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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

dazu, um sich durch solchen unglücklichen Zufall entmuthigen zu lassen. Er genas bald wieder und begann nun um so energischer die Vorbereitungen zu seinem Unternehmen.

Als Schurz eines Tages auf der Straße ging, begegnete er einem alten Universitätsfreunde. Er suchte ihm auszuweichen. Dieser aber erkannte ihn und redete ihn, indem er ihm in neckischer Weise mit dem Finger drohte, mit den Worten an: „Ich weiß schon, warum Du hier bist!“ Schurz erschrak, aber er blieb unbefangen. Dieser Vorfall bestimmte ihn, sich seinen alten Universitätsfreunden aus Bonn, welche in größerer Zahl in Berlin studirten, offen zu nähern, weil er mit Recht dadurch um so mehr auf ihre Discretion rechnen zu können glaubte. Er präsentirte sich ihnen im Kaffeehause von Pietsch in der Leipziger Straße, wo sie vielfach verkehrten, und ward von ihnen jubelnd begrüßt. In Gesellschaft seiner Freunde führte er seinen wahren Namen, Fremden gegenüber nannte er sich Jüssen. Am 10. September verließ er aus Besorgniß, von der Polizei entdeckt zu werden, seine Wohnung, reiste nach Hamburg, kehrte von dort nach 14 Tagen wieder zurück und nahm dann seine Wohnung bis zur Flucht Kinkel’s bei dem Dr. Falkenthal in Moabit.

Fast drei Monate verweilte Schurz in Berlin, unbelästigt von der sonst so scharfsichtigen Berliner Polizei. Um die für die Flucht nothwendigen Geldmittel aufzubringen, konnte der Kreis der in das Geheimniß Eingeweihten nicht auf Wenige beschränkt bleiben. Hervorragende Mitglieder der demokratischen Partei waren von dem Vorhaben in Kenntniß gesetzt, und diese konnten wiederum nicht umhin, denjenigen ihrer Gesinnungsgenossen, deren pecuniären Beistand sie in Anspruch nahmen, allgemeine Mittheilungen über das, was im Werke war, zu machen. Allerdings waren es nur Wenige, welche den Fluchtplan in seinen Einzelnheiten entwarfen und kannten. Aber um die beabsichtigte Flucht Kinkel’s wußten Viele. Schon die Zahl derjenigen, von denen einzelne directe Hülfsleistungen in Anspruch genommen wurden, war nicht unbedeutend. Auch in Mecklenburg hatte man dazu verschiedene Persönlichkeiten gewonnen; man bedurfte ihrer, um die Relais bereit zu halten. Es freuet mich, es hier aussprechen zu können, daß alle diejenigen Mecklenburger, an die man sich von Berlin aus gewandt hat, bereitwilligst der an sie gerichteten Aufforderung entsprochen haben und zur bestimmten Zeit und am bestimmten Ort mit den Relais zur Hand gewesen sind. Der Zufall hat es gewollt, daß von den Relais kein Gebrauch gemacht werden konnte. Aber der gute Wille war da. Diejenigen unter ihnen, welche der demokratischen Partei angehörten, bedürfen keiner Anerkennung, denn sie thaten nur ihre Pflicht, indem sie zur Rettung ihres Gesinnungsgenossen, eines der hervorragendsten Führer der demokratischen Partei in Preußen, in der Stunde der Noth herbeieilten. Aber die gerechte Anerkennung darf demjenigen unter ihnen nicht versagt werden, welcher, der entgegengesetzten Partei angehörend, dennoch nicht zögerte, sich der Gefahr auszusetzen, als es galt, nicht dem politischen Gegner, wohl aber dem Menschen die rettende Hand zu reichen. Viel größer als die Zahl derjenigen, welche bei der Flucht direct thätig sein sollten, war die Zahl derjenigen, deren Geldmittel in Anspruch genommen wurden. Dessenungeachtet wurde das Geheimniß strenge bewahrt. Wenn Viele um ein Geheimniß wissen, so kommen sonst leicht unbestimmte Gerüchte in’s Publicum. In diesem Falle verlautbarte nichts. Die Polizei hatte nicht die geringste Ahnung von dem, was sich ereignen sollte, keine Warnung drang zu ihr. Man hat später viel von einer Begünstigung der Flucht von oben gefabelt. Die Reaction hat das Ihrige dazu beigetragen, solchen Fabeln Vorschub zu leisten. Als das Opfer ihren Händen entschlüpft war, da verbarg sie, um sich in der öffentlichen Meinung zu rehabilitiren, ihre Ohnmacht unter der Maske der Großmuth. Die Reaction war nicht großmüthig – wann ist sie es jemals gewesen? – aber die Polizeispione waren einem Kinkel gegenüber machtlos. Auf alle Fälle war es aber zweckmäßig eingerichtet, daß um den Fluchtplan selbst nur sehr wenige zuverlässige Personen wußten, so daß auch wenn die Polizei Wind von dem Unternehmen bekommen hätte, die Fäden zu demselben sehr schwer hätten aufgefunden werden können.

