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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

der City von London, d. h. auf dem Weltmarkte, mitzusprechen haben.

Mit viel größerem Geschick und lohnenderem Erfolge pflegt sich der „Frankfurter Jude“, der seinen Namen für alle süddeutschen, österreichischen und ungarischen Glaubensgenossen hergeben muß, hier zu acclimatisiren. Er besitzt ein erstaunliches Sprachtalent, sowie er denn überhaupt weniger Individualität, als Gattungsbegriff ist und sich fremden Sitten und Vorurtheilen mit wunderbarer Leichtigkeit anbequemt. In Paris spricht er von allen Ausländern das beste Französisch und in London das beste Englisch, obgleich dieses dem süddeutschen Organ viel größere Schwierigkeiten entgegensetzt, als dem norddeutschen. Das charakteristische seiner Erscheinung liegt zwischen Banquier und Lotteriecollecteur. Hieraus entspringt eine gewisse Zweitheiligkeit des Bewußtseins, die jedoch der Einheit seines geschäftlichen Strebens keinen Abbruch thut. In beiden Eigenschaften verwendet er ängstliche Sorge auf seinen Anzug und besitzt eine consistente Vorliebe für dicke Uhrketten und Siegelringe, selbst wenn dieselben auch nur aus sorglich gebürstetem Messing bestehen sollten. Je nachdem das Lotteriecollectoren- oder Banquierbewußtsein bei ihm vorwaltet, ist er zuvorkommend höflich oder würdevoll herablassend, aber er ist nie zudringlich oder anmaßend, gleichviel, ob er von Dir einen Schilling zu verdienen beabsichtigt, oder ob er Dir eine Prise aus seiner mehr in den Händen als in der Tasche getragenen silbernen Tabaksdose offerirt. Er spricht immer von Geschäften, aber er bettelt nie. Im Gefühle seiner Lotteriecollectorennatur lebt er von „seines Nichts durchbohrendem Gefühle“ und erklärt sich mit bescheidener Resignation zu jedem Geschäfte bereit, das nur die entfernteste Beziehung mit Courstabellen, Preiscouranten und dem Bureaustyle hat. Wenn dagegen das Bewußtsein seines Banquierberufs in ihm vorwaltet, so pflegt er seine Unterhaltung mit hoher Politik zu würzen und die Chancen der verschiedenen großen und kleinen Mächte auf Procent zu berechnen; aber auch in dieser Rolle treibt er das Gefühl seiner Bedeutung nie bis zur Anmaßung, sondern begnügt sich damit, vor seinen Namen ein „von“ zu setzen und das etwas indiscrete „er“ am Schlusse verschwinden zu lassen, sodaß aus „Northeimer“ ein Herr von Northeim, aus „Erlanger“ ein Herr von Erlangen, aus „Buchheimer“ ein Herr von Buchheim wird.

Wenn der „Frankfurter Jude“ aus Wien oder Preßburg gebürtig ist, so wird diese Namensverzierung auch schon im Lotteriecollcetorenstadium vorgenommen. Seine Laufbahn in London beginnt er regelmäßig mit der Gründung eines Commissions- und Speditionsgeschäfts. Der verhängnißvolle Wendepunkt für ihn ist der Augenblick, wo der erste Brief ohne Lotterieloose und Ziehungstabellen in seinem verwaisten und unbezahlten „Office“ ankommt. Wenn sich derselbe auf irgend eine seiner vielseitigen Annoncen in der deutschen Presse bezieht und eine entfernte Hinweisung auf Spedition und Commission verräth, so wird Itzig u. Comp. eine großbritannische Wirklichkeit, rasirt sich den bisher noch rund getragenen Bart in der Mitte durch, stülpt sich die Vatermörder steif in die Luft und behauptet, kein Deutsch zu verstehen, wenn er auf der Straße von einem unbekannten Landsmann um den Weg gefragt wird. Läßt er sich in diesem entscheidenden Momente nicht vom Banquierbewußtsein übermannen und nicht verleiten, mit auf das Schicksal ausgestellten Wechseln das Reichwerden forciren zu wollen, als Smith u. Comp. ein zweites Bureau zu belegen und für die Solidität und Zahlungsfähigkeit dieses neuen Importgeschäftes die Reference des achtbaren und geachteten Hauses Itzig u. Comp. anzugeben, oder sich gar als Actiengesellschaft „zum Schutze continentaler Geschäftsleute“ zur Empfangnahme aller Art von Waaren, zu Vorschüssen auf selbige und zur Verabfolgung derselben an die Besteller, im Falle diese sich nach den schärfsten Erkundigungen als solid erweisen sollten, bereit zu erklären, – läßt er sich noch einige Zeit mit dem Lotteriecollectorenbewußtsein genügen, so braucht uns für ihn nicht bange zu sein. Er geht mit langsamen, aber sicheren Schritten dem Ziel seiner Wünsche entgegen, und wenn er auf seiner Reise auch gelegentlich im Schuldgefängniß von White Croß einsprechen sollte, den Criminalgerichtshof hält er sich zehn Schritt vom Leibe und bezieht schließlich einen Landsitz in Camberwell oder Brixton als Baron Rosenheim, Chef der Firma Rosenheim u. Sohn, Bankconto in der Bank of England, Cheques zahlbar bei Lloyd.

