Seite:Die Gartenlaube (1863) 318.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

so wurde er für friedlos erklärt, dies in der öffentlichen Versammlung laut verkündet, und Jeder konnte ihn ohne Weiteres tödten.

Diese Friedlosigkeit wurde aber nur bei schwereren Verbrechen verhängt, bei geringeren trat, wenn der Verurtheilte die Buße nicht bezahlen konnte, an deren Stelle körperliche Züchtigung.

Ein eigentliches Bußsystem gab es ursprünglich nicht. Das Volksgericht ordnete die Sühnen nach freiem Ermessen an, und nur allmählich bildete sich bei den einzelnen Völkerstämmen durch Gewohnheitsrecht, Volksrecht ein geregeltes Bußsystem aus. Im fünften, sechsten und siebenten Jahrhundert ließen die Könige der einzelnen Völkerschaften diese Gewohnheitsrechte nebst den von ihnen erlassenen Gesetzen aufzeichnen, und so entstanden die lex Salica, lex Saxonum, Thuringorum etc. Alle diese Sammlungen enthielten fast nur Bestimmungen über die Sühnen. Nach dem salischen Volksgesetz mußte z. B. derjenige, der einer ehrbaren Frau wider Willen die Hand drückte, 15 Schillinge Buße zahlen; auf Entführung eines Mädchens standen 60, auf Verführung 120 Schillinge. Brandstiftung wurde mit 62, Raub an begrabenen Todten mit 200 Schillingen bestraft. Diese Bußen konnten aber leicht den Wohlstand, ja die ganze Existenz des Verurtheilten zu Grunde richten, denn in jenen Zeiten galt in der Regel ein Schilling so viel wie eine Kuh.

Die Wahl, ob Fehde erhoben oder die Sache vor das Volksgericht gebracht werden sollte, stand dem Verletzten zu. Der Friedensbrecher konnte nicht durch sofortige Erlegung der Sühne ohne Weiteres die Fehde verhindern.

Die Privatrache durfte übrigens nur bei vorsätzlichen, nicht auch bei fahrlässigen Verbrechen erhoben werden, und nie war sie gestattet im Haus und Hof des Germanen, auf seinem Felde zur Zeit der Bestellung und Ernte, in der Volksversammlung. Auch der schwerste Verbrecher sollte an diesen Orten, die den Deutschen als besonders heilige und „befriedete“ galten, vor der Rache seiner Feinde gesichert sein. In einem nordischen Volksgesetz heißt es z. B.: „Wo ein Mann Haus und Heimath (Wohnung) hat, da hat er Frieden sechzig Faden von seinem Hause.“

Allmählich erwachte in den Deutschen der Gedanke, daß durch ein Verbrechen nicht allein der Friede des Einzelnen und seiner Familie, sondern auch der Friede des gesammten Volkes, die gesammte Rechtsorduung verletzt werde. Darin lag der erste Fortschritt in der Strafrechtspflege. Nach und nach kam nämlich die Gewohnheit auf, daß, wenn der Verletzte vor dem Volksgericht Anklage erhob, der Verurtheilte auch an das Gericht oder den König eine Sühne erlegen mußte. Sie hieß Friedensgeld und, wenn sie an den König bezahlt wurde, Bann.

Ein eigentliches Proceßverfahren konnte natürlich nur stattfinden, wenn von der Fehde abgesehen und vor dem Volksgericht Anklage erhoben worden war, und da das Gericht nur auf Anrufen des Verletzten einschritt, mußte die Form des Strafverfahrens die des Anklageprocesses sein, d. h. wo kein Kläger, da kein Richter. Den Schwerpunkt jeden Criminalprocesses bildet die Frage, wer den Beweis der Schuld oder Nichtschuld zu führen hat, ob das Gericht, der Ankläger oder der Bezichtigte. In dieser Beziehung befolgten nun unsere Vorfahren einen Grundsatz, der mit den obersten Principien unseres heutigen Strafproceßrechts im schroffsten Gegensatz steht. Was würde man heutzutage dazu sagen, wenn ein Strafgericht dem Angeschuldigten auferlegen wollte, seine Unschuld zu beweisen und, wenn er dies nicht vermöchte, ihn ohne seine Ueberführung verurtheilen würde? Dies war aber der Grundsatz des Strafverfahrens aller deutschen Völkerstämme. Gestand der Angeklagte sein Verbrechen, so war der Prozeß kurz. Er hatte „sich selbst gerichtet“ und wurde verurtheilt. Leugnete er aber die That, so war nicht der Ankläger verpflichtet, das Volksgericht von der Schuld des Angeklagten zu überzeugen, sondern dem Letzteren lag es ob, den Beweis seiner Unschuld zu führen.

Dieser Beweis konnte auf dreifache Weise geführt werden. Der Angeklagte konnte nämlich den Ankläger zum Zweikampf herausfordern. Trug er in diesem Streit, der sofort im Volksgericht ausgefochten wurde, den Sieg davon, so wurde er freigesprochen. Durch den Sieg hatte er sich von der Beschuldigung gereinigt, denn die Gottheit würde ihm, so dachten unsere Altvordern, nicht zum Siege verholfen haben, wenn er ein Friedensbrecher gewesen wäre.

