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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Bach oder Kluft zu thun. Schon war er wohlbehalten an der letzten Abdachung des Berges angelangt, wo ein Bach sich aus steiler Felskluft auf die Schaufelräder einer kleinen Mühle stürzt und neben der Mühle sich ein kleines Häuschen an den Waldhang lehnte, das nun verschwunden ist, damals aber den Holzknechten Aufenthalt gab, wenn sie der Winter aus ihrem Nomadenleben von Berg und Wald herabgescheucht hatte. Noch war das Wetter sich gleich geblieben, ja, von dem schmalen Thalgrunde sah es sich an, als sollte der ganze Sturm unschädlich vorüber ziehen; nur eisig kalt fuhren die Windstöße auch in dem niedern Grunde dahin.

Quasi wollte auch an der Hütte, die er sonst oft besucht, in rascher Beugung vorüber, als es von innen an die Scheiben des Fensterchens kopfte. Verwundert hielt er an, und im nächsten Augenblick stand ein anderer Bursche unter der Thür, sprang auf Quasi zu und hielt ihn am Arm, um ihn nach der Hütte zu zerren.

„Er ist es wahrhaftig!“ schrie der Mensch. „Ich hab’ fast meinen Augen nit getraut – aber Du bist es, Lateinischer! Wo kommst her und wo willst hin? Komm nur herein in die Hütten und erzähl’, wie’s Dir ’gangen ist!“

„Laß mich gehen, Hennenrupfer,“ sagte Quasi und wollte sich losmachen, „ich hab’ keine Zeit, ich hab’ eine wichtige Botschaft auszurichten. …“

„Die darf ich doch auch wissen, Brüderl?“ entgegnete der Andere. „Ich helf’ Dir, was es auch ist, wirst mich nit leer ausgehen lassen dabei! Kennst unsere alte Cameradschaft, und wir zwei taugen doch am allerbesten zusammen – Du hast Dich hinausgelogen selbiges Mal in der Wimbach, daß es eine Lust gewesen ist; aber ich hab’s nit schlechter gemacht! Sie haben mich lang genug herumgezogen, aber sie haben mir doch nichts anhaben können … ich bin wieder frei, Brüderl, und jetzt wollen wir dem Schergenpack erst zeiget, was wir können!“

„Es ist nichts Solches, was ich auszurichten hab’,“ sagte Quasi zögernd, „ich muß dem Bauer eine Botschaft thun – eine Kalm ist krank ’worden droben auf der Alm. …“

„Kalm? Bauer?“ lachte der Hennenrupfer spöttisch. „Ich glaub’ gar, Du willst zum Kreuz kriechen und gut thun, wie sie’s nennen ?“

„– Und wenn’s so wär’?“ erwiderte Quasi unsicher; er fand den Muth nicht in sich, die falsche Scham zu überwinden und ein offenes Ja auszusprechen.

„Dann thät’ ich Dich höchstens auslachen,“ war die Antwort, „und ließ Dich’s probiren, bis Du’s erfahren hättest, wie ich, daß Dir überall der Weg verrammelt ist! Aber meinetwegen – thu’ was Du willst, ich will Dich nicht aufhalten, aber so eilig wird’s doch nicht sein, daß Du nit ein Gläsl trinken könntest mit einem alten Cameraden? Komm herein – der Wind schneidet so grimmig kalt, daß Du die Erwärmung wohl mitnehmen kannst auf den Weg!“

Quasi wollte widerstreben, er wollte dem Verführer sagen, daß er keinen Branntwein mehr trinken wolle, daß er schon seit Wochen keinen mehr getrunken habe – aber es blieb beim Willen; Wort und That blieben aus, und ehe er eigentlich recht wußte, wie es geschehen war, saß er in der niedrigen dumpfen Stube neben dem Gesellen. Der war wie außer sich vor Freude und ließ den alten Kumpan gar nicht wieder los; wäre Quasi unbefangener gewesen, so hätte er aus seinen Blicken errathen, daß diese Anhänglichkeit weniger seiner Person galt, als der breitgliederigen silbernen Kette, welche Quasi trug und welche den Hennenrupfer auf das Dasein einer Uhr schließen ließ.

Mit sich selber kämpfend ergriff Quasi das so lang gemiedene verführerisch duftende Glas; er entschuldigte sich, daß er ja nicht aus Neigung trinke, sondern nur um sich gegen die Kälte zu stärken, daß er das Versäumte doppelt einholen werde, und daß es ja keine Gefahr habe bei dem anhaltenden Wind. Der erste Trunk war gethan und mit ihm die Mauer des Entschlusses durchbrochen; die alte Leidenschaft wühlte und spülte daran, bis der Vorsatz in Trümmern lag und die alte Fluth sich vernichtend darüber hinwälzte. Dem ersten Glase folgte ein zweites, diesem ein drittes und viertes, bis es ihm leidig ward und er des Zählens wie des Fortgehens vergaß – die lange Entbehrung machte die Wirkung des Getränks noch rascher und bedeutender; er sah es nicht, wie draußen der Schnee zu fallen begann, er fühlte es nicht in der Abstumpfung des Rausches, wie der treulose Kamerad ihm unmerklich Uhr und Kette aus der Tasche zog und sich zur Thüre hinausschlich – er war dem alten Dämon verfallen.