Wenn man jedoch den jüdischen Charakter von seiner besten Seite kennen lernen will, so muß man den „eigentlichen Juden“ in London beobachten. Er heißt der „eigentliche“, weil er nichts Anderes ist und sein will als Jude, und aus keinem andern Grunde nach England kommt, als um Geld zu verdienen. Dieser Entschluß steht bei ihm fest. Der einzige Plan, den er verfolgt, um zu diesem Zwecke zu gelangen, besteht in dem festen Willen, jede Gelegenheit und jeden Vortheil zu benutzen, der sich ihm darbietet. Die Vielseitigkeit und Energie des jüdischen Charakters, die rastlose Thätigkeit, Genügsamkeit, Ausdauer und Berechnung, die sich in jahrhundertelangen Verfolgungen bewährt und gestählt hat, sind das einzige Capital, mit dem er sich aus seiner polnischen, schlesischen oder mitteldeutschen Heimath entfernt, um sein Glück im reichen London zu versuchen. Er weiß sehr wohl, daß hier die Goldstücke nicht auf der Straße herumliegen, daß er als „eigentlicher Jude“ hier noch größere Vorurtheile zu überwinden hat, als daheim, daß es ihm viel Arbeit, Hunger und Elend, viel Demüthigung und Unterwerfung kosten wird, ehe er sich allmählich aus seinem Kaftan oder abgetragenen Familienrock zu wohlgekleideter Respectabilität und geschäftlicher Würde entwickelt. Aber eben weil er dieses weiß, ist er zu Allem entschlossen. Er unternimmt Alles, was er kann, und kann Alles, was er unternimmt. Er verliert oft die Früchte seiner jahrelangen Thätigkeit, aber nie seinen Muth. Gelingt es ihm, den Verlockungen der jüdischen Verbrechercolonie, die sich in den düsteren Höfen von Whitechapel angesiedelt hat und ihre Börse in Petticoat Lane besitzt, zu widerstehen, so macht er seinen Weg, und es ist ein Vergnügen, ihm auf diesem Wege mit all seinen Krümmungen und Haltpunkten zu folgen.

Wir bewohnen ein bescheidenes Haus in einer stillen Vorstadtstraße weit weg von dem Lärme des weltstädtischen Verkehrs. Die Straße ist eben der Natur abgerungen worden. Auf beiden Seiten uniforme, en gros gebaute Häuserreihen, nett, reinlich, hell und offen. Jedes der Häuschen hat sechs blank gescheuerte Stufen vor der Thür und einen kleinen, mit Immergrünsträuchen und Rosen besetzten Garten als cokettes Schürzchen vorgebunden. Nur an einem Punkte ist die Monotonie dieser zusammenhängenden langen Häuserreihe durch einen offenen Garten mit einer hinter Bäumen versteckten Villa unterbrochen. Diese Villa war lange unbewohnt und bot mit ihren verstaubten und zerschlagenen Fenstern und zerfallenden Dachgiebeln einen trostlos öden Anblick dar. Plötzlich wurde es in dem uns gerade gegenüber liegenden Hause lebendig, Arbeitsleute waren Tag und Nacht beschäftigt, um der todten Villa wohnliches Leben und dem mit Gras überwucherten Garten zierliche Ordnung zu geben. Die Vorbereitungen wurden in solcher Ausdehnung und Schnelligkeit getroffen, daß sie das Tagesgespräch der Nachbarschaft bildeten. Dann kamen die Möbelwagen, einer nach dem andern, und entuden ihre Schätze. In den umliegenden Häusern drängte sich die weibliche Neugier an den Fenstern. Mein eignes Weib konnte ihre Augen von den kostbaren Möbeln nicht abwenden und brach unwillkürlich in die Worte aus: „Wie glücklich müssen diese Leute sein!“ Dabei warf sie einen melancholischen Blick auf unser eigenes Meublement und seufzte so recht aus tiefstem Herzen. Weiber sind nun ein mal so. Sie mißgönnen einem Nachbar seinen kostbaren Spiegel und geben ihr letztes Geschmeide hin, um einem anderen Nachbarn aus der Noth zu helfen. Wer der Crösus eigentlich sei, der die Villa so reizend hergerichtet und so glänzend ausgestattet hatte, wußte Niemand zu sagen.

Endlich kam der geheimnißvolle Eigenthümer selbst in einem eleganten Brougham angefahren, – ein junger Mann mit verführerisch schwarzem Barte, sehr sorglich gekleidet, voll Bonhomie und vornehmer Gewandtheit. Während er so aus dem Wagen sprang, den Zügel einem kleinen Jockey zuwarf und seiner etwas zu auffallend gekleideten, aber reizenden Gattin aussteigen half, konnte Jeder auf den ersten Blick sehen, daß er zum vornehmen Leben geboren war, „ein Gentleman von Geburt und Erziehung“, wie die Phrase in England lautet. Uns selbst jedoch war die Erscheinung des jungen Mannes noch viel interessanter, als der befriedigten Nachbarschaft, denn er war ein alter Bekannter, ein gelungenes Specimen des „eigentlichen Juden“. Vor nun etwa 12 Jahren sprach uns ein zerlumpter, vor Kälte zitternder Judenknabe auf der Straße an und bat uns, einige Bücher, die wir unter dem Arm hatten, von ihm tragen zu lassen, da er sehr hungrig sei und noch nicht wisse, wie er einen Pfennig verdienen solle. Er war vor einigen Wochen mit seinem Vater aus Posen hier angekommen, dieser jedoch im Laufe dieser Zeit an den Pocken gestorben. Wir gaben ihm einige Kupferpence. Später verkaufte uns derselbe Knabe Seife

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 314. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_314.jpg&oldid=- (Version vom 4.12.2019)