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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

„Ja, damit ist Alles vorbei, Fritz, bis auf das Elend, in das Du uns Beide gebracht hast!“ erwiderte sie, sich langsam zurückwendend, und die Worte klangen wie mühsam einem innern Drucke abgewonnen. „Warum konntest Du gehen, ohne ein Wort des Abschieds von mir, das wohl die Lippen gelöst hätte? Jetzt will ich es aussprechen, da doch nichts mehr zu ändern ist: ich habe damals geweint drei Nächte lang über meine betrogenen Erwartungen und habe doch immer noch gehofft, daß mir Jemand ein Wort von Dir bringen sollte, bis ich auch diese letzte Hoffnung begraben mußte. Und als nun der Amtsrath mit seiner Werbung um mich kam, als mir Vater und Mutter zusprachen, da galt es mir ziemlich gleich, was mit mir geschah; als ein Trost aber erschien es mir, daß der Mann, dem ich gehören sollte, schon in die Jahre war und nicht mehr von mir fordern konnte, als ich zu geben vermochte. Ich habe in seinem Hause freilich nicht einmal die Ruhe gefunden, an die ich geglaubt, und als Du zurückkehrtest, meinte ich zuerst, das Herz müsse mir brechen. Was ist denn Alles das aber gegen die Zeit, die nun kommen wird, von der mir jeder Tag und jede Stunde sagen muß, daß ich selbst meinem Glücke aus dem Wege gegangen; wo das ganze Elend erst über mich kommen wird, da ich weiß, daß Alles hätte anders sein können? – Ja, geh’, Fritz, geh’!“ rief sie in hervorbrechendem Schmerze, die Hand abweisend gegen ihn ausstreckend, „und möge Gott uns Beiden gnädig sein!“

In seinem Gesichte aber war bei ihrer Rede das Blut gekommen und gegangen, sein Kopf hatte sich gehoben und in seine Augen war ein neues, eigenthümliches Leben getreten. „Halt, um Gotteswillen, Anna!“ rief er, wie in aufwallender Erregung nach ihrer Hand fassend, „so darf ich jetzt nicht gehen!“ Einen Augenblick schien sie sich freimachen zu wollen, aber als fürchte er, daß sie ihm entschlüpfen möge, hatte er sie kräftig an sich angezogen, und in ausbrechendem Weinen, wie von aller Kraft verlassen, fiel sie in seine Arme.

„Muth, meine Anna, Muth!“ rief er, sie fest an sich schließend, „hier muß sich noch ein Rettungsweg für uns finden lassen!“ Kaum aber mochte sie der überwältigenden Aufregung Herrin geworden und zum Bewußtsein ihrer Lage gekommen sein, als sie sich leise seiner Umschlingung entwand, dann aber seine Hand faßte und mit dem Ausdrucke unsäglicher Traurigkeit in seine Augen blickte.

„Geh, Fritz, geh – es ist Alles zu spät,“ sagte sie, „und so laß uns ferner einander aus dem Wege bleiben!“

Von außen klang in diesem Augenblicke der Hufschlag eines Pferdes, und sie fuhr erschrocken auf, faßte nach ihrem auf dem Seitentische liegenden Taschentuche und drückte es gegen die nassen Augen. Er aber trat nach einem kurzen Blicke durch das Fenster ihr rasch nach. „Es ist nur der Doctor!“ sagte er hastig; „laß mich nicht so von Dir gehen, Anna! Nur der Tod scheidet hoffnungslos – soll denn ein Mißverständniß mit dem lebenslangen Elende zweier Menschen bestraft werden? Nur eine ungestörte Stunde zum ruhigen Aussprechen, und es kann noch Vieles gut werden – heute Abend, wenn Alles schläft, will ich hinten im Obstgarten sein und Dich erwarten –“

Er erhielt keine Antwort, denn eine dicke, lachende Stimme ward vor der Zimmerthüre laut: „Stillgehalten! brennender Kopf – scheues Auge – allgemeine Unruhe! Schlimme Zeichen, die einen schleunigen Aderlaß erfordern –!“ Der leise Schrei einer weiblichen Stimme ließ sich hören, und von dem frühern behaglichen Lachen begleitet, öffnete sich die Thür, um eine kurze, untersetzte Figur, mit Hut und Reitgerte in der Hand, ein joviales, wohlgenährtes Gesicht unter einem Busche eisgrauer Haare zeigend, einzulassen. Einen kurzen Moment nur flogen die hellen, scharfen Augen beim Erblicken der beiden Anwesenden über die erregten Gesichter derselben, während sich eine leichte Falte zwischen den grauen Augenbrauen bildete; dann schwenkte er in kurzem Gruße die Hand gegen den jungen Mann und wandte sich nach der Hausherrin.

„Ihre Christine, Frau Amtsräthin, scheint eine heimliche Last auf dem Herzen zu haben,“ sagte er launig, „sie stand dicht an der Thür, als wage sie nicht einzutreten, und wollte bei meinem Erscheinen mit kirschrothem Gesichte davon –“

„O, sie hat gehorcht?!“ entfuhr es der Angeredeten wie in einem plötzlichen Schrecken; aber schon im nächsten Augenblicke trieb ihr die Erkenntniß ihrer Uebereilung das Blut in die Wangen.

