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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

„Wer sollte ihn denn fortgelassen haben?“ fragte ich.

„Das ist es ja eben,“ meinte er. „Und dann, wenn ein Gefangener, dem es an den Hals geht, einmal fort ist, wie wird es dem einfallen, wieder zu kommen?“

„Das ist richtig. Wo liegt das Gefängniß des Freiherrn?“

„Dort.“ Er zeigte nach einem Eckfenster zwei Treppen hoch, in dem rechten Flügel des Gebäudes.

„Hm,“ sagte ich. „An dem Innern des Gebäudes ist mir weniger gelegen. Ich schließe schon darauf von dem Aeußern. Ich möchte gern einen Ueberblick des Ganzen haben, namentlich der Umgebungsmauer und der Lage der Wohnungen der Gefängnißbeamten.“

„Die Gefängnißbeamten wohnen unten im Hause,“ sagte er.

„Alle?“

„Nein. Nur der Inspector, der Hausvater und drei Gefagenwärter.“

„Mit ihren Familien?“

„Nur der erste Gefangenwärter, auch Hausvater genannt, hat Familie. Er wohnt dort im rechten Seitenflügel.“

„Führen Sie mich um das Haus herum.“

Er that es, nachdem er einem andern Aufseher aufgetragen hatte, auf das Eingangspförtchen zu achten.

Die Wohuung des Hausvaters, wie der Gefangenwärter sie mir gezeigt, lag jenseits einer Mauer, an der wir standen. Es schien dort ein Garten zu sein; Obstbäume ragten über die Mauer. Der Garten war das Ziel meiner Wünsche. Der Gefangenwärter führte mich um das Gebäude herum, und wir kamen zuletzt, auf der anderen Seite, in der That an einen Garten. Er hatte eine Hecke auf jener Seite.

„Dürfen wir hineingehen?“ fragte ich meinen Führer.

„Warum nicht?“

Er führte mich hinein. Drei Fenster, mit Blumentöpfen besetzt, gingen in den Garten.

„Das ist wohl die Wohnung des Hausvaters?“ fragte ich gleichgültig meinen Führer.

„Ja.“

Ich suchte das blasse Kind hinter den Blumen. Sie war nicht da. Aber hinten in dem Garten, in einer Laube, glaubte ich Frauenkleider zu sehen. Ich machte, daß wir auf Umwegen dahin kamen. Das blasse Kind war in der Laube. sie lag auf einer Bank, auf Kissen und sah sehr angegriffen aus, und sie war so schön dabei. Eine ältere Frau war bei ihr. Es war ihre Mutter, wie sich zeigte. Mein Führer wandte sich an die Frau.

„Ist die Mamsell Anna nicht wohl, Frau Niemann?“

Die Frau trat vor die Laube.

„Ich weiß nicht, was dem Mädchen fehlt. Blaß war sie immer, aber sie war doch sonst gesund. Seit vier Wochen kränkelt sie immer, und seit drei Tagen ist es gar schlimm mit ihr. Heute Nacht, meinte ich, hätte sie ruhig geschlafen; ich hatte sie bis zum Morgen nicht gehört. Aber wie ich heute Morgen aufwache, liegt sie in heftigem Fieber, und nachher war sie mir aus den Augen gekommen und drüben in den Gerichtssaal gegangen, und von da haben die Leute sie mir ohnmächtig nach Hause zurückgebracht.“

„Was sagt denn der Doctor, Frau Niemann?“ fragte der Gefangenwärter.

Die Frau antwortete. Sie sprachen weiter darüber. Ich war in die Laube getreten, zu dem kranken Kinde. Sie lag so schon da, mit dem feinen, weißen Gesichte, wie ein Engel, aber – wie ein sterbender Engel. Und sie konnte kaum sechzehn Jahre alt sein und sollte schon sterben! Mit ihrem liebenden, wehen, wunden Herzen! Die Mutter wußte nicht, wie das Kind plötzlich so krank geworden sei, gekränkelt habe es freilich schon lange. Auch der Arzt hatte es nicht gewußt, wie sie dem Gefangenwärter erzählte. Das Kind wußte es wohl, und auch ich wußte es jetzt, und ich wußte noch mehr, ich wußte auf einmal Alles, Alles, worauf ich bisher nur gerathen hatte.

Das brave, treue, junge Leben sollte geopfert werden!

Fiat justitia et pereat mundus!

Es wurde hier einmal in anderer Weise angewendet. Mir wollte tief im Innern ein Zorn aufsteigen gegen den Mann, der sich so von der Hand des Henkers befreien ließ, der zu dem einen Morde den zweiten hinzufügte; gegen den Vertheidiger, dessen eigentliches Werk dieser zweite Mord war. Ich hatte keinen Zweifel darüber. Jenes unbewegliche, unergründliche, kalte Gesicht, die glatt angestrichenen blonden Haare des Mannes – ich kann nun einmal die glatten blonden Haare nicht leiden – der ganze gewandte, eiskalte, berühmte Advocat der Residenz ließ keinen Zweifel mehr in mir zurück. Sollte ich ihm sein Spiel verderben? Ich konnte es. Nur ein Fingerzeig gegen irgend einen Menschen auf das blasse, sterbende Kind in der Laube! Sie konnte dem inquirirenden Präsidenten keine fünf Minuten lang widerstehen.

