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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

schon nach dem zweiten Act erhob und mit ihrem Gefolge das Theater verließ! Am nächsten Tage erhielt der Director eine angemessene Summe und den Rath, Muskau so schleunig als möglich zu verlassen, den er auch so pünktlich erfüllte, daß er seine Gläubiger zu bezahlen vergaß.

Endlich gelang es dem vagabundirenden Künstler, ein Engagement bei einer festen Bühne und zwar beim Theater in Lübeck zu finden, aber auch hier war seines Bleibens nicht lange, weil nur im Winter gespielt wurde und im Sommer die Gesellschaft auseinander stiebte. Wieder mußte Dessoir zum Wanderstabe greifen und von Stadt zu Stadt pilgern, um ein Unterkommen zu suchen. So gelangte er auf dem Wege nach Wiesbaden in das Städtchen Höchst, wo er müde vom Wege im Wirthshause ausruhte und sich mit einem Schoppen sauren Aepfelweins stärkte.

Als er darauf zum Thor hinaus mit dem Ränzchen auf dem Rücken wieder weiter zog, begegnete er auf der Landstraße einem Herrn in eleganter Kleidung, der ihm wunderbar bekannt vorkam. Unwillkürlich sah er ihn an, und auch der Fremde, vielleicht von einem ähnlichen Gefühl ergriffen, blickte ihm forschend in’s Gesicht. Ohne zu grüßen, eilte Dessoir an ihm vorüber, aber wie gezwungen drehte er sich noch einmal um und wieder begegnete er den nachstarrenden Blicken des Unbekannten, die eine magnetische Gewalt auf ihn auszuüben schienen. Noch einmal, wo der Weg sich theilte, wendeten sich Beide gleichzeitig nach einander um, dann schritten sie jeder seiner Straße. Erst nachdem der Fremde aus seinen Augen geschwunden war, machte sich Dessoir Vorwürfe, daß er ihn nicht angeredet, da er in ihm seinen älteren Bender, den er seit seiner Kindheit nicht mehr gesehen, erkannt zu haben glaubte. Dieser Bruder war ebenfalls Schauspieler, aber damals bereits ein berühmter und durch seine Genialität ausgezeichneter Künstler am Hoftheater zu Braunschweig. Als Dessoir nach Wiesbaden kam und bei dem dortigen Director Haake sich wegen eines Engagements meldete, erfuhr er, daß sein Bruder daselbst in einigen Gastrollen aufgetreten sei und augenblicklich als Gast bei einem adligen Gutsbesitzer, Baron Schweitzer, in der Nähe verweile. So sehr er sich aber auch sehnte, den Bruder an sein Herz zu drücken, so wollte er sich ihm in seinen jetzigen traurigen Verhältnissen und abgerissenen Kleidern nicht präsentiren, am wenigsten aber ihn bei seinen vornehmen Bekannten aufsuchen. Erst als der Director Haake nach wiederholter Weigerung ihm ein Engagement mit einem monatlichen Gehalt von 36 Gulden, eine für ihn bis dahin unerhörte Summe, anbot, entschloß sich Dessoir, seinem Bruder zu schreiben und ihn zu seinem Debut in Wiesbaden einzuladen.

An dem Abend, wo er den „Brausen“ in den „humoristischen Studien“ gab, meldete ihm der Theaterdiener kurz vor der Vorstellung die Ankunft eines fremden Herrn, der ihn zu sprechen wünschte. Obgleich er wußte, daß es sein Bruder war, ließ er ihn bitten bis nach der Vorstellung zu warten, da er die allzugroße Erschütterung für sein entscheidendes erstes Auftreten mit Recht fürchtete. Nachdem er glücklich und nicht ohne Beifall seine Rolle, mehr das Urtheil des ebenfalls gegenwärtigen Bruders und berühmten Künstlers als des Publicums fürchtend, zu Ende gespielt hatte, verließ er mit klopfendem Herzen die Bühne. Draußen an der Treppe erwartete ihn ein hoher, schöner Mann, der ihn lautlos umarmte, während die heißen Thränen über seine Wangen rollten. Auch Dessoir weinte, und so hielten sich die Brüder nach langer Trennung fest umschlungen, zu ergriffen, um ein Wort zu sprechen.

Endlich führte der ältere Bruder den jüngeren mit sich fort in ein nahegelegenes Weinhaus. Was hatten sich Beide nicht Alles zu erzählen von ihrer Vergangenheit, von der Heimath und von ihrem Künstlerleben! Dessoir war besonders darauf gespannt, das Urtheil seines Bruders über seine heutige Leistung zu erfahren. Dieser lobte sein Spiel, setzte jedoch hinzu: „aber Du hast bei dieser Scene zu viel gelacht.“ Wieder verging einige Zeit, und sie sprachen von ganz anderen Dingen, als der ältere Bruder von Neuem rief: „aber Du hast zu viel gelacht.“ Nach einer Weile wiederholte er dieselben Worte immer stärker, immer heftiger, wohl mehr als funfzig Mal, sodaß jener sich eines unheimlichen Gefühls nicht zu erwehren vermochte. Schon früher hatte er ein dumpfes Gerücht gehört, daß der geniale Künstler an periodischem Wahnsinn leide und deshalb das Hoftheater in Braunschweig verlassen habe. Er konnte nicht mehr an der Wahrheit zweifeln, sein hochbegabter Bruder, den er erst wiedergefunden – war wahnsinnig.

