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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

sorglich ihre Jungen von denselben fern zu halten suchen. Freilich können sie nicht immer das Ausgleiten auf dem glatten, kurzen Rasen oder auf Geröllhalden, wo der Boden unter ihnen zu weichen anfängt, vermeiden. In solchen Fällen pflegen sie sich ruhig in ihr Schicksal zu ergeben, und mit geschlossenen Augen dem Abgrund entgegenzugleiten. Trifft es sich, daß ein glücklicher Zufall, eine hervorragende Wurzel oder ein Steinkamm den jähen Sturz aufhält, so warten die klugen Thiere gelassen und regungslos den Moment ab, bis der Senne sie aus der gefährlichen Situation erlöst.

Auffällig ist besonders der Ehrgeiz um den Rangstreit, der sich unter den Alpenkühen bemerkbar macht; keine englische Hauptmannsfrau ist eifersüchtiger auf den ihr gebührenden Vortritt vor der Frau des Oberlieutenants, als die sogenannte Heerkuh auf den ihrigen. Diese Heerkuh ist nämlich nicht nur etwa die Schönste, sondern auch die Stärkste unter all ihren Genossinnen. Beim Auffahren auf die Alm trägt sie die riesigste Schelle; keine andere würde sich die Unanständigkeit erlauben, ihr vorangehen zu wollen, und mit würdigem, stolzem Schritte folgt die übrige Aristokratie, die stärksten Häupter der Heerde, ein Jedes in seiner Rangordnung nach. Gelangt durch Kauf eine neue Bürgerin in diesen aristokratischen Staat, so muß sie erbarmungslos der Reihe nach mit allen ihren neuen Genossinnen kämpfen, damit ihre zukünftige Stellung entsprechend bestimmt werden kann. Da setzt es denn nicht selten stundenlange, gefährliche Kämpfe ab, bei denen noch von Glück zu sagen ist, wenn es mit Verlust eines Hornes abläuft und nicht gar eine der erbitterten Kämpferinnen die andere über den Rand des Abgrundes hinausstößt. Wird die bisherige Heerkuh in solchem Kampfe überwunden, so wird sie von tiefer Traurigkeit befallen und nicht selten krank.

Der Ochse wird gar oft zum Sinnbild der Dummheit gewählt, und allerdings dürfte die Behauptung, daß er zu den höheren Intelligenzen, zu den tiefern Denkern im Thierstande gehöre, eine etwas gewagte sein. Trotz alledem ist aber nicht zu leugnen, daß er in Bezug auf Galanterie eine recht mittelalterlich ritterliche Gesinnung hegt und selbst in seinem höchsten Grimme sich nie verleiten läßt, diesem Princip untreu zu werden. Um so erbitterter, ingrimmiger aber führt er den Kampf gegen Seinesgleichen. Einer der merkwürdigsten Kämpfe dieser Art fand im Jahre 1847 auf einer Grenzalp zwischen den Kantonen Freiburg und Waadt statt. Es war dieses in der Zeit, wo Schweizer gegen Schweizer sich zum blutigen Streite rüsteten, kurz vor dem Ausbruche des Sonderbundskrieges. Die Freiburger waren bekanntlich der Partei des Sonderbundes zugethan, während die Waadtländer zu den eifrigsten Gegnern desselben zählten. Eines Tages nun geriethen auf der Grenzalpe die beiden gehörnten Fürsten der freiburgischen und der waadtländischen Heerde unweit einer jäh abstürzenden Felswand an einander. Zuerst begrüßte man sich mit dem obligaten, weithin dröhnenden, fast wie ein rauhes Trutzlied klingenden Brummen, dann wurde mittelst der Hörner der Erdboden aufgewühlt, daß Schollen und Steine weit umherflogen, und dann erst stießen die beiden grimmigen Kämpfer auf einander, daß der Boden unter ihren festgewurzelten Hufen erbebte.

Mit athemlosen Bangen schauten die Sennen und ihr Hausgesinde dem Kampfspiele zu. Kämpfer und Zuschauer waren in zwei fast gleich eifrige Parteien getheilt; unwillkürlich bemächtigte sich der Menschen die Idee, in den kämpfenden Bullen einerseits den Repräsentanten des Sonderbundes und anderseits denjenigen der pflichtgetreuen Kantone zu erblicken. Fast eine Stunde lang blieb die Entscheidung ungewiß; mit gesenkten Häuptern, Stirn an Stirn gepreßt, suchte einer den andern rückwärts zu drängen, ohne daß einer von den Beiden auch nur einen Zoll breit Terrain gewonnen hätte. Allmählich gerieth der Waadtländer doch einigermaßen durch den Umstand, daß sein Gegner mit dem Rücken gegen den Rand der Felswand zu stehen kam, in Vortheil, aber immer noch wehrte sich der Freiburger wie verzweifelnd und schien manchmal wieder die Oberhand gewinnen zu wollen. Mit weit vorgequollenen Augen, schnaubend vor Wuth und Angst drängte er in einem letzten Angiff den Gegner wieder von der gefährlichen Stelle zurück, und ein lustiges Jauchzen der Sennen von seiner Partei schien ihn zu tapferem Ausharren ermuthigen zu wollen – da aber sammelte der Waadtländer ebenfalls seine letzte Kraft zu einem wuchtigen Offensivstoße, ein dröhnendes, keuchendes Brummen, eine letzte Anstrengung, daß die gewaltigen Sehnen fast zu reißen schienen, und Zoll für Zoll verlor der Freiburger wieder an Boden; schon bohrten sich seine Hinterhufe in den kantigen Rand des Abgrunds ein – vergeblich! der letzte, wüthende Stoß des Gegners schleuderte ihn rettungslos in die gähnende Tiefe, auf deren steinigem Grunde er nun mit zerschmetterten Gliedern wieder hervorgeschleppt wurde. Ein Triumphgebrüll ausstoßend, das fast die Zuschauer erbeben machte, wühlte der Sieger noch eine Weile den Boden mit den Hörnern auf, auf dem der besiegte Gegner gestanden hatte, und ging dann gemessenen, stolzen Schrittes, begleitet von dem Beifallsgeschrei der eidgenössischen Partei, wieder zu seiner Heerde zurück. Die Freiburger aber sollen wirklich in der schmählichen Niederlage ihres Kämpen ein übles Omen für den Ausgang des Sonderbundskrieges erblickt haben.

