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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Winter gab. Zwar hatte ich einmal den flüchtigen, reizenden Anblick der schneebedeckten, von der untergehenden Sonne tief gerötheten Dünenlandschaft, zwar drangen die Novemberstürme schrecklich zum Ohr und zum Gemüth, und eine kurze Periode hindurch herrschender Ostwind ward selbst bei glühendem Ofen in den schlecht gebauten Häusern durchdringend fühlbar; aber ich sah, einige Eiszapfen am Felsen abgerechnet, keine Spur von Eis, sehr wenig Schnee, den der Wind bald wieder entfernte, und die Temperatur sank nur auf kurze Zeit unter den Gefrierpunkt, so daß die Rasenfläche des Oberlandes fast den ganzen Winter einen grünen Schimmer beibehielt und hie und da mit Marienblümchen übersäet blieb. Der Rasen auf dem Felsenplateau besteht fast nur aus Festuca ovina L. welche, von den Schafen vortrefflich gedüngt, einen herrlichen Sommerteppich darbietet, schon um die Mitte des Aprilmonats besäet mit weißen und gelben Sternen des Marienblümchens, der Sternblume und des Löwenzahns. Anfangs Mai sieht man den schroffen Felsrand zierlich weißbeblümt mit dem ebenso interessanten als dankbaren kleinen Löffelkraut, welches zwei bis drei Mal im Jahr seine fleischigen, nierenförmigen Blätter, seine weißen Blüthentrauben und kugelförmigen Fruchtkapseln entwickelt, deren Scheidewände zuletzt als zarte Gazefensterchen stehen bleiben; zu ihm gesellen sich hie und da rosenfarbene Trupps der Grasnelke. Im Maimonat sieht man von Sad-Huurn, der Südspitze des Felsenplateaus, aus den ganzen Ostabhang mit den reingelben Blüthenrispen des wilden Kohls bedeckt. Eigentümlich contrastirt das Gelb dieser Pflanze, rein und frühlingsathmend wie das der Schlüsselblumen, zu dem rothen, grünlichweiß gebänderten Felsen. Ueberschreitet man Abends die Felder und Triften, so fehlt es nicht am Duft des Kopfklees, der in höchster Ueppigkeit und in seltener Farbenmannigfaltigkeit gedeiht, vom reinsten Weiß durch alle Uebergänge von Weiß und Rosa bis zum dunkelsten Purpur, und auf’s Zierlichste gestreift. Man empfindet den Duft der großen Bohne und des wilden Senfs; aber alle diese Eindrücke, wenn auch anmuthig in ihrer Art, stehen zu vereinzelt da, um wahres Frühlingsgefühl wachzurufen; sie sind nicht im Stande, das Laubdach des Waldes oder den Gesang der Vögel zu ersetzen.

Vogelgesang? Woran erinnert mich dieses Wort? Wenn einmal eine unglückliche Nachtigall auf ihrem Durchzug auf der Insel rasten sollte, so wird man sie nicht anders, als gebraten oder gekocht zu sehen bekommen. Statt der Jubelhymnen der kleinen befiederten Sänger hört man nur ihren Todesschrei, da ihnen auf alle erdenkliche Weise nachgestellt wird. Es ist auf alle Fälle ein Unglück, wenn ein Volk die soliden Erwerbsquellen verläßt und im Trüben zu fischen sucht; was aber soll man von einem Volke sagen, welches so von seiner Regierung vernachlässigt wird, daß nicht einmal ein ordentlicher Schulzwang besteht, so daß die Kinder von früh an zum Müßiggang und zu allerlei schlechten Streichen förmlich erzogen werden. Leider habe ich von erwachsenen jungen Leuten oft Grausamkeiten an Thieren verüben sehen, welche mich schaudern machten, aber empörend ist es, wenn Menschen die Zielscheibe von Unbilden sind, welche von Rohheit und Müßiggang eingegeben werden. Wenden wir uns ab von diesen trüben Eindrücken und dem Meere zu.