Die nöthigen Geldmittel wurden von der demokratischen Partei in Preußen, namentlich in Berlin und Stettin, aufgebracht. Ein bedeutender Beitrag kam von einer Seite, von welcher man es am wenigsten erwartet hätte. Die russische Baronesse Brüning, geb. Fürstin Lieven, gab zu dem Befreiungsversuch in hochherziger Weise die Summe von 2000 Thaler. Sie war bereits im Mai um dieselbe Zeit, wo Kinkel von Naugard nach Spandau transportirt wurde, in Berlin eingetroffen, um durch Verwendung bei den dortigen Behörden seine Lage zu verbessern. Im Juni kehrte sie nach kurzer Abwesenheit nach Berlin zurück und wohnte dort bis etwa Mitte Juli im Hotel de Rome. Die preußische Polizei hatte einige Zeit nach der Befreiung Kinkel’s Kunde von der Betheiligung der Fürstin am Unternehmen bekommen, und ließ in Hamburg, wo sie sich gerade mit ihrem Gemahl aufhielt, nach vorgenommener Haussuchung, bei welcher sich compromittirende Briefe fanden, ihre Sachen mit Beschlag belegen. Der Verhaftung entzog sie sich durch die Flucht nach England. Auch bedeutende Geldsummen und Werthpapiere wurden von der Polizei in Beschlag genommen. Diese aber mußten dem Baron Brüning, der sie als die seinigen reclamirte und von der Betheiligung der Frau an der Kinkel’schen Flucht keine Ahnung hatte, zurückgegeben werden. Einige Jahre später ist die Baronesse Brüning in London gestorben. Die Erinnerung an ihre That wird ihr die letzten Stunden leicht gemacht haben.

Nachdem Carl Schurz wieder hergestellt war, begab er sich fast jeden Abend zwischen 5 und 6 Uhr nach Spandau. Er wählte regelmäßig den auf dem rechten Spreeufer von Moabit nach Charlottenburg führenden Weg und legte diesen zu Fuß entweder allein oder in Gesellschaft Falkenthal’s oder eines anderen Freundes zurück. Von Charlottenburg fuhr er dann in einem einspännigen Wagen, welcher stets dem Schlosse gegenüber vor dem Kaffeehause von Morelli hielt, nach Spandau. Hier kehrte er bei dem Gastwirth Krüger ein und blieb, wenn er sich verspätet hatte, bei demselben die Nacht. Durch Falkenthal’s Vermittelung machte er die Bekanntschaft verschiedener in Spandau wohnender Personen, welche seinen Zwecken dienen konnten. Sie wurden in’s Geheimniß gezogen und sagten ihre Unterstützung zu. Schurz wagte sich auch in das Zuchthaus selbst. Falkenthal führte ihn darin umher und zeigte ihm die Zelle Kinkel’s.

Die Strafanstalt Spandau liegt innerhalb der Stadt. Sie bildet ein an vier Straßen grenzendes längliches Viereck und besteht aus zwei Abtheilungen, welche durch einen Querflügel getrennt sind. Sie hat zwei Eingänge von der Potsdamer Straße aus. Der eine, der Haupteingang, führt nach dem kleinen Hofe, der andere in die Dienstwohnung des Zuchthausdirectors Jeserich. Dem Haupteingange gegenüber führt eine steinerne Treppe in zwei Absätzen nach dem zweiten Stock hinauf. Die Zelle, welche sich auf dem zweiten Treppenabsatze unmittelbar links befindet, war Kinkel’s Isolirzelle. Diese erstreckt sich quer durch den Flügel von der Jüdenstraße nach dem Hofe und hat sowohl nach der Jüdenstraße als nach dem Hofe zu ein mit Eisenstäben versehenes Fenster. Das nach der Jüdenstraße führende Fenster ist von außen mit einem Blechkasten verwahrt, außerdem mit einem engen Drahtgitter und innerhalb mit einer aus zwei Flügeln bestehenden hölzernen Lade versehen, welche des Nachts mittelst eines Schlüssels verschlossen wird. Die Zelle selbst ist durch ein von der Decke bis zum Fußboden gehendes, aus starken, zwei Zoll von einander stehenden hölzernen Latten und hölzernen Querriegeln bestehendes Gitter in zwei Abtheilungen getrennt. Das Gitter hat eine ebenfalls aus Latten und Querleisten bestehende Thüre, welche nach der nach dem Hofe gerichteten Seite mit einem starken Schlosse versehen ist und während der Nacht verschlossen ward. Die Zelle hat nur den einen eben erwähnten Eingang von der Treppenflur aus und wird durch zwei mittelst verschiedener Schlösser verschließbare Thüren von starkem Holz verschlossen.

Nur zwei Wege gab es, Kinkel aus seinem wohlverwahrten Gefängniß zu befreien, entweder durch offene Gewalt oder heimlich durch List. Der erste Weg blieb außer aller Frage. Der zweite Weg war daher der einzige, welcher zum Ziele führen konnte. Er erforderte aber die Hülfe eines der Aufseher, welche Kinkel zu bewachen hatten. Die wichtigste und zugleich schwierigste Aufgabe war es, eine solche Hülfe zu gewinnen. Wie dies ohne Gefahr bewerkstelligen? Ein verfehlter Versuch konnte für immer die Sache zum Scheitern bringen. Die Vorsichtsmaßregeln wären verdoppelt und Kinkel wahrscheinlich in Ketten geschlagen worden, wenn die Behörde Kenntniß von dem Fluchtplan erhalten hätte. Man mußte also mit der äußersten Vorsicht zu Werke gehen. Es galt, einen der Aufseher zuvor für kleinere Dienstleistungen zu gewinnen, ehe man sich ihm

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