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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

wie früher stets, durch den Oberaufseher Zerbst in seiner Zelle eingeschlossen, und zwar in der nach der Jüdenstraße belegenen zweiten Abtheilung der Zelle, in welcher sich seine Schlafstätte befand. Die hölzerne Lade am Fenster nach der Jüdenstraße, die hölzerne Gitterthüre, die beiden Eingangsthüren zu der Zelle wurden von ihm vorschriftsmäßig verschlossen. Die in zwei Exemplaren vorhandenen Schlüssel lieferte der Oberaufseher Zerbst der erhaltenen Anweisung gemäß ab, das eine Exemplar an den Director Jeserich, welcher es während der Nachtzeit in seiner Stube verwahrte, das andere Exemplar an den diensthabenden Polizeiinspector Schäffer, welcher es in die in der Revierstube stehende Spinde verschloß, den Spindeschlüssel auf die Spinde legte, demnächst auch die Revierstube verschloß und den Schlüssel zur Revierstube an den Portier Marquardt abgab. Die Beamten hatten pünktlich ihre Pflicht erfüllt.

An dem nämlichen 6. November Abends saß ein großer Theil der Beamten der Anstalt in fröhlichster Stimmung und nichts Arges ahnend im Krüger’schen Gasthause bei einer Bowle Punsch, mit welcher der Geburtstag eines der Anwesenden gefeiert ward. Ein Witz jagte den anderen, und die Unterhaltung war so interessant und so belebt, daß sie sich erst lange nach Mitternacht von der Gesellschaft zu trennen vermochten.

Am dem nämlichen 6. November Nachts 11½ Uhr öffnete der Gefangenwärter Brune, der wiedernm, wie am Abende vorher, die Nachtwache im Corridor hatte, mit dem Nachschlüssel die wohlverschlossene Revierstube, holte den auf die Spinde gelegten Schlüssel zu derselben herunter, schloß damit die Spinde auf, nahm die von dem diensthabenden Polizeiinspector Schäffer einige Stunden vorher hineingelegten, an einem Ringe befindlichen drei Schlüssel zur Kinkel’schen Zelle aus der Spinde und schloß die Revierstube vorsichtig wieder zu.

Zu derselben Zeit war ungeheuere Heiterkeit im Krüger’schen Gasthause; einer der Theilnehmer an der Bowle hatte einen Berliner Witz zum Besten gegeben.

Der Gefangenwärter Brune ging mit seinen Schlüsseln zu der Zelle Kinkel’s und schloß mit dem einen Schlüssel die erste Eingangsthür zu derselben, mit dem andern die zweite Eingangsthür auf.

Ein Hoch auf das Geburtstagskind im Krüger’schen Gasthause!

Auch im Zuchthause zu Spandau sollte Jemand zu neuem Leben erwachen. Von draußen fiel ein schwacher Lichtstrahl in die Zelle Kinkel’s, und dieser stand hinter dem hölzernen Gitter in der zweiten Abtheilung seiner Zelle, sehnsüchtig und voll Todesangst seiner Befreiung aus schauerlicher Einsamhaft entgegensehend. Der Gefangenwärter Brune erschien ihm wie ein rettender Engel. Wie lange schon hatte er in qualvoller Ungewißheit, wie ein Verurtheilter, welcher auf dem Schaffot nur noch die Hoffnung auf Gnade hat, auf ihn gewartet! Nur noch ein Hinderniß, das hölzerne Gitter, sperrte den Ausgang aus der Zelle.

„So, Herr Professor, nun ist es Zeit, nun treten Sie heraus,“ sagte Brune zu Kinkel, indem er mit dem dritten Schlüssel die hölzerne Gitterthür zu öffnen versuchte.

Aber es war noch nicht Zeit. Brune versuchte vergebens, mit dem dritten Schlüssel die Gitterthür aufzuschließen.

„Können Sie nicht öffnen?“ fragte Kinkel unruhig.

„Verdammt! Der Schlüssel paßt nicht,“ erwiderte Brune erschrocken. „Sie werden absichtlich einen verkehrten Schlüssel an dem Ringe befestigt haben, um für den äußersten Fall die Aufschließung der Gitterthür zu verhindern. Was nun?“

Er hatte zu fein gerechnet und die Schlauheit der Inspection zu hoch taxirt. Der kleine Schlüssel, mit welchem Brune die Gitterthür öffnen wollte, gehörte zu der hölzernen Lade an dem nach der Jüdenstraße belegenen Fenster. Bei kaltem Blute und ruhiger Ueberlegung würde er wenigstens versucht haben, das Schloß der Gitterthür mit einem der Schlüssel zu den Eingangsthüren zu öffnen. Der Schlüssel zu der äußern Eingangsthür schloß in der That auch die Gitterthür. Unglücklicher Weise verfiel darauf weder Brune noch Kinkel.

Beide standen sprach- und rathlos sich gegenüber. Kinkel hielt die starken hölzernen Latten krampfhaft umfaßt. Es war ein verzweiflungsvoller Augenblick. Ein paar armselige Latten von Holz widersetzten sich erfolgreich der Flucht und sperrten die Spanne Weges vom Tode zum Leben. Der rechte Schlüssel war in ihrer Hand, aber sie wußten es nicht. An wie schwachen Fäden hängt oft Glück und Unglück der Menschen!