Auf der Ledermühle und im Hause von Kordel’s Dienstbauer stieg inzwischen Besorgniß und Unruhe mit jeder Minute. Der Bub’ war mit den Ziegen heimgekommen und erzählte, wie er der Sennerin durch einen fremden Burschen Botschaft gethan, sie solle nur allein abtreiben; sie war also ohne Zweifel aufgebrochen, und als es zu dämmern begann und sie noch nicht da war, stand die Gewißheit fest, daß sie durch irgend einen Zufall verspätet und in das Unwetter gerathen war, dessen Wüthen man auch im Thale spürte, wenn auch dessen volle Kraft an den Höhen sich austobte. Der Bauer schickte wiederholt nach der Ledermühle herüber und ließ nachfragen, ob das Mädchen nicht etwa doch noch gekommen und vielleicht zuerst an das elterliche Haus gegangen war; in diesem ging die Müllerin finster und trotzig hin und wieder, aber eben diese Unruhe ließ erkennen, daß die Sorge auch in ihr leicht geartetes Gemüth sich einzuschleichen begann. Der blöde Alte aber war von der Thüre des Hauses nicht wegzubringen; er lag buchstäblich auf der Lauer vor derselben und stieß nur manchmal dumpfklagende Töne aus, als ob er das schreckliche Geschick seines Lieblings ahnte und bejammerte.

Nicht minder entsetzt und aufgeregt war Evi; sie rannte rastlos von Gehöft zu Gehöft, und ihr war es zuzuschreiben, daß die Nachricht von Kordel’s Ausbleiben sich wie Feuer verbreitete, das der Windesflug von Giebel zu Giebel trägt. Bald hatte sich an der Kirche vor dem Hause des Pfarrvicars eine Anzahl Burschen und Männer versammelt, welche sich mit dem Vicar und dem Schullehrer beriethen, was geschehen könne, die Vermißte aufzusuchen und wo möglich zu retten. Schnell waren Laternen und Kienfackeln herbeigebracht; man rüstete Stangen und Stricke und beschloß, in zwei Abtheilungen den Berg zu ersteigen, welche sich wechselseitig anrufen und mit Feuern oder Flintenschüssen Signal geben sollten, sobald eine Spur gefunden war. Die eine Schaar zog beim Wirthshause über die tosende Ach den schmalen Steinpfad in den Tannenwald hinauf; dort mündete der gewöhnliche Almpfad, den die Sennerin vermuthlich eingeschlagen hatte. Bei ihnen war Evi, die sich nicht wehren ließ, die geliebte Genossin aufzusuchen, und todtenblaß, aber wort- und tränenlos neben dem Führer dahin schritt. Die andere Abtheilung ging der Straße nach bis gegen die Mühlen hin, wo ein zweiter Pfad auf die Almen führt, zwar beschwerlicher aber kürzer; es war daher nicht unmöglich, daß Kordel ihn eingeschlagen hatte. Einige furchtbare Stunden der Mühe vergingen den Suchenden unter hundert Gefahren, denn der Wind löschte die Fackeln, und trotz der Schneereife sanken die Männer oft in den mehr als knietiefen Schnee. Umsonst war alles Rufen und Spähen, kein Gegenruf antwortete, keine Spur der Verunglückten zeigte sich. Endlich war die Almhütte erreicht und damit auch die letzte Hoffnung verschwunden, denn die Hütte war wohl verschlossen und leer – nun bestand kein Zweifel mehr, das Mädchen war im Freien von dem Unwetter überrascht worden. Es fruchtete auch nichts, daß der Wind sich nach einiger Zeit legte und sogar der Mond einige Secunden durch das Gewölke brach; in dem aufgethürmten Schnee lag jede Spur begraben, und das fahle Licht diente nur dazu, die Trostlosigkeit weitern Suchens erkennen zu lassen. Dennoch ermüdeten die jungen Männer nicht, von Evi’s unermüdetem Eifer angespornt, welche nicht abließ, nach allen Seiten um die Hütte herum den Schnee zu durchwaten und zu durchsuchen. Mehrmals mußte einer der Männer die Ueberkühne zurückhalten. „Es geht nit mehr,“ sagte Kordel’s Dienstherr endlich, „es ist nirgends ein Zeichen zu finden von dem armen Geschöpf – und wir dürfen’s auch nicht wagen, weiter um die Bergschneide und gegen die Schlucht vorzudringen … der Schnee liegt gar zu tief und zu locker … ein einziger unrechter Tritt könnt’ machen, daß eine Lahn (Lawine) abgeht und uns Alle miteinander verschüttet oder hinunterreißt. …“ In dem Augenblick, als er das sagte, ließ sich ein leises, knisterndes Geräusch vernehmen, das mit rasender Geschwindigkeit näher kam und zum schmetternden Donnerkrachen anwuchs … unfern der bebenden und betenden Schaar tobte und stäubte die Schneemasse in der riesigen Felsrinne heran und wälzte sich, Alles in einen sprühenden Nebel umhüllend, in die Tiefe auf den krachenden Wald.

Trostlos und schweigend wurde der Rückzug nach der andern Seite angetreten, auf welcher die zweite Schaar herankommen sollte und bald, nicht minder trostlos und erschöpft, sich einfand. Gemeinsam

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 275. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_275.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)