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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

ich dann die scheidende Sonne, wenn sie, wie ein glühender Ball in der purpurgefärbten Atmosphäre schwimmend, tiefer und tiefer dem Horizont zuneigte, bis sie scheinbar in das lichtübergossene Waldmeer, das sich vor meinen Blicken ausbreitete, hinabsank! Oder es stiegen vorher noch am Saume der Gebirgslinien phantastisch geformte Wolkenmassen, die dem Herbste ja so eigen sind, empor, welche die sich dahinter bergende Sonne mit goldenen Säumen schmückte, während die in höheren Regionen hinziehenden Luftgebilde von ihr mit rosigem Schimmer übergossen wurden. War aber mit dem Heimgange der Lichtspenderin auch an dem dahineilenden Gewölk der erborgte Glanz verblichen und es zog leise die Dämmerung herauf, dann stellten die weißen Nebel sich ein, die den Tiefen entstiegen und den alten Tannen die dunkeln Häupter umwallten. Tiefe Ruhe begleitete solche Momente, in denen dann selbst die letzten leisen Stimmen der Vogelwelt verstummten, und nur des Baches Rauschen aus der Thaltiefe traf das gespannte Ohr und trug hauptsächlich dazu bei, die heilige Stille des Waldes dem Menschen so recht vollbewußt werden zu lassen. Mit welcher Aufregung lauschte man aber dann, wenn dieselbe plötzlich noch einmal durch den rauschenden Flügelschlag eines Auerhahnes, der seinen Stand in dem Wipfel einer Fichte wählte, unterbrochen wurde! Schwer, als müsse der Gewaltige das Geäst seines nächtlichen Ruhesitzes herabbrechen, trat der urige Vogel auf, daß es weit hin den schweigsamen Forst durchhallte. Dann wurde es todtenstill – nicht ein Lufthauch rührte an solchen Abenden das dichte Gezweig der Tannen und Fichten, während die Finsterniß mit dunkeln Fittigen mehr und mehr den einsamen Wald umspannte. Diese trieb mich dann – erwartete ich keinen Mondschein – entweder nach Hause oder, was oft geschah, in die Baracke einer nahegelegenen Kohlenstatt, um in diesem Asyl zu übernachten und frühzeitig wieder auf dem Platze sein zu können. Manch’ heimliche Stunde hörte ich hier dem „Meilerfried“, so nannte man den Köhler, zu, wenn er mir die Begegnisse seines Waldlebens erzählte, wobei er besonders lebhaft wurde, kam er dabei auf die Vogelwelt zu sprechen; denn er war nicht nur leidenschaftlicher Liebhaber der kleinen gefiederten Sänger, sondern auch der eifrigste Fänger derselben, was mir alle Jäger der Umgegend bezeugten, ihm aber dafür nicht eben „grün“ waren. Hierbei will ich nicht unterlassen, wenigstens eine Geschichte aus dessen Leben wiederzugeben, die ihn so recht als „Vogel-Tobias“ charakterisirt.

Es war an einem jener Abende, wo düstere Wolken den Mond derart verhüllten, daß längeres Ausharren auf meinem Anstandsposten Thorheit gewesen wäre, als ich spät noch in Meilerfriedens Hütte trat. Ich glaubte ihn bereits schlafend auf seinem ärmlichen Lager zu finden, aber noch war er wach, und zwar saß er beim trüben Schein eines Lämpchens und erbaute sich aus einem alten Gebetbuche. Als Buchzeichen aber diente ihm, wie ich beim Herantreten sah, die Schwanzfeder eines Vögelchens, und an diese knüpfte er, als ich lächelnd und darüber scherzend dieses originelle Merkmal betrachtete, folgende Geschichte.

„Das war ein Fink’, von dem das Federchen ist – ein Fink’, für den ich’s Leben gelassen hätt’! Und bald war ich auch um seinetwillen darum gekommen,“ fügte er hinzu. Nachdem er das Buch, in das er sein theures Erinnerungszeichen sorgfältig barg, zugeklappt hatte, fuhr er fort: „’s war als mein selige Frau noch lebte, aber schon krank war und ich mit meiner Familie noch droben im Dorfe wohnte, daß ich an einem Gründonnerstage mit meinem ältesten Buben, der den vorhergegangenen Palmsonntag confirmirt worden war, nach dem nächsten Kirchdorf, das zwei Stunden von meinem Heimathorte liegt, zum heiligen Abendmahl gehen wollte. Da’s gar so schön und sonnig an jenem Tage war, so schlugen wir mitsammen einen Seitenpfad, der durch den Busch führte, ein; denn obgleich er nicht gerade der nächste war, so führte er doch auch nicht eben gar viel um, und man hörte doch dabei jedenfalls ein Bissel Vogelgesang; denn’s Wetter war, wie schon gesagt, so gar prächtig, daß es der liebe Gott nicht schöner machen konnt’, weshalb das liebe Viehzeug auch wirklich vor lauter Lust ganz des Teufels war. Da stieg wirbelnd die Baumlerch’ quer auf in die Luft und trillerte dazu wie auf einer Flöt’, bis sie wieder niederstieg und auf den Wipfel einer dürren Tanne auffiel, dabei ihr zia, zia, zia! lockend, während die Zippen ihr „David“ pfiffen. Es war eine Lust, und die Seel’ im Leibe lachte vor Freude mit über all das Gesing’ und Gepfeif’. Aber auf einmal höre ich ein Stück im Holze d’rin einen Reitzugfinken[1] schlagen – so glockenrein wie pures Silber. Himmelskreuzschnabel! wie fuhr mir das in die Glieder! Ich dachte gleich der Kuckuck sollte mich holen! Aber bald kam ich wieder zu Sinnen.

