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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Mary war einverstanden, hüllte die zarte Gestalt Mathildens in einen warmen Pelz, und Beide wandelten durch Londons nebelige Straßen, die Mathilde zum ersten Mal sah, da sie gleich nach ihrer Ankunft erkrankt war. Das Interesse des Neuen, das rege Leben der Londoner Straßen, Bewegung und frische Luft, die sie so lange entbehrt, wirkten heilsam auf Mathilde. Lebhaften Schrittes ging sie neben der Freundin, ihre Wangen färbten sich mit einem frischen Roth, die Augen blickten dunkler, lebhafter als seit langer Zeit. Nach ungefähr zwanzig Minuten standen sie vor dem bewußten Wachscabinet, das die ganze erste Etage eines Hauses in einer der Hauptstraßen Londons einnahm. Mathilde frug nach Herrn Smith und erklärte ihm den Zweck ihres Besuches. Mr. Smith antwortete lächelnd, er wisse schon, wovon die Rede sei, und schickte sich an, Mathilden das Modell zu zeigen, das seiner Aussage nach kein Portrait, sondern eine Schöpfung seiner Phantasie war. Nun geleitete er die beiden Freundinnen durch seine Säle, und machte die Honneurs mit der ganzen Liebe eines Künstlers, der erinm der That war.

Mr. Smith’s Wachscabinet ist nicht mit denen zu vergleichen, die bis jetzt durch Europa gezogen, und in denen sich das Publicum an Napoleon auf dem Sterbebette, an Luther mit seinem Freunde Melanchthon und an Werther nebst Charlotte ergötzte. Mr. Smith hat diese Kunst, an der bis jetzt immer etwas Marionettenhaftes klebte, veredelt und zur höchsten Stufe emporgebracht; sein Cabinet bildet zur jetzigen Zeit – was nicht wenig bedeutet – eine der sehenswürdigsten Raritäten Londons. Mathilde, selbst Künstlerin, vergaß bald den Zweck ihres Besuches vor den Schöpfungen dieser neuen, einigermaßen unheimlichen Kunst, sie blieb vor bekannten, noch lebenden Persönlichkeiten stehen, die in solcher Wahrheit dargestellt waren, daß man vergessen mußte, was man eigentlich vor sich hatte, und gespannt auf eine Bewegung, auf ein Wort aus diesen stummen Lippen wartete. Mary, weniger Künstlerin, theilte unterdessen ihre Aufmerksamkeit zwischen den Besuchten und den Besuchern, und konnte sich eines schalkhaften Lächelns nicht enthalten, als sie einige Russen an der Gestalt des verstorbenen Kaisers, der in seiner wohlbekannten imposanten Majestät dastand, vorbeigehend mechanisch die Hand an den Hut legen sah.

Jetzt gelangte man an einen Salon, über dessen Thür die Aufschrift stand: „Fancy Pictures.“ – „Hier,“ sprach lächelnd Mr. Smith, „finden Milady das bewußte Ideal, dieser Raum enthält Phantasiestücke und zurückgesetzte Portraits – in meinen Augen ist er nicht der interessanteste.“

Nr. 37. stellte ein junges Mädchen vor, ein Köpfchen à la Greuze, mit blonden Locken und regelmäßigen Zügen, in dessen blauen Augen ein seltsamer Zug von wehmüthiger Sanftmuth lag. Mathilde suchte schon in ihrer Phantasie, wie sie in einem Gemälde dieses sanfte Gesichtchen am besten zur Geltung bringen könnte, als die danebenstehende Mary durch einen Verwunderungsausruf ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Mathilde wandte sich um, – und das Blut stockte in ihren Adern, sie wurde leichenblaß, und Mary mußte ihren Arm um die Schwankende schlingen, um sie zu stützen.

In einem Voltaire-Fauteuil saß – Leo, den Kopf zurückgeworfen und an die Lehne gestützt, genau in derselben Stellung, wie Mathilde ihn zum letzten Mal gesehen, nur fehlte die Frauengestalt, die damals den Kuß auf seine Lippen drückte.

Mit einem Blicke, den alle Intelligenz verlassen zu haben schien, starrte Mathilde die Figur an, bleich wie die Wand, bebend am ganzen Körper stand sie da, wie gebannt, – vergeblich versuchte es die erschrockene Mary, sie wegzuführen, sie athmete endlich tief auf, wandte sich zu Mr. Smith und frug mit erstickter Stimme: „Mr. Smith, wie kommt dieses Portrait in Ihre Sammlung?“

„O,“ antwortete er gleichgültig, „dies ist ein unbedeutendes Exemplar, ich weiß nicht einmal, wen es darstellt!“

Mathilde sah ihn flehend an.