Im Allgemeinen ist dem Bullen auf der Alm nicht zu trauen, ein geringfügiger Umstand, ein rothes Kleidungsstück, die können ihn zum erbitterten Angriffe auf den Menschen verleiten, und da ist dann schleuniger Rückzug hinter einen schützenden Felsblock oder eine Einzäunung fast das einzige Rettungsmittel denn gelingt es dem Ochsen, den Gegenstand seines Zornes zu erreichen, so bearbeitet er ihn so lange mit Hörnern und Hufen, bis er kein Leben in ihm mehr zu bemerken glaubt. Selbst die Inhaber solcher Thiere, die kräftigen Sennen, werden nicht selten das Opfer solcher Wuthausbrüche, denn der Stier giebt in seinem Angriffe nicht leicht nach und läßt sich lieber in Stücke hauen, als daß er nachgäbe. Dennoch giebt es auch Sennen, die sich furchtlos einem solchen Angriffe entgegenstellen, mit flinkem Griffe das tolle Thier mit der einen Hand bei einem Horne packen, mit der andern ihm in den Mund fahren, die Zunge herumdrehen und dann mit herkulischer Kraft das Thier auf die Erde schleudern. Ein einmal so gebändigtes Thier pflegt sich dann später fast nie wieder an einen Menschen zu wagen. –

Auf den hohen Alpen ist also der Stier meist ein äußerst wilder und gefährlicher Bursche. Gedrungenen markigen Körperbaus, mit dickem Kopf und krausem Stirnhaar steht er trotzig am Alpenpfade, alles Fremdartige mit finstern, jähzornigen Blicken anstarrend, bis er, wenn durch eine Kleinigkeit gereizt, mit tiefgesenktem Kopfe und aufgeworfenem Schweife in toller Wuth und Hast auf das losrennt, was sein Mißfallen erregt hat. Stundenlang ist er dabei im Stande, den Ort zu bewachen, wo er den Feind vermuthet.

Wagt einmal zufällig Meister Braun oder der Wolf einen Angriff auf eine Alpen-Viehherde, dann zeigt sich erst recht die höhere Intelligenz und der Muth der an sich sonst sanften Thiere. Schleicht sich der Bär heran, so wittern sie schon von Weitem die Gefahr, eilen unter heftigem Brüllen dem Stalle zu oder rasseln, wenn sie angebunden sind, so laut mit ihren Ketten und Schellen, bis sie die Sennen auf den Feind aufmerksam gemacht haben. Die Raubthiere pflegen die Kühe von hinten anzugreifen, da diese im Nothfalle auch ihre Hörner recht gut zu gebrauchen wissen. Ist es dem schleichenden Mörder aber dennoch gelungen, ein Opfer zu erreichen und zu zerfleischen, so sammelt sich die ganze Heerde, wie unser Bild zeigt, rund um den Räuber und schaut mit gesenktem Kopfe schnaubend und brüllend dem Fraße zu, doch wagt sie selten den Angriff auf den schmausenden Bären, der aber auch seinerseits dem Landfrieden nur wenig trauen und sich mit seinem Frühstück sehr beeilen soll.

Dieser ruhige Muth, dieses besonnene Wesen pflegen die Alpenheerden nur bei zwei Anlässen total zu verlassen. Der erste dieser Anlässe ist das Hochgewitter bei Nacht, das den Sennen fast immer, wenn nicht gerade schwere Verluste, doch wenigstens Stunden tüchtigen Schrecks zu bereiten pflegt. Denn sobald die Blitze, das Auge blendend, aus der nächsten, hoch über der Hütte schwebenden Wetterwolke zucken, vom Donnerschlage die Grundfesten der gewaltigen Eiskolosse erbeben und lärmend der Regen auf die erschrockenen Thiere herabgießt oder der Hagel in schweren Körnern auf die durchnäßten Rücken niederprasselt, da hört plötzlich alle Ordnung auf, die vollständigste Anarchie ist eingebrochen. Den Schwanz ringelnd in die Luft erhoben, mit gesenktem Kopfe rennt Alles wie toll in die finstere Nacht hinaus, meist der Richtung des Sturmwindes folgend. Geweckt und die Gefahr ahnend, stürzen die Sennen sich halbangekeidet aus der Hütte und eilen, die Milchgapsen als Regendach über den Kopf gestürzt, schreiend und lockend, mitunter auch in allen Tonarten fluchend, den tollgewordenen Thieren nach, die aber nichts mehr hören und sehen und immer geradeaus rennen, bis vielleicht ein paar der schönsten von Allen im rasenden Laufe in den nahen Abgrund gestürzt sind. Gelingt

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 374. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_374.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)