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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Ein geheimnißvolles Grab.
Von Friedrich Hofmann.

Wer vom schönen Thüringerwald in das Werrathal bei Hildburghausen hinabsteigt, sieht jenseits des Thales zunächst der Stadt zwei Berge sich erheben, in deren Einsattelung eine mit stattlichen Bäumen besetzte Kunststraße zu dem gemeinsamen Rücken beider sich emporwindet. Das ist die Straße nach Coburg. Der Berg zur Rechten derselben heißt der Stadtberg. Ihn kennzeichnet am besten gegenwärtig das Thürmchen, das Joseph Meyer, der Pionier der Zukunft, wie die Gartenlaube ihn genannt, nahe an der Koppe desselben auf der höchsten Stelle seines nur in’s Werrathal schauenden Gartens aus Felsbrocken aufgebaut hat, um von dieser Thurmzinne sich des Blickes auch auf die Herrlichkeiten Frankens jenseits des Berges erfreuen zu können.

Kaum hundert Fuß von der Meyers-Warte abwärts finden wir einen andern Steinbau. Halb aus der Bergwand hervor tritt die steinerne Umfassung eines Grabes. Hohe Kastanien- und Tannenbäume und allerlei Strauch- und Buschwerk beschatten es. Es ist eine verlassene traurige Stelle, obwohl nur wenige Schritte tiefer ein wohnliches großes Gartenhaus vor lebensfrohen Augen das reizendste Bild des schönen Thales und seiner waldigen Umrahmung und winkenden Ferne ausbreitet. – Die pflegende Hand fehlt dem Grabe nicht; sein Blumenbeetchen ist nicht ohne den Schmuck der Jahreszeit. – Wer ruht unter diesem einsamen Hügel?

Diese Frage ist schon von Tausenden gethan, aber die Antwort gab noch Niemand. Und doch stehen wir nicht etwa vor einem Grabe aus weiter Vergangenheit: es ist noch kein Menschenalter, es sind erst sechsundzwanzig Jahre vergangen, seit man es grub. Und viele Menschen standen in jener Herbst-Mitternacht im Scheine der Fackeln um den Sarg, den man vor seiner Versenkung öffnete, und sahen das Frauenbild von rührender Schönheit im weißen Atlaskleide, das hier der Erde übergeben wurde.

Wer war das schöne Weib? Niemand weiß es. Dreißig Jahre lang wohnte es in nächster Nähe, und nur wenige Augen sahen es, gesprochen mit ihm hat kein einziger Mensch des Landes je ein Wort! Auf eine einzige Menschenseele beschränke sich der Umgang dieses ganzen Lebens, dem doch die Mittel zu Gebote standen, in dieser äußersten Abgeschlossenheit mit den glänzendsten Moden von Paris fortzugehen. Wer war diese Dame? Hier ruht ein Geheimniß von so schauerlicher Tiefe, daß man unwillkürlich das Auge zu den Nachtseiten der Throne hinrichtet, um dort die Enthüllung zu suchen, die Alles, was als Thatsächliches aus diesem dunkeln Treiben aufgestellt wurde, bis jetzt nicht zu geben vermochte.

Es war im Jahre 1807, Monat und Tag sind mir nicht bekannt, als nach Hildburghausen, das damals noch Residenz eines herzoglichen Hauses war, ein Reisewagen offenbar vornehme Gäste brachte. Der reichbetreßte Kutscher hielt mit seinen stattlichen Schimmeln vor dem Gasthaus zum Englischen Hofe. Aus dem Wagen stieg zuerst ein rüstiger, eleganter Mann, der dann einer tiefverschleierten Dame den Arm zum Aussteigen bot. Beide blieben Wochen und Monate lang in diesem Gasthofe. Ihre Ansprüche waren nicht gering, aber die Bezahlung ihnen entsprechend. Verbindungen knüpften sie mit Niemandem an, Niemand störte sie in ihrer Zurückgezogenheit.

Solche Erscheinungen erregten zu jener Zeit kein besonderes Aufsehen. Man war an den Anblick von Flüchtlingen aus den höchsten Ständen seit dem Beginn der französischen Emigration so gewöhnt, daß man selbst für ihre strenge Abschließung vom öffentlichen Leben die Ursachen in ihrem traurigen Schicksal suchte. Man achtete das Unglück, und sogar die Polizei scheute sich, solchem hocharistokratischen Elend gegenüber ihre störenden Fragen nach Paß und Legitimation zu erheben.

So blieben auch unsere Fremden in ihrem stillen Leben unbelästigt, und man hat selbst dann nicht davon gehört, daß man über die Verhältnisse und Beziehungen derselben obrigkeitlich nachgeforscht, als sie aus dem Gasthofe in eine Privatwohnung zogen und damit die Absicht eines längeren Verweilens andeuteten. Sie wohnten erst in der dritten Etage eines Hauses (des später sogenannten Regierungsgebäudes) am Markte, siedelten aber, als im Parterre, einem Druckereilocale, einmal ein kleiner Feuerlärm entstand, sofort in die freundlichste Vorstadt von Hildburghausen, die Neustadt, über, und zwar in die zweite Etage eines ganz freistehenden Hauses.

