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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)


zu dem Präsidenten. Der Präsident fuhr plötzlich überrascht auf, warf ebenfalls einen forschenden, aber zugleich zweifelnden Blick auf den Angeklagten, wandte sich zu dem Beamten zurück, der hinter seinem Stuhle stehen geblieben war, und sprach leise mit ihm. Er schien ihm die Zweifel mitzutheilen, die man in seinen Augen las. Der Beamte schien bei dem zu bleiben, was er gesagt hatte. Der Präsident gab ihm einen Befehl. Der Beamte entfernte sich.

Die beisitzenden Richter hatten neugierig zugehorcht. Sie hatten wohl nur einzelne Worte verstanden. Sie waren desto neugieriger geworden. Der Präsident schien ihre Neugierde zu befriedigen. Auch sie fuhren auf, sahen verwundert den Angeklagten an, schüttelten ungläubig die Köpfe. Erwartungsvoll blieben sie Alle. Auch das Publicum, dem der Zwischenfall nicht hatte entgehen können, war neugierig geworden. Nur der Vertheidiger hatte ruhig in seinem Vortrage fortgefahren. Er durfte sich ja auch nicht unterbrechen, bis der Präsident ihn unterbrach. Dies geschah bald.

Der Beamte des Gerichts, der dem Präsidenten die geheimnißvolle und überraschende Mittheilung gemacht hatte, trat durch die Thür, die in den Zeugenraum führte, wieder in den Saal. Zwei Personen folgten ihm, ein Mann und eine Frau. Die beiden Leute waren in einer Kleidung, die zeigte, daß sie unmittelbar von der Reise kamen. Sie sahen verstört aus. Es schienen wohlhabende Landleute zu sein. Der Beamte führte sie in den Raum, gerade der Bank des Angeklagten gegenüber und sprach dann zwei leise Worte zu ihnen und zeigte auf den Angeklagten. Sie blickten nach diesem. Das lebhafteste Erstaunen malte sich in ihren Gesichtern. Sie sahen den Angeklagten mit Scheu an.

„Ja?“ fragte der Beamte sie leise.

„Ja!“ antworteten sie bestimmt.

Der Beamte nickte mit dem Kopfe nach dem Präsidenten hin. Der Präsident erhob seine Stimme:

„Ich bitte den Herrn Vertheidiger, seinen Vortrag zu unterbrechen. Es ist ein Umstand eingetreten, der eine sofortige Berathung des Gerichts erfordert.“

Der Vertheidiger schwieg. Das Gericht verließ den Saal. Der Beamte hatte die beiden fremden Personen unterdeß schon hinausgeführt. Was für ein Umstand war eingetreten, der eine so dringende Berathung des Gerichts erforderte? Der ganze Saal fragte es sich. Auch der Vertheidiger fragte es. Niemand hatte eine Antwort. Aber die beiden Personen, die der Beamte in den Saal geführt hatte, waren nicht allen Anwesenden fremd gewesen. Die vernommenen Zeugen waren im Saale geblieben; auch sie hatten die beiden Leute gesehen, und einige von ihnen hatten sich über ihre Erscheinung nicht minder verwundert, als die Zwei bei dem Anblick des Angeklagten erstaunt gewesen waren. Die sich so verwunderten, waren der Aufwärter und der Stallknecht von der Eisenbahnstation Wiekel, die über die Anwesenheit des Angeklagten auf der Station in der Nacht des Verbrechens vernommen waren. Sie haben ihre Herrschaft erkannt, hieß es bald durch den Saal. Der Mann und die Frau waren die Wirthsleute von der Station. Aber was mit ihnen geschehen war, zu welchem Zweck sie hier waren, was der Grund ihrer Verwunderung, ihrer Scheu gewesen war, das wußte dennoch Niemand, wenn man auch wußte, wer sie waren.