Dessoir blieb in seinem Engagement und folgte seinem Director nach Mainz, wo er bald ein Liebling des Publicums wurde, während sein unglücklicher Bruder sich von ihm trennte, in Deutschland herumirrte und bis nach Laibach an die äußerste Grenze ging, überall mit Beifall gastirend, aber wegen seiner Krankheit kein festes Unterkommen findend. Nach längerer Wanderung kehrte er endlich verarmt nach Mainz zurück, wo er ein Asyl bei dem jüngeren Bruder suchte und auch fand. Dieser spielte damals mit großem Beifall den „Fahnenjunker Schrankenau“ in dem bekannten Drama „die Soldaten“ von Arresto. Nach der Vorstellung ging der Unglückliche, dessen Lob Dessoir verdient zu haben glaubte, schweigend neben ihm her, ohne sich über seine Leistung zu äußern, bis jener ihn dringend um seine Meinung fragte. „Du bist ein Komödiant geworden,“ sagte der wahnsinnige Künstler, „ein bloßer Komödiant, ohne Wahrheit und Natur, die Du als Anfänger noch besessen hast.“ Und nun entwickelte er ihm mit schneidender Kritik die Mängel seines Spiels, so daß Dessoir gestehen mußte, daß sein Bruder Recht habe. Derselbe wurde von nun an in seinen klaren Stunden der Lehrer Dessoir’s, der ihm einen großen Theil seiner Bildung und seines nachherigen Künstlerruhms zu verdanken hatte. Auf Dessoir’s Verwendung gestattete der Director Haake dem Unglücklichen, auf dem Theater in Mainz aufzutreten; er gab den „Lear“ und zwar mit so großartigem Erfolge, daß der Herzog von Nassau ihn in derselben Vorstellung in Wiesbaden zu sehen wünschte. Dies geschah auch, aber schon im zweiten Acte überfiel den armen Künstler sein altes Leiden; der Wahnsinn Lear’s war nicht mehr vollendete Kunst, sondern grauenvolle Wahrheit und Natur, so daß der Vorhang plötzlich fallen mußte und die Vorstellung nicht zu Ende gegeben werden konnte.

Traurige Tage und furchtbare Nächte verlebte jetzt Dessoir mit seinem Bruder, der fortwährend mit Selbstmordgedanken umging und den er keinen Augenblick unbewacht lassen durfte. Eines Tages stürzte der Wahnsinnige sich auf einen österreichischen Officier, der in Begleitung eines großen Hundes, welcher sein Mißfallen erregt hatte, über die Mainzer Brücke ging. Der so plötzlich angegriffene Militär griff nach seinem Degen, um den Beleidiger seiner Ehre zu durchbohren. Nur durch Zeichen war es Dessoir möglich, den Officier zu belehren, daß er es mit einem Wahnsinnigen zu thun habe, und so den Unglücklichen vor dem sicheren Tode zu retten. Später, als Dessoir ein Engagement in Leipzig bei dem bekannten Director Ringelhardt angenommen hatte, führte sein genialer Bruder seinen längst gehegten Vorsatz aus, indem er sich im Wahnsinn unter den seltsamsten Umständen selbst das Leben nahm.

In Leipzig gefiel Dessoir dem Publicum mit jedem Tage mehr und mehr, indem er die größten Fortschritte machte, wie die höchst anerkennenden Kritiken Heinrich Laube’s, der damals die Zeitschrift „Europa“ daselbst redigirte, hinlänglich bekundeten. Trotzdem gab er schon nach kurzer Zeit seine angenehme Stellung auf, um der höchst talentvollen und reizenden Liebhaberin Fräulein Reimann zu folgen, welche bald seine Gattin wurde. Das junge Ehepaar fand in Breslau ein vortheilhaftes Engagement und wurde in kurzer Zeit der Liebling des dortigen Publicums. Beide wurden allgemein geachtet und geliebt, verehrt und auf den Händen getragen. Leider sollte dies Glück nur von kurzer Dauer sein, die aus Liebe geschlossene Ehe wurde durch häusliche Zwistigkeiten vielfach gestört und endlich getrennt. Unter diesen Umständen konnte und wollte Dessoir nicht länger in Breslau bleiben, aber die Theilnahme für ihn war im Publicum so groß, daß sein letztes Auftreten auf der dortigen Bühne zu einer in der Geschichte des Theaters nie erlebten Scene die Veranlassung wurde. Am Schlusse erhob sich ein nie erhörter Sturm, den der Künstler nur durch einige passende Worte und durch das Versprechen seiner baldigen Wiederkehr zu beschwichtigen vermochte.

Von Neuem begann der indeß zum wahren Künstler herangereifte Mann ein herumschweifendes Wanderleben, doppelt beschwerlich nach solchen Vorgängen. Zunächst wandte er sich nach Berlin, wo ihm die Aussicht zu einem Gastspiele an der Hofbühne eröffnet worden war. Aber ein eigener Unstern vereitelte seine Pläne; auch in Prag, wo er einige Mal mit Beifall auftrat, mußte er dem bekannten Affenspieler Klischnig weichen, für den der auf seine Casse bedachte Director Stöger und das Publicum schwärmten. Nicht glücklicher war er in Wien, wo er auf Empfehlung von Laroche und Peche auf dem Hofburgtheater unter der Direction des Dichters Deinhardstein gastirte. Er hatte den „Ferdinand“ in Schiller’s „Kabale und Liebe“ gewählt, eine seiner besten Rollen,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 343. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_343.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)