Aber die Wehmuth, das Mitleid unterdrückte den Zorn in mir. Mußte das arme Kind sterben – und sie mußte es, sie hatten das junge, zarte Leben bis in den innersten Keim vernichtet – wie konnte ich ihr dann noch in ihren letzten Stunden das Glück ihres Lebens rauben, das Glück, den Mann ihres Herzens, ihrer Liebe, ihrer Träume gerettet zu haben? Wie konnte ich sie nur den Qualen eines Verhörs aussetzen? Und dann, war der Mann, den sie rettete, wirklich der kalte, nur um Leben gegen Leben rechnende Mörder gegen sie? Hatte nicht jener tiefe Schmerz ihn durchzuckt, da er sie auf einmal in dem Gerichtssaale sah?

Ich war in die Laube zu dem kranken Kinde getreten. Ich hatte ein Gespräch mit ihr anknüpfen wollen, über ihre Anwesenheit im Saale, über Weiteres, was damit in Verbindung stand; ich hatte so klar wie möglich sehen wollen. Aber ich konnte es nicht, als ich sie näher, als ich sie so elend sah.

Und ein Anderes kam hinzu, das mir tief in die Seele schneiden wollte. Der Gefangenwärter trat auf einmal rasch zu mir in die Laube.

„Gehen wir, mein Herr!“

Er war ängstlich. Ich verließ die Laube. Vorn im Garten war der Präsident erschienen. Gerichts- und Gefängnißbeamte waren in seiner Begleitung. Es überlief mich heiß und kalt. Wohin wollten sie? Wohin konnten sie anders wollen, als zu dem kranken Kinde? War schon Alles entdeckt?

Ich mußte fort. Der Präsident und seine Begleiter durften mich, den der Gefangenwärter ohne Erlaubniß hierher gebracht hatte, nicht sehen. Mein Begleiter führte mich seitab, hinter Hecken, aus dem Garten. Als ich hinaus treten wollte, sah ich die Beamten auf die Laube zuschreiten.

„Das arme Kind hat schon lange die Auszehrung,“ sagte er im Gehen. „Die Leute wollen’s nur selber nicht wissen. Was mögen die da wollen?“ fragte er sich dann.

Ich wußte es, und das Herz bebte mir. Ich verließ das Gefängniß.

Die Stunde, nach deren Ablauf die Schwurgerichtssitzung wieder beginnen sollte, war vorüber. Ich kehrte in den Sitzungssaal zurück. Der Zuschauerraum war überfüllt. Die Geschworenen waren auf ihren Plätzen. Die Beamten waren noch nicht da, und der Angeklagte war daher noch nicht hereingeführt. Der Präsident mußte mit seinen Ermittelungen noch nicht zu Ende sein.

Nach einer halben Stunde erst trat der Gerichtshof wieder ein; hinter ihm der Staatsanwalt, von einer anderen Seite der Vertheidiger. Der Angeklagte wurde wieder hereingeführt. Der Präsident sah sehr feierlich aus. Der Staatsanwalt suchte ein feierliches Gesicht zu machen, und es glückte ihm. Der Vertheidiger versuchte dasselbe, aber mit weniger Erfolg.

Der Angeklagte saß kalt und theilnahmlos da, wie vorher. Der Präsident eröffnete die Sitznug wieder. In dem ganzen Saale herrschte die erwartungsvollste Stille. Der Präsident wandte sich an die Geschworenen.

„Meine Herren Geschworenen, ich habe Ihnen zunächst Mittheilung von dem Vorfalle zu machen, der vor einigen Stunden Veranlassung werden mußte, die Sitzung auf kurze Zeit aufzuschieben. Der Wirth und die Wirthin von der fünf Meilen von hier gelegenen Eisenbahnstation Wiekel hatten sich hier eingefunden, um dem Criminalgerichte Anzeige von einem eigenthümlichen verbrecherischen Ereignisse zu machen. In der verflossenen Nacht war ein Reiter in das Wirthshaus gekommen, den sie zu ihrem Erstaunen als den Angeklagten erkannt hatten. Eine gewisse Scheu hatte sie abgehalten, ihm das zu sagen. Nach einer Weile hatte aber der Reiter mit einem der noch anwesenden Gäste Streit bekommen, gegen den Mann jäh ein Messer gezogen und ihm einen gefährlichen Stich in die Brust beigebracht. Man hatte ihn darauf verhaften wollen. Er hatte ein Doppelterzerol hervorgezogen, und man hatte nicht gewagt ihn anzugreifen. Er hatte das Haus verlassen, sich auf sein Pferd geworfen und war im Galopp davon gesprengt. – Meine Herren Geschworenen, Sie werden die Wichtigkeit dieses Ereignisses für die gegenwärtige Untersuchung einsehen.

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