Wagte der Angeschuldigte seinen Gegner zum Zweikampf nicht herauszufordern, dann konnte er seine Zuflucht zu dem Eid nehmen. Unter Anrufung der Gottheit mußte er seine Unschnld betheuern, und unterstützten dann seinen Eid noch eine Anzahl „Eideshelfer“, Mitschwörer, so sprach ihn das Gericht ebenfalls frei. Unumstößliche Gewißheit von der Unschuld des Angeklagten brauchten die Mitschwörenden nicht zu haben, es genügte, wenn sie an seine Unschuld glaubten. Sie beteuerten nur, daß nach ihrer Ueberzeugung der Eid des Angeklagten ein reiner und kein Meineid sei. Die Zahl der Eideshelfer richtete sich nach der Schwere des Verbrechens und war bei den verschiedenen Volksstämmen verschieden. So mußten z. B. nach dem salischen Gesetz bei leichteren Vergehen mit dem Angeklagten sechs Eideshelfer schwören, wogegen bei den schwersten deren Zahl bis auf zweiundsiebzig anstieg.

Die Eideshelfer waren aus der Familie des Angeklagten zu nehmen. Dieser unseren heutigen Anschauungen auffällig erscheinende Grundsatz beruhte auf der Idee der Fehde. Denn wie in dieser die Familie zum Beistand verpflichtet war, so auch wenn ein Angehöriger vor dem Volksgericht als Angeklagter stand. Man denke aber nicht, daß die Eideshülfe förmlicher Zwang gewesen wäre. Wer von der Schuld des Angeklagten überzeugt war, mußte seine Eideshülfe verweigern, und unsere Vorfahren fürchteten nicht, daß Jemand aus Liebe zu dem Verwandten einen Meineid schwören werde, weil sie streng auf die Ehre der Familie hielten und ehrlose Mitglieder verachteten. Die Eideshülfe, das beschworene Vertrauen der Verwandten des Angeschuldigten galt als die sicherste Bürgschaft seiner Unschuld, und wer unter seinen Angehörigen diese Hülfe nicht fand, durfte sie bei Fremden in der Regel gar nicht suchen.

Die dritte Form endlich, in welcher der Angeklagte seine Unschuld beweisen konnte, bestand in den Gottesurtheilen, Ordalien. Die Germanen glaubten an eine unmittelbare Einwirkung der Gottheit auf die menschlichen Angelegenheiten. Daher zweifelten sie auch nicht, daß dieselbe durch irgend ein Wunder die Schuld oder Unschuld eines Angeklagten offenbaren werde. Wollte der Beschuldigte also zum Zweikampf nicht herausfordern, konnte aber die erforderliche Anzahl Eideshelfer nicht erlangen, so blieb ihm nur übrig, sich einem Gottesurtheil zu unterwerfen. Der Beklagte mußte z. B. mit bloßen Füßen über glühende Kohlen gehen, oder ein glühendes Stück Eisen mit den Händen einige Schritte weit tragen (die sogenantne Feuerprobe), oder aus einem Kessel siedenden Wassers einen Stein herausnehmen (der sogenannte Kesselfang) u. dergl. m. Bestand er diese Proben ohne eine Verletzung, dann galt er für schuldlos. Mit der Zeit, namentlich seit Verbreitung des Christentums, kamen übrigens auch mindergefährliche Ordalien auf, z. B. die Probe des „geweihten Bissens“. Man legte dem Angeklagten unter Flüchen und Verwünschungen eine Hostie in den Mund; verschluckte er dieselbe ohne Mühe, wurde auch dann nicht von einer schweren Krankheit heimgesucht, so hatte sich Gott für seine Unschuld ausgesprochen.

Von dem Grundsatz, daß der Angeklagte den Beweis seiner Unschuld zu führen habe, gab es in einzelnen Fällen eine Ausnahme. Beging nämlich Jemand vor versammeltem Volke ein Verbrechen und wurde bei oder unmittelbar nach der That, auf „handhafte That“ betroffen, so machte man ihm sofort den Proceß, und er wurde ohne Weiteres verurtheilt.

Ein wesentlicher Fortschritt geschah zur Zeit des fränkischen Reichs. Zwar wagten die Könige nicht, das Fehderecht gänzlich aufzuheben, da es zu sehr im Fleisch und Blut der Germanen wurzelte, allein sie suchten es möglichst zu beschränken. Zunächst untersagten sie die Fehde für gewisse Zeiten, namentlich während religiöser Feste. Ferner gestatteten sie dieselbe nur bei den schweren Verbrechen und räumten sich das Befugniß ein, jeden Verbrecher durch Ertheilung des sogenannten Königsfriedens gegen die ihm drohende Fehde zu schützen. Wen „der König in seinen Frieden genommen“, gegen den mußte alle eigenmächtige Gewalt ruhen, und er konnte nur vor Gericht zur Verantwortung gezogen werden.

Das Proceßverfahren blieb in den ersten Zeiten des fränkischen Reiches dasselbe, nur die Gerichtsverfassung wurde eine andere. Nicht mehr in dem Volksgericht wurde der Proceß geführt, sondern in den Gerichten der „Grafen“, d. h. derjenigen Beamten, welche an die Spitze eines größeren Länderbezirks, „Grafschaft“, gestellt wurden. Diese Gerichte bestanden aus einer Anzahl freier, ansässiger Männer, die ursprünglich für jeden einzelnen Fall aus

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 318. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_318.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)