Aber nur wenige Augenblicke dauerte ihre Unschlüssigkeit, sie war nur der Anlauf zu verdoppelter Energie. Kinkel kämpfte ja für sein Leben, und Brune war zu dem Aeußersten entschlossen, um sein Wort zu lösen.

Brune zog seinen Säbel und versuchte auf alle mögliche Weise, den starken Riegel des Schlosses zurückzuschieben oder das Schloß selbst abzubrechen. Kinkel bemühte sich gleichzeitig mit einem kleinen Messer, welches er im Besitz hatte, die nächste Latte neben der Thüre links vom Eingange aus zu durchschneiden. Nachdem er aber die Fruchtlosigkeit seines Beginnens eingesehen hatte, drängte und stieß er gegen die untere Querleiste des Gitters, um deren äußere Bekleidung zu lösen.

Fast eine Viertelstunde erschöpften sie sich vergeblich in diesen Anstrengungen. Das Schloß und das Gitter waren zu stark für ihre Kräfte.

Da ging Brune, sich zu einem verzweiflungsvollen Entschlusse ermannend, aus der Zelle.

Während seiner Abwesenheit rüttelte Kinkel mit der äußersten Kraft an dem Gitter, wie der wutherregte Löwe, der die Eisenstäbe seines Käfigs zu zerbrechen versucht. Alles vergebens.

Nach kurzer Zeit sah er Brune mit einer Axt zurückkehren. Der Augenblick war gekommen, wo um Freiheit und Leben va banque gespielt werden mußte.

Brune schwang die Art hoch empor und führte mit aller Kraft verschiedene Schläge gegen das Gitter. Das ganze Gewölbe erdröhnte. Die Gefangenen in den Zellen erwachten. Erwachte auch der Director Jeserich? Er schlummerte sorglos weiter, hatte er ja doch das zweite Exemplar der Schlüssel zur Kinkel’schen Zelle unter seinem Kopfkissen verborgen.

Im Krüger’schen Gasthofe ertönte ein lustiger Rundgesang.

Kinkel und Brune lauschten athemlos, ob Jemand sich nähere. Alles still. Durch die furchtbaren Axtschläge hatte sich die Leiste am Fußboden und der untere Querriegel von den beiden Latten neben der Thüre links vollständig gelöst. Mit der Riesenkraft, welche die Verzweiflung verleiht, stemmte nun Kinkel sich gegen die beiden Latten, und es gelang ihm, dieselben von innen heraus loszubrechen. An dem oberen Querriegel war die eine Latte dergestalt eingebrochen, daß man ihr unteres Ende mit der Hand über einen Fuß weit von der Leiste am Fußboden losbiegen konnte. Die Latte daneben war gleichfalls von dieser Leiste und von dem unteren Querriegel gelöst, ließ sich aber sehr wenig zurückbiegen, weil sie an dem oberen Querriegel nicht eingebrochen war. Durch das Zurückbiegen der beiden Latten entstand unter dem unteren Querriegel ein offener Raum, durch welchen sich ein nicht zu starker Mann durchzwängen konnte.

Schon seit längerer Zeit hatte Kinkel in prophetischer Voraussicht der kommenden Dinge an seiner Gitterthüre gymnastische Uebungen zu dem Zwecke angestellt, um seinen großen breitschultrigen Körper durch eine möglichst enge Oeffnung hindurchzubringen. Diese kamen ihm jetzt trefflich zu statten. Mit Hülfe Brune’s gelang es ihm, sich durch den erwähnten offenen Raum glücklich hindurchzuzwängen. Das letzte Hinderniß, welches ihm den Ausgang aus der Zelle verwehrte, war damit beseitigt.

Beide verließen darauf die Zelle, deren äußere Eingangsthür Brune wieder verschloß. Sie stiegen leise die Treppe hinunter auf den Hof und durch die nächste Hofthür links wieder in das zweite Stockwerk hinauf. Hierauf gingen sie durch die Säle und Gänge, zu welchen Brune als Nachtaufseher den Schlüssel hatte, immer im zweiten Stockwerke, und kamen endlich in die Wollkämmerei, welche ungefähr gerade unter jenem nach der Potsdamer Straße führenden Dachfenster lag, durch welches die Flucht bewerkstelligt werden sollte.

In der Wollkämmerei warteten sie, bis der bei jenem Fenster postirte Nachtaufseher Knöfel sich nach dem zweiten Hofe begeben würde, wie er dies jeden Abend um diese Zeit zu thun gewohnt war. Alle glücklich beseitigten Gefahren waren umsonst, wenn ihre Berechnung fehlschlug und der nicht in’s Geheimniß gezogene Knöfel in dieser Nacht von seiner Gewohnheit abwich. Aber nachdem sie etwa eine Viertelstunde in ängstlicher Spannung gewartet hatten, kam Knöfel wirklich die Treppe herunter. Sie schlichen darauf dieselbe Treppe hinauf, auf welcher jener herunter gegangen war, nach dem dritten Stockwerk, und gelangten zu dem Raum zwischen dem Dachfenster und den Schlafsälen.

Brune öffnete ein vor dem Dachfenster befindliches Lattengitter mittelst des dazu gehörigen Schlüssels. Darauf krochen Beide in

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 135. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_135.jpg&oldid=- (Version vom 15.10.2019)