Während dieser Zeit, und hauptsächlich seit dem Aufenthalt in der Neustadt, verbreitete sich etwas mehr Licht über das vornehme Paar. Es war nunmehr bekannt geworden, daß der Fremde ein Baron oder Graf Vavel de Verday sei. Der „Kammerdiener“, der erst als Kutscher erschienen war und später sich als ein über seinen angeblichen Stand gebildeter Mann zeigte, hat nie den Namen des Fremden ausgesprochen; er nannte ihn stets nur „der gnädige Herr“. Im Publicum hielt man an der höheren Bezeichnung „Graf“ fest, und weil die Dame für die Gemahlin galt, so hieß sie die „Gräfin“. Die Landleute um Hildburghausen und hauptsächlich später in und um Eishausen machten sich aus dem ihrem Ohre zu fremd klingenden „Vavel“ einen neuen Namen für den Mann zurecht, für sie hieß er „der Pfaffel“. Wir wollen für das Folgende die landüblich gewordenen Bezeichnungen „Graf“ und „Gräfin“ beibehalten.

In dem Hause der Neustadt, das einer verwittweten Geheime-Assistenzräthin Radefeld gehörte, entfaltete das Leben Beider bald des Verwunderlichen so viel, daß allerdings nunmehr die Neugierde der ganzen Stadt in steigende Bewegung gerieth. Der Graf bezahlte auch hier splendid, machte dagegen ungewöhnliche Ansprüche. Im ganzen Hause mußte fortan die tiefste Klosterstille herrschen, keine Thür durfte mit Geräusch gehandhabt werden, kein fröhliches Kinderspiel, kein lautes Lachen, kein fester Fußtritt im Innern sich hören lassen. Durch Verschläge von Latten an Treppe und Vorplatz wurde die gräfliche Wohnung vom übrigen Hausraum abgesperrt und stets sorgfältig verschlossen gehalten. Alle Fenster waren Tag und Nacht dicht verhängt. Außer dem Kammerdiener bewohnte kein menschliches Wesen diese Etage mit; eine Köchin und eine Aufwärterin, die noch in Dienst genommen waren, wohnten außerhalb des Hauses. Diese Personen sowie die Hausbesitzerin, eine sehr würdige Matrone, ein Kaufmann und Rathsherr A., der zum Geschäftsführer angenommen, aber nur mit Geldgeschäften betraut wurde, und einige schlichte Handwerker, die im Hause gearbeitet hatten – sie waren die einzigen Menschen, die während des ganzen Aufenthaltes des Grafen zu Hildburghausen, also während der Zeit von ungefähr drei Jahren, mit ihm gesprochen haben.

Den häufigsten Verkehr unterhielt der Graf mit der Hausbesitzerin. So oft sie aber zu ihm gerufen ward, verschloß der Graf auch hinter ihr sorgfältig die Thür. Seine Unterhaltung war lebhaft, seine vielen Fragen mußten jedoch der Matrone eine fast kleinliche Neugierde verrathen, so sehr bezogen sie sich auf alle Persönlichkeiten, die in und um Hildbrghausen von einiger Bedeutung waren, ja selbst auf die Fremden, die in der Stadt häufiger einkehrten. Offenbar lag diesen Fragen eine tiefere Absicht zu Grunde, die mit der Sicherheit seines Aufenthaltes in Beziehung stand.

Bei all diesen Besuchen war niemals die fremde Dame zugegen. Drei Jahre wohnte die Frau Assistenzräthin mit der Gräfin unter Einem Dache, und nie hat sie ein Wort mit ihr gesprochen, ja sie nur einige Male flüchtig und zufällig, ja wider Willen im Vorbeigehen erblickt und dabei nur bemerkt, daß sie jung und sehr schön gewesen. Es war nämlich im Hause Jedermann streng untersagt, zuzusehen, wenn der Graf mit der Dame seine Etage verließ, um mit ihr spazieren zu gehen oder zu fahren. Geschah Ersteres, so war die Gräfin so dicht verschleiert, daß ihr Antlitz für nicht ganz nahe Späheraugen unkenntlich blieb. Es war aber nach und nach im Volk zur Sitte geworden, jede absichtliche Annäberung an das seltsame Menschenpaar zu vermeiden. Die Spazierfahrten geschahen im eigenen Wagen, aber mit Postpferden, denn der Graf hatte die eigenen Pferde bei der Uebersiedelung in die Neustadt verkauft. Die Herrschaften stiegen stets im verschlossenen Hofraume ein, und auch dem Postillon war es verboten, sich nach den Einsteigenden umzuschauen. Indeß ist doch wenigstens so viel erlauscht worden, daß bei solchen Ausfahrten der Graf, der stets in feinster Kleidung, in Frack und Seidenstrümpfen erschien, die tiefverschleierte Dame, den Hut in der Hand, zum Wagen führte, nach einer Verbeugung ihr den Arm zum Einsteigen bot und dann neben ihr Platz nahm. Der Wagen war nie zurückgeschlagen und, so lange

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 300. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_300.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)