noch schöne Wirklichkeit zurück und werfen, nachdem wir das Alpenrindvieh vom Leben bis in die Sage verfolgt, auch einen Blick auf den Alpenmenschen, denn auch der Mensch wird auf der Alm ein anderer. Wie gern träumerischer Aberglaube über ihn Herr wird, ebenso wird er aber Herr über eine gewaltige physische Kraft. Bei dem abgeschlossenen, einsamen Treiben der Sennen da oben im Reiche der Lüfte muß ja die märchenhafte Sage in dem Leben dieser meist gemüthreichen Naturkinder eine gar mächtige Rolle spielen. Ihr zu träumerischem Sinnen ohnehin schon geneigtes Gemüth findet gar mächtige Nahrung in der gewaltigen Natur, in den himmelanstrebenden Firsten und Zinken, die im wilden Gebärungskampfe dem Schooß der Erde entstiegen, wie in den tief geheimnißvollen Schrecknissen unzugänglicher Abgründe und Gletscherspalten, durch die der Wind seufzend wie ein klagendes Menschenkind streift. In diesen Gebieten wird jeder fallende Stein, jeder ruhende Vogel zum Mosesstab, der den Brunnen der Wunder erschließt und gleich dem schmetternden Alpenhorne aus den entferntesten Gründen die räthselhafte, antwortende Stimme des Gebirgsgeistes weckt. Diese Anschauungsweise giebt sich besonders darin kund, daß auf den höhern Alpen, wo der regelmäßige Besuch des sonntäglichen Gottesdienstes in dem tief im Thale liegenden Kirchlein eine Unmöglichkeit ist, ein Senne am Sonntagmorgen vor seine Hütte tritt und mittelst seines Alpenhorns die langgezogene, von der dünnen Luft stundenweit zu den entferntesten Almen hingetragene Melodie eines Psalms oder eines frommen Liedes in die feierliche Stille des Gebirgslabyrinths hinausschmettert. Von Alm zu Alm antworten dann die Sennen auf gleiche Weise, und die zuerst majestätisch anschwellenden, dann allmählich wie Geisterhauch in leisem, kaum mehr vernehmbarem Flüstern ersterbenden Töne bilden dann ein Concert, dem in wunderbarem Zauber weder das schönste Orgelspiel, noch die Klänge der Glocken gleichkommen.

Massenhaft sind daher die Sagen, welche des Abends die Sennen, um den gewaltigen Feuerheerd versammelt, sich erzählen. Aber auch für die Entwickelung der Körperkraft sorgt das Alpenleben. Es giebt nur wenig zu thun, was zu verrichten dem Sennen nicht eine Lust und Freude wäre, und zum dolce far niente fällt täglich noch ein tüchtig Stück Zeit ab, das man, bequem auf dem Rücken liegend und selig hinduselnd, in den blauen Himmel hineinstarrend, genießen kann, und wenn das zu langweilig wird, so packt man sich gegenseitig zum Ringkampf (Schwingen) oder mißt seine Kraft, indem man probirt, wer einen achtzig- bis hundertpfündigen Felsblock am weitesten zu schleudern vermöge. Diese edle Beschäftigung bildet denn auch Bursche aus, wie den großen Mildbacher, einen seiner Zeit berühmten Schwinger. Der hatte einmal von einem riesenstarken Sennen im Unterwaldnerlande gehört und beschloß, denselben aufzusuchen. Er traf den Mann auf der Alp in seiner Sennhütte eben mit Käsemachen beschäftigt und bat ihn um einen Trunk Schotten. Der Angesprochene entsprach dem Wunsche seines Gastes in der Weise, daß er mit der einen Hand eine wohlgefüllte Milchgapse ergriff und sie dem erstaunten Schwinger vor den Mund hielt, als wär’s nur so eine Kaffeetasse. Das Erstaunen des Gastes war vollkommen gerechtfertigt, wenn man bedenkt, daß diese Milchgapsen flache, runde Gefäße ohne Handhabe von zwar geringer, kaum mehr denn sechs Zoll betragender Tiefe, aber von einem Umfange von mindestens acht Fuß sind, der Ehrentrunk also eine Schwere von achtzig bis hundert Pfunden haben mußte. Der Mildbacher war aber nicht der Mann, der sich durch solche Kleinigkeit verblüffen ließ, sondern er nahm, als ob sich das von selbst verstände, dem Sennen ebenfalls nur mit der einen Hand das Gefäß ab, wie ein Trinkglas, löschte in langen Zügen ganz gemächlich seinen Durst und reichte das seltsame Trinkgeschirr mit ruhiger Miene dem Geber zurück, der nun seinerseits in den Ausruf ausbrach: „Entweder bist Du der große Mildbacher oder der Teufel!“

Welche Bedeutung das Rindvieh in Bezug auf den Nationalwohlstand der Schweiz hat, mag dem Leser durch die folgenden Zahlen klar werden. Die Gesammtzahl des Rindviehs betrug im Jahre 1860 911,683 Stück. Eingeführt wurden im gleichen Jahre 67,314, ausgeführt 46,520. Daß die Einfuhr die Ausfuhr so bedeutend überwiegt, dürfte vielfach befremden. Dieser Umstand kommt aber daher, daß das Schweizervieh zum Schlachten zu werthvoll ist und daher das meiste Schlachtvieh in den benachbarten Staaten mager angekauft, erst gemästet und dann zu dem angegebenen Zwecke verwendet wird.

A. B.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 375. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_375.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)