„Mr. Smith, ich beschwöre Sie, mir zu sagen, wie es sich damit verhält, wie …“

„Es ist ganz einfach, Milady. Vor ungefähr drei Monaten kam ein junger Franzose zu mir, brachte mir die photographische Karte dieses Herrn und forderte unter einigen Angaben eine vollständige sitzende Figur, die in der kürzesten Frist vollendet werden sollte. Nach drei Tagen war die Figur auch fertig, – Sie begreifen aber, Milady, daß es schwerer ist, nach einer Photographie zu arbeiten, als nach der Natur, – somit war der junge Mann nicht zufrieden. Ich mußte nach neuen Angaben einen neuen Kopf modelliren, der, wie es scheint, seinen Wünschen entsprach, und hier sehen Sie den ersten, den mißlungenen, den ich des Pikanten der Physiognomie wegen in die Fancy-Sammlung gestellt habe.“

„Und – und wissen Sie, wer dieser junge Franzose war?“

„Seinen Namen muß ich wohl noch in meinem Notizbuche haben,“ sagte Mr. Smith, dasselbe hervorziehend, – „September, den 20., Monsieur le Vicomte de Joly!“

Laut schluchzend fiel Mathilde an Mary’s Brust; verwundert und erschrocken sah Mr. Smith die beiden Frauen an. Mary gab ihm eine genügende Erklärung, indem sie sagte, der Herr sei ihrer Freundin wohlbekannt, und die Figur habe trübe Erinnerungen in ihr wachgerufen, und bat schließlich Mr. Smith, einen Wagen vorfahren zu lassen, um die aufgeregte Freundin nach Hause zu bringen, was denn auch augenblicklich geschah.

Wer könnte Mathildens Verzweiflung, ihre Gewissensbisse schildern! Alles war nun klar, das schändliche Benehmen des Vicomte, der ihre Eifersucht benutzt und nichts gespart, um einen Beweis zu schaffen, der in seine geheimen Hoffnungen spielen sollte. Hundert Mal warf sich Mathilde ihre Blindheit, ihre Uebereilung vor, dazwischen tauchte wieder das auf Place de la Concorde gesehene Bild auf, das doch kein Trug war. Mary suchte vergebens, sie durch Worte der Vernunft zu beschwichtigen, ihre krankhafte Phantasie war zu stark aufgeregt worden, die noch schwachen Kräfte hatten einen zu harten Stoß erlitten; gegen Abend trat das Fieber mit neuer Gewalt ein, Mathilde phantasirte, raste, beschuldigte bald sich, bald den Vicomte, bald Leo, mischte Lüge und Wahrheit durcheinander – die von der armen Mary befürchteten Schreckenstage waren wieder da! Und Tage und Wochen lag Mathilde wieder bewußtlos, bald ein Opfer des Fiebers, bald in einer gänzlichen lethargieähnlichen Entkräftung. Der Arzt gab wenig Hoffnung und wartete auf die immer Alles entscheidende Krisis. Endlich stellte diese sich ein, und noch einmal siegte die jugendliche Lebenskraft; Mathilde verfiel in einen ruhigen Schlaf, während dessen der Arzt das Wort gerettet aussprach. Als sie die Augen aufschlug, fiel ihr erster klarer Blick auf Leo, der an ihrem Bette saß, ihre Hand hielt und seine Augen unverwandt auf dem bleichen Antlitze haften ließ.

Mathilde war zu schwach, um sich zu erinnern, – daß Leo da, fiel ihr nicht auf, sie fühlte nur die Seligkeit seiner Gegenwart, versuchte einen schwachen Händedruck, ein Lächeln und schloß wieder die müden Augen. Nach und nach, in den nächsten Tagen der Besserung, kehrte aber mit den zunehmenden Kräften auch die Erinnerung an das Vorgefalleue zurück; noch wagte Mathilde keine Frage, ihr unruhiger Blick fagte aber bisweilen mehr als Worte, und diese stumme Frage beantwortete Leo gewöhnlich mit einem Kusse, Mary aber mit einem seligen Lächeln, das deutlich sagte: mein Werk!

Als endlich eines Tages der Arzt erklärte, alle Gefahr sei vorüber, schloß sie der beglückte Leo in seine Arme und sprach unter den wärmsten Küssen: „Du böse, böse Mathilde, ohne unsere treue Mary wüßte ich bis heute nicht, wo mein süßes Glück weilt. Wie um Gottes willen konnte mich mein liebes Weibchen mit einer Wachsfigur verwechseln?“

„O, vergieb mir, Leo, ich war wahnsinnig, aber dazu auch so unglücklich, und dann …“

„Und dann?“ wiederholte lächelnd Leo.

„Das, was keine Wachsfigur war!“

„O Mathilde, hättest Du nur drei Tage gewartet, nur noch drei Tage mir vertraut, so hättest Du erfahren, daß die, die Du mit mir gesehen, keine Andere war, als Henriette, meine theuere Schwester!“

„Henriette in Paris – und das durfte ich nicht wissen?“

„Nein, Mathilde, Du durftest nicht. Höre, wie es sich verhielt: Henriettens Mann, aus politischen Gründen gezwungen, heimlich seine Heimath zu verlassen, flüchtete nach Paris, um sich dort eine Zeit lang zu verbergen. Er war auch da nicht sicher. Henriettens aufopfernder Liebe gelang es, den stark Compromittirten eine Zeit lang allen Blicken zu verbergen, sie berief mich nach Paris, um ihr in der fernern so schwierigen Angelegenheit seiner weitern Flucht beizustehen. Alle, ohne Ausnahme,

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