Der Angekagte allein war ruhig geblieben, unzweifelhaft er der Einzige im Saale. Er hatte aufgeblickt, als die beiden Personen ihm gerade gegenüber aufgestellt wurden. Er schien sie ebenfalls erkannt zu haben, aber er hatte in demselben Moment keine Notiz weiter von ihnen genommen; sie schienen ihm völlig gleichgültige Menschen zu sein, die er wohl früher gesehen hatte, die ihn aber sonst in der Welt nichts angingen, auch hier nicht. So war er in seine kalte, vornehme Theilnahmlosigkeit zurückgefallen.

Das Gericht kehrte in den Saal zurück.

„Die Sitzung wird für eine Stunde aufgehoben,“ verkündete der Präsident. „Ein Umstand, der für die Verhandlung von großer Wichtigkeit zu sein scheint, bedarf, um in sie hineingezogen werden zu können, einiger Vorbereitungen.“

Wie ein vom Sturm getriebener Strom ergoß es sich aus allen Thüren des Saales. Was ist geschehen? Welcher Umstand kann noch für die Verhandlung von großer Wichtigkeit sein? Draußen mußte man es erfahren.

(Fortsetzung folgt.)



Der Eisenbahnknotenpunkt Olten in der Schweiz.


Der langsam und unwiderstehlich, gleich einer Naturkraft wirkende Einfluß der Eisenbahnen, der Alles von seiner Stelle rückt, aus Einöden Marktplätze und aus bevölkerten Thälern Einöden macht, Dörfer in Städte und Städte in Dörfer umwandelt, macht sich auch in der Schweiz fühlbar. Gestatten Sie mir, diesen bereits trivial gewordenen Satz durch ein Beispiel aus Hunderten zu erläutern.

Olten, am Südfuße des Jura und an der Aar gelegen, war vor einem Jahrzehnt nicht mehr noch weniger als ein kleines Landstädtchen. Zwar zählte es sich schon damals keineswegs zu den geringsten in Israel, nicht sowohl deshalb, weil es schon zur Römerzeit bestanden hatte, wo es Ultinum hieß, sondern vielmehr wegen des stets bewährten freisinnigen, vielleicht sogar etwas revolutionären Geistes seiner Einwohnerschaft, und dann weil es einige Namen von gutem Klang, den schweizerischen Bundespräsidenten Munzinger, den genialen Maler Disteli, zu seinen Bürgern zählte. Dennoch war Olten mit seinen 1600 Einwohnern nichts Anderes als ein Landstädtchen, wo jedes Jahr ein paar besuchte Jahrmärkte abgehalten wurden und täglich einige Postwagen die Pferde wechselten.

Ansicht von Olten.

Da kamen die Eisenbahnen. Der Bau des Hauensteintunnels, schauerlichen Angedenkens, wurde begonnen und zu Ende geführt. Durch die innersten Eingeweide des Jura rasselten die Locomotiven und verbanden Basel mit der innern Schweiz. Von Olten, welches an die Ausmündung des Tunnels zu stehen kam, breiteten sich die Schienenwege fächerförmig aus: östlich nach Zürich, St. Gallen und den Bodensee, südlich nach Luzern und den Vierwaldstättersee, westlich nach der Bundesstadt Bern, nach Biel und den Seen von Neuchatel und Genf. Das Landstädtchen war zu einem Eisenbahnknotenpunkt geworden. Als nächste Folge entstand ein weitläufiger Bahnhof, in welchem stündlich lange Wagenzüge ein- und ausfahren, – lange und breite Hallen von Ein- und Aussteigenden wimmelnd, endlich eine geräumige Eisenbahnwirthschaft, wo hungrige und durstige Reisende in ungeduldiger Hast die Bedürfnisse ihres Magens und Gaumens befriedigen. Dahin kommen nun Tag für Tag die alten Bürger von Olten und lassen die Passagiere aus aller Herren Länder, die hier zum Wagenwechsel gezwungen sind, Musterung passiren, lauschen der babylonischen Sprachverwirrung, vergleichen das Einst und Jetzt und freuen sich, daß republikanische

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 132. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_132.jpg&oldid=- (Version vom 22.3.2024)