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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Quasi kannte das Mädchen genug, um zu wissen, daß weiterer Widerspruch nichts gefruchtet hätte. „Ich will thun, was Du haben willst,“ sagte er, „ich will laufen, was ich kann; Du sollst es sehen, daß ich auf das acht’, was Du verlangst, und daß ich’s ausführ’, wenn ich mir was in den Kopf gesetzt hab’. … Und wann seh’ ich Dich nachher wieder? Wann und wo kommen wir wieder zusammen?“

„Das überlaß unserm Herrgott,“ erwiderte Kordel fast feierlich, – „wann und wo’s aber geschieht, will ich Dich fragen, ob Du Wort gehalten hast!“

Der Bursche eilte hastigen Schrittes fort, Kordel trat an die Thüre, um nach dem Himmel zu sehen. Er war noch mit dichter weißgrauer Hülle bedeckt, und das ganze Gewölk jagte in unruhigem Zuge dahin, aber es hatte sich wieder gehoben und streifte nur die Berghäupter und Felsgipfel; die mittlere Berglage war wieder frei und ungefährdet. Der Trank für die kranke Kalbin, aus allerlei Kräutern zusammengebraut, war inzwischen fertig geworden und die Sennerin eilte damit nach dem Stall. Es stand noch übler mit dem Thiere, der eingegossene Heiltrank fruchtete nichts, und trotz aller Mittel und Versuche, welche Erfahrung und Uebung dem Mädchen an die Hand gaben, war es bald unverkennbar, daß es verloren war. Fast zwei Stunden waren über dieser Beschäftigung vergangen, als das Thier verendet hatte und jede weitere Sorgfalt überflüssig ward. „Jetzt hab’ ich mich so gefreut,“ sagte Kordel, es betrachtend, „daß wir auch heuer so glücklich gewesen sind, und jetzt im letzten Augenblick kommt noch ein solches Unglück! Der Bauer wird nit wenig aufbegehr’n – die schönste Kalbin und so auf einmal … es ist hell – licht, als wenn ihr Jemand was angethan hätt’. …“ Sie verstummte, aber ihre Gedanken folgten Quasi und der Möglichkeit, daß wohl er es gewesen, der die Ziegen versprengte – wenn er auch dem Thiere etwas gegeben hätte, vielleicht nicht um es zu tödten, sondern nur um sie in der Alm festzuhalten, nachdem alle Andern sich entfernt hatten? „Den schönen Kranz,“ sagte sie dann kopfschüttelnd, „den brauchst Du jetzt auch nit mehr – den nehm’ ich mit hinunter … und aufgehalten,“ setzte sie rascher hinzu, „bin ich jetzt auch von nichts mehr! – Ich will aber auch gleich fort; um die Kalben kann morgen der Bauer herauf kommen oder der Knecht … wenn ich mich jetzt auf den Weg mach’ und der Quasi die Botschaft ausgerichtet hat, müssen sie mir begegnen, eh’ ich zu dem Marterl hinunterkomm’ …“

In der schon vorher aufgeräumten Hütte war bald Alles wieder zurecht gestellt; sie ergriff den unnöthig gewordenen Kranz und trat unter die Hüttenthür, indem sie sich bekreuzte und mit Weihwasser besprengte. Das Gewölk jagte und flog wie zuvor, und vom Norden her pfiff es schneidig kalt. „Es sieht fast bedenklich aus!“ flüsterte sie, um sich herblickend, „vielleicht wär’s am Gescheidtesten, wenn ich im Kaser blieb, bis sie kommen und mich holen. … Aber warum soll ich ihnen den Schrecken machen? Bis zum Wald komm’ ich jedenfalls hinunter, und wenn ich nur den erreicht hab’, dann kann’s so weit nimmer gefehlt sein. … Also in Gottes Namen, vorwärts und frisch aufgetreten!“

Sie schloß die Thür und prüfte den Verschluß; dann eilte sie den grünen Almplatz dahin, welcher nach dem Thale zu von einem vorspringenden Felsknie wie von einer schützenden Mauer umgeben war. Der Wind hatte einen Augenblick nachgelassen und senkte die Flügel, als wolle er Athem holen zu erneutem Ansturm, das Gewölk benutzte die Ruhe, um sich in die Tiefe zu senken und wie eine riesige grauweiße Schlange den Steinberg herabzukriechen. Ungefährdet hatte Kordel den Felsvorsprung erreicht und war um die Bergschneide getreten – links stürzte die Wand neben dem schmalen Pfade senkrecht ab, daß die Tannengipfel von unten vergeblich sich in die Höhe streckten, zur rechten Seite lag wüstes, unwirthliches Felsengetrümmer wild durcheinander und stieg in eine schaurige Felsschlucht empor; es gab keinen Weg, als von schmalen Pfad, der zwischen dem Abgrund und dem Steingeröll sich zur Halde senkte, die in beträchtlicher Entfernung grün und freundlich vom Waldsaume herauf winkte. Kordel hatte eben die Mitte der gefährlichen Bahn erreicht – da tönte ihr entsetzliches Gebrüll in’s Ohr; durch die Bergschlucht herab fuhr der Sturm, wie aufheulend vor Wuth sein Opfer zu erfassen, und eh’ sie sich zu besinnen vermochte, stand sie mitten in dem Gewölk, das er vor sich her wälzte, und das sich in wirbelnden Schneemassen entlud. Sie vermochte kaum, sich aufrecht zu halten vor dem gewaltigen Anprall des Sturmes; in dem jagenden treibenden Gestöber vermochte sie nicht einen Schritt vor sich zu sehen – sie konnte nicht mehr nach der Almhütte zurück – sie vermochte keinen Schritt weiter zu setzen, denn jeder konnte sie in den Abgrund stürzen. „Heilige Mutter Gottes!“ rief sie erschrocken, „so hat’s mich doch erwischt … [1]das ist ein böses Schneewehen – hoffentlich dauert’s nit lang, weil’s gar so scharf anhebt. …“ Vorsichtig tastete sie dabei seitwärts unter den Felstrümmern hin und fand eine Stelle, wo zwei halb aneinander gelehnte, halb sich überschiebende Blöcke eine Art Nothdach bildeten, das mindestens für den Augenblick vor dem Schnee eine Zuflucht gewährte. Sie kroch hinein und kauerte sich nieder, so gut es ging, über den Felsen fiel der Schnee immer dichter und dichter, und der Wind sauste durch den Spalt, daß ihr das Mark in den Gebeinen schauerte.