Höre Jung’, sagt ich zu meinem Fürchtegott, den Finken müssen wir haben! Du hast’n kleines Stündel daheim; lauf was Du kannst und bring mir meinen Lockfinken zur Stell und auch den Leim, denn da hilft kein Bedenken, soll uns der Reitzug nicht in die Fichten gehen. Ich bleibe hier und lasse, bis Du wiederkömmst, den Burschen nicht aus dem Aug’, weshalb Du nur, kehrst Du zurück und siehst mich nicht gleich, zu pfeifen brauchst; denn weit weg – will’s Gott! – bin ich nicht. Mein Jung’ der war nicht faul – im Trabe lief er heim, und keine anderthalb Stunden dauerte es, da war er wieder zur Stell’. Freud und Angst hatten mich derweil bald umgebracht, denn so’n Schlag, wie der Vogel im Leibe hatte, war mir noch gar nicht vorgekommen, und daher fürchtete ich jeden Augenblick, daß ein zweiter Hahn kommen könne und mir meinen Herzensfink fortstreiten möcht’. Doch er hielt ungestört aus, so daß, als mein Bube zurückkam, er seinen Stand noch um keine hundert Schritt geändert hatte. Geschwind waren nun die Leimruthen geschmiert und meinem Hauptlocker kreuzweis auf den Rücken geheftet. Herr mein Gott! nun hätten Sie ausschauen sollen, wie ich den Laufer[2] auf den Boden gesetzt hatte und der sein helles Pink, Pink! erhob. Wie eine Sternschnuppe kam auf diesen Ruf der Standfink’, das herrliche Beest, von seiner Buche, worauf er saß, ’runtergeschossen und auf meinen Locker drauf, daß er schon im nächsten Augenblick fest an ihm hing. Ich natürlich wie eine Katz’ drauf hin – da kommt der Teufelskerl los von dem Leim und flattert, weil noch die Ruthe an ihm haften geblieben, tief über den Haideboden hin einem jähen Hange zu.

In toller Hetze rennen wir, ich und mein Jung’, hinter dem Ausreißer her, und eben will ich ihn greifen, da huscht er mir unter der Hand wieder fort und über die Berglehne ’nunter. In der Hast fahre ich nach und komme dabei auf Geröll, das unter mir weicht, daß ich wie im Fluge eine Streck’ abwärts kollere, ehe ich mich wieder erraffen kann. Endlich gelang mir’s doch, und natürlich war’s mein Erstes, daß ich nach dem Fink’ ausschaut’. Zum Glück hatte ihn der Jung’ mit den Augen verfolgt und sagte mir, er habe den Vogel zuletzt gar nicht weit, ein Stück unterhalb von mir gesehen. Ich kraxe ’nunter, denn gebrochen oder sonst großen Schaden gelitten hatt’ ich nicht, obgleich’s nicht weit vom Halsbrechen gewesen war, suche und o heiliger Teufelsbolzen! – erwische den Schwerenöther richtig wieder. Na, diese Freud’! Als ich meine Beut’ im Schnupftüchel vor’m Entfliegen gesichert hatt’, ging’s den Berg wieder in die Höh’. Bald war ich oben bei meinem zurückgebliebenen Jungen, der unterdessen den Läufer in den Gebauer gethan hatte, und verschnaufte ein wenig. „Vater, wie siehst Du aber aus?!“ rief mich nun mein Fürchtegott an, und in der That verwunderte er sich nicht umsonst, denn mein gott’sbester Sonntagsrock hing voller Streu und Boden und hatte ein großes Loch, daß ich aussah, als läg’ ich in der Mauser. Meinen Hut aber hatte ich schon vor dem Hauptsturz vom Kopfe verloren, und das war gut, denn wäre er den Hang hinuntergepurzelt, so wäre er wahrscheinlich in die unten fließende Grünitzbach gekommen, wie’s mit meinem Beichtbuche geschehen war, das aber der „Schindermüller“ unten am Wehre wieder ’rausgefischt und mir später zurückgebracht hat. Doch was geschehen war, war geschehen, und ich hatte doch den Vogel! Freilich zur heiligen Communion konnten wir nicht mehr gehen, denn da war weder mehr Zeit dazu übrig, noch konnte ich doch in meinem verflixten Habit vor Gott’s Tisch erscheinen.“

Den Finken aber hatte der originelle Vogelfänger, wie er mich versicherte, jahrelang besessen, obgleich er ihn oftmals theuer hätte verkaufen können. „Aber,“ behauptete er, „ich konnt’ mich nicht freiwillig von meinem Staatsschläger trennen, bis er endlich eines Morgens todt im Futterkästel lag. Da hab’ ich mir zum Angedenken noch ein paar Schwanzfedern von ihm ausgerissen und dann das arme Beest im Gürtel unter die Linde begraben.“

  1. Ein Reitzugfink ist ein Finkenhahn, dessen Schlag (Gesang) sich mit der Endigung schließt, die wie „Reitzug“ klingt.
  2. Laufer: Ein Lockvogel, der an einen Faden gefesselt und mit verschnittenen oder gebundenen Flügeln, aber sonst frei auf den Boden gesetzt wird, um durch sein Locken und scheinbare Freiheit Individuen seines Geschlechts herbeizuziehen.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 326. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_326.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)