Alle ästhetischen Eindrücke des Meeres tragen den Charakter des Großartigen, Erhabenen, Unendlichen. Von den schreckenerregenden Bildern der Octoberstürme, unter deren Tosen und Brüllen ich diese Zeilen niederschreibe, von den schneeweißen Sturmwogen der Brandung, welche über den Mastspitzen des gescheiterten Schiffes auf der Ande oder Südspitze der Düne schäumend zusammenschlagen, bis zu der spiegelglatten, ungeheueren Fläche am heißen Sommertage, so still, daß man es für unmöglich hält, diese friedliche Fluth könne jemals in so Entsetzen erregende Bewegung gerathen, oder in der Nacht, wenn der Mond sein silbernes Licht darüber ausgießt. so daß sie, sanft bewegt, wie Millionen Funken aufglitzert, in allen Stimmungen drückt sich die Empfindung ungeheurer, unendlicher Größe, Kraft und Erhabenheit aus, in allen fehlt das Milde, Sanfte, Anmuthige, oder wo es vorhanden zu sein scheint, da finden wir uns meist in einer Täuschung befangen. So glaubt man oft, in warmer, mondheller Nacht auf der Düne lustwandelnd, selbst bei wolkenlosem Himmel das leise Rauschen eines milden Frühlingsregens zu vernehmen, bis man seinen Irrthum gewahr wird. Tausende und Abertausende einer kleinen Crustacee, den eßbaren Krabben ähnlich, aber kleiner, hier Sandflöhe genannt, am Tage im Sande vergraben, kommen Nachts schaarenweise hervor aus ihren Verstecken und springen bei Annäherung des Menschen hoch empor, wodurch sie das eben erwähnte Geräusch hervorbringen, welches täuschend dem Rieseln sanften Regens gleicht. Trotz alledem ist der Meeresfrühling wunderbar ergreifend, überwältigend schön. Wer im Sommer am warmen, stillen Nachmittag hinausfährt auf die Seehundsklippen, dann zwischen den bewachsenen Reihen der Kreideriffe hinabschaut in die vollkommen durchsichtige Fluth, indem er sich über den Bord des Bootes neigt; wer dort unten in nicht unbedeutender Tiefe die submarinen Waldungen erblickt, die langen, über einen Fuß breiten, wellenförmig gebogenen, glänzenden Bänder des Zuckertangs, auf langen, fleischigen Stengeln schwankend bewegt, – den noch schöneren Riesentang oder Fingertang, dessen breites Blatt aus mehrere Fuß langem Stamm fingerförmig in lange Riemen sich spaltet, gleichsam eine Fächerpalme des Meeres darstellend; zwischen diesen Riesen der Nordsee die verschiedenen Blasentange oder an seichteren Stellen den höchst eleganten Schotentang, von einer dicken, glockenförmigen Wurzelscheibe einen vielfach verästelten, mit zierlichen Schoten und platten Zweigen bedeckten Stengel entsendend, das Unterholz des Meeres darstellend; ferner die viele Ellen langen, unverzweigten Meeresbindfaden, in Büscheln vereint aus ziemlicher Tiefe bis an die Oberfläche aufsteigend; wer dann zwischen ihnen am Meeresboden zierliche Seesterne, Schnecken und Muscheln, auf den Riffen zahlreiche Seeanemonen, auf den großen glatten Tangen die allerliebste Schüsselschnecke erblickt, schwarzbraun mit himmelblauen, metallglänzenden Längsstreifen; – wer dieses Alles und unzähliges Andere zur Sommerzeit gesehen hat, der jubelt wohl auf über den Reichthum des Meeres, aber von der ungeheuern Mannigfaltigkeit der erstaunlichen Pracht der Meeresvegetation und der Meeresfauna zur Frühjahrszeit hat er kaum ein schwaches Spiegelbild erhalten.

Es ist zwei bis drei Tage nach Vollmond und einer jener stillen, friedlichen Tage, wie das Meer sie nur im Spätherbst und im Vorfrühling aufzuweisen hat. Kaum bemerken wir das leise Säuseln des Ostwindes, welcher die Atmosphäre gereinigt hat, so daß das Firmament im reinsten Hellblau erscheint, die Wasserfläche im Vordergrund tiefblau, in größerer Entfernung immer mehr in das Silberglänzende hinüberspielend, so daß in ungemessenen Entfernungen ein Silberstreifen nach dem andern sichtbar wird, bis an den Horizont, welcher so weit, so klar, so bestimmt um uns sich ausbreitet, wie wir im Sommer ihn niemals oder doch höchst selten gesehen haben. Ostwind und Springebbe vereinigen sich, um die Nordsee ungewöhnlich weit von der oberen Fluthmarke zurücktreten zu machen, so daß wir im Stande sind, rings um Helgoland weit hinaus zu schreiten auf den rothen Klippengrund. Das Wasser gestattet uns vermöge seiner außerordentlichen Klarheit und Durchsichtigkeit einen Blick bis in beträchtliche Tiefen. Wir betreten die langen, mit den größeren Tangen dicht bewachsenen Klippenreihen, zwischen denen sich lange Spalten (Gotteler) von größerer oder geringerer Tiefe befinden, welche, nur selten mit weißem Sand ausgefüllt, in den meisten Fällen das Leben des Meeres in üppigster Fülle zur Anschauung bringen. Dort sind die wunderbaren Waldungen, die uns in ihren seltsamen, fast fremden Gestalten ein Feenmärchen vor die Seele zaubern. Ja, fremd schauen dem Uneingeweihten im Anfang Pflanzen wie Thiere des Meeres entgegen; dennoch fühlt er, daß ihm hier eine Schönheit, Mannigfaltigkeit und Fülle der Formen entgegentritt, wie sie nur im Tropenwalde ihres Gleichen finden.

Der große Zauber der Frühlingsvegetation des Meeres und ihrer Ueppigkeit liegt erstens darin, daß die meisten Algen entweder nur im Frühling zum Vorschein kommen oder wenigstens um diese Zeit ihr schönstes Kleid anlegen. Fast alle Algen, ganz besonders aber die prachtvollen Florideen, haben zu verschiedenen Jahreszeiten ein so durchaus verschiedenes Aeußere, daß nur ein aufmerksamer Beobachter die zu einer Art gehörigen Formen als zusammengehörig anerkennt. Der zweite Umstand, welcher zur Erhöhung des Eindrucks dient, ist der, daß die Algen vorzugsweise im Frühjahr oder in den letzten Wintermonaten in Blüthe stehen oder richtiger Früchte tragen. Ist einerseits der Zustand der höchsten Fruchtentwickelung bei diesen merkwürdigen Pflanzen auch der Zustand der größten Schönheit und Vollendung der Form, so kommt andererseits bei der ganzen großen Gruppe der Rhodospermeen oder Rothfrüchtigen noch hinzu, daß man bei jeder Art verschiedenartige Früchte aus verschiedenen Pflanzen findet, oft einander

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