Geduldig und gelassen harrte das muthige Mädchen in der furchtbaren Lage aus; sie that es in dem Gedanken, daß das Unwetter sich bald ausgetobt haben werde und daß, wenn es nicht geschah, die Ihrigen nicht mehr ferne sein konnten. Quasi hatte ihre Botschaft sicher ausgerichtet, also waren sie gewiß zur rechten Zeit aufgebrochen, das Unwetter beschleunigte ihre Schritte – sie hatte ihnen den Weg bezeichnet, sie mußten an ihr vorüber oder doch an sie heran kommen, daß sie ihnen zuschreien konnte! – Aber Secunde um Secunde verrann, der Wind schnaubte immer wilder und kälter, und vor ihrer Felslücke lag der Schnee schon über schuhtief zusammengeweht; da erfaßte sie mit einmal die Angst mit allen Schrecken ihrer Lage, und das Haar sträubte sich bei der Möglichkeit hier noch länger andauern zu sollen. Wenn der Schneesturm, statt nachzulassen, nur noch einige Zeit anhielt … wenn die Ihrigen sie in der Almhütte sicher und geborgen glaubten … wenn sie nicht kamen ... vor der Wuth des Wetters nicht kommen konnten … wenn sie hier bleiben, elend im Schnee erfrieren und begraben werden müßte. … Mit einem wilden Schrei des Entsetzens sprang sie aus ihrem Versteck hervor und stieß ihr verhallendes Hülfegeschrei in die tobende Luft und den schwer und stumm fallenden Schnee. „Heilige Mutter Gottes!“ rief sie und stürzte mit hoch aufgehobenen Händen in die Kniee, „verlaß mich nit und steh’ mir bei … laß mich nit so elend zu Grunde gehen … und so jung, so jung – und in allen meinen Sünden, ohne Beicht’ und Absolution. …“ – Keine irdische Hülfe antwortete, das Wetter scheuchte die Unglückliche wieder in ihren Schlupfwinkel zurück, aber der innere Trost blieb dem kindlichen Gemüthe nicht aus. „Ich will nit so ungestüm thun,“ sagte sie, „ich will auf unsern lieben Herrgort vertrauen und nit verzweifeln … er sieht mich in meiner Noth und wird’s recht machen … das ist wohl die Strafe, die er mir schickt … ich will’s geduldig ertragen und will beten. …“ Mit erstarrenden Händen faßte sie nach dem Rosenkranz, und über die frostzitternden blauen Lippen floß ein inbrünstiges, heißes Gebet. Sie ward immer kälter und starrer und bemerkte nicht mehr, daß der Schnee immer höher heraufstieg an dem Eingang ihrer Höhle – ein Gefühl unendlicher Ermüdung kam über sie und mit ihr der freundlichste aller Tröster, der Schlaf. Gedanken und Wahrnehmungen flossen ihr ineinander; es klang ihr in den Ohren und sie glaubte die Glocken der Pfarrkirche zu hören, die zum Hochamt riefen, sie sah mit verschwimmenden Augen die schimmernden Flocken und meinte, das Gewölbe in der Kirche zu sehen, an welcher die Glorie Gottes und der himmlischen Heerschaaren gemalt war … die Wolken wurden wirklich und senkten sich zu ihr herab, auf ihnen lächelnde Engelskinder … das eine nahm ihr den Kranz, den sie im Schooße liegen hatte, und winkte damit … das andere kam immer näher und lächelte ihr immer freundlicher zu … seine Züge veränderten sich … sie waren ihr bekannt und doch wieder so selig verklärt … es war das geliebte Antlitz ihres schuldlosen Kindes. … „Mein Kind … mein Roserl,“ sagte sie mit dem Lallen eines Träumenden – sie wollte die Arme ausbreiten gegen die selige Erscheinung – und war hinübergeschlummert – der Schlaf hielt sie fest und legte sie unfühlbar in die dunklen Arme seines ernsteren Bruders. …

Vor dem Felsen heulte und jauchzte der Sturm noch grimmiger und wirbelte den gefallenen und den fallenden Schnee durcheinander, daß er zusammengeweht sich wie ein Schlußstein vor das Felsengrab der Sennerin schmiegte.

– Indessen war Quasi mit hastigen Schritten den Berg hinab geeilt. Sein Eifer war so groß, daß er den gebahnten Weg verschmähte und als erprobter Bergsteiger die nähere Richtung durch Wald und Felsen einschlug, galt es auch manchen Sprung über

  1. WS: Im Original überzähliges Hochkomma entfernt.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 274. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_274.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)