„Gehorcht!“ lachte der Eingetretene, Hut und Gerte bei Seite legend, ohne die sichtliche Bewegung der jungen Frau zu beachten, „müßte doch in einem Hause wie das Ihre ein langweiliges Geschäft sein! – Das also ist Herr Fritz Rothe?“ wandte er sich dann an den jungen Mann, „der schon seit acht Tagen wieder in seiner Eltern Hause ist, ohne nur einmal nach seinem besten Freunde, dem Doctor, gesehen zu haben. Hat man sich vor einem guten Rathe des Alten gescheut, wie vor Zeiten als Junge, wenn man auf irgend einen Streich aus war?“

Es war ein eigenthümlicher Ton von halbem Ernst in den Worten, welcher durch den hörbaren Humor derselben klang; als aber der junge Mann, merkbar eine leichte Verlegenheit unterdrückend, ihm mit einem: „Es ist wahrscheinlich bis jetzt ohne meine Schuld geschehen, Doctor!“ die Hand reichte, fiel dieser mit kräftigem Handschlage wieder in sein früheres Lachen.

„Ob er nicht wirklich thut, als ob so ein Alter auch noch einen Anspruch haben könnte!“ – dann indessen wandte er sich, sein Gesicht langsam in ernstere Falten ziehend, wieder nach der jungen Frau. „Wie steht es mit unserem Amtsrathe – noch viel Beschwerden?“

„Er ist seit Mittag aus dem Hause und schien völlig munter!“ erwiderte die Angeredete, ohne noch ganz eine leichte Befangenheit, in welche sie das Wesen des Arztes versetzt zu haben schien, von sich streifen zu können.

„Aus dem Hause – völlig munter,“ nickte der Alte, „freut mich um Ihretwillen, Frau Amtsräthin; es ist ein langweiliges Geschäft für eine junge Frau, Krankenwärterin zu sein. Indessen giebt es doch etwas, das über allen Freuden und Lockungen dieser Welt steht und selbst eine junge Frau für alle Entbehrungen zu entschuldigen vermag, etwas, ohne welches auch so ein armer Landarzt, wie ich, gar nicht bestehen könnte und von dessen wunderbarem Segen ich aus eigener Erfahrung zu erzählen weiß – das ist das Bewußtsein getreuer Pflichterfüllung. Man muß nur den ersten Kampf mit den süßen Versuchungen rechts oder links, die einen Menschen vom richtigen Wege ablenken möchten, siegreich bestanden haben, um eine Genugthuung kennen zu lernen, von der so Viele, die nur immer dem nachgehen, was ihnen gut schmeckt, niemals eine Vorstellung bekommen – o, das ist dem jungen Menschen hier langweilig!“ unterbrach er plötzlich lachend seinen bis dahin ernsten, fast weich gewordenen Ton, als Rothe nach seiner bei Seite liegenden Kopfbedeckung griff, „glaub’s gern, es ist eben nicht Jedermanns Geschmack und wird oft erst unter Schmerzen gelernt; darum wollen wir die Sache auch fallen lassen, und wenn Herr Rothe heimreitet, machen wir unsern Weg zusammen!“ Es war, neben dem lustigen Ausdruck in des Sprechers Gesicht, ein so bedeutungsvoller Blick, welcher den Angeredeten traf, daß dieser, trotz einer bereits begonnenen ablehnenden Bewegung, nicht den Muth zu haben schien, die ausgesprochene Voraussetzung des Alten zu verneinen; nur ein rasches Ergreifen von Annans Hand und ein leises dringendes: „Heute Abend nach elf!“ wagte er, als der Doctor fast wie absichtlich Beiden den Rücken drehte und nach Hut und Gerte griff; vergebens aber suchte der junge Mann nach einem antwortenden Ausdrucke in dem Auge der jungen Frau; ein scheuer Blick nach dem Alten war Alles, worauf er traf, und zugleich fühlte er in fast ängstlicher Hast ihre Finger seiner Hand entschlüpfen. Des Doctors launiges: „Los denn, daß ein alter Freund auch einmal eine Viertelstunde von Ihnen hat!“ schnitt jeden weiteren Versuch zu einer bestimmten Verständigung mit ihr ab, und nothgedrungen folgte er, nur noch einen einzigen bittenden Blick in Anna’s Augen senkend, dem Alten nach dem mit Kies bestreuten Vorplatz des Hauses, wo neben dem Pferde des Letztangekommenen das seinige angebunden stand. Wie in bitterem Unmuthe schwang er sich auf sein Thier, während der Doctor bedächtig sich in dem Bügel erhob und von der zögernd nachtretenden Hausfrau sich mit einem lachenden: „Lassen Sie mir die Christine nicht außer Acht, Frauchen, sie hat Neigung zu einer ganz gefährlichen Krankheit!“ verabschiedete, und in der nächsten Minute hatten Beide durch das offene Gitterthor die Landstraße erreicht, welche in der einen Richtung sich nach dem im Grunde liegenden Dorfe hinabzog, in der andern, welche die Reiter einschlugen, sich durch die Felder nach dem Walde hinüber schlängelte.

Beide verfolgten schweigend neben einander den Weg. Der Doctor ließ die klaren, scharfen Augen ringsum über die Gegend schweifen, während seine beweglichen Züge jedem seiner Gedanken, wie er aufstieg und wieder ging, Ausdruck zu geben schienen –

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 370. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_370.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)