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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Ein Vertheidiger.
Von J. D. H. Temme.
(Fortsetzung.)


Die Thür, die in den Zuschauerraum des Saales führte, hatte sich leise geöffnet. Der Vertheidiger hatte nach ihr hingesehen. Da waren der Unwille, die Angst in seinem Gesichte. Ich folgte seinem Blicke nach der Thür hin und sah ein feines, blasses, fast noch kindliches Mädchengesicht an der Thür. Das Kind schien so eben eingetreten zu sein. Sie sah sich schüchtern in dem Saale um. Dann suchten ihre Augen etwas. Sie trafen den Vertheidiger; sein Anblick schien sie zu erschrecken. Sie suchte schnell weiter und sah den Angeklagten. Ihre Augen hefteten sich wie brennend auf ihn; aber es war tiefe bebende Angst, die darin brannte. Sie sah nur noch ihn.

Sie war einfach gekleidet und schien den mittleren Ständen anzugehören. In ihrer Nähe achtete Niemand auf sie. Außer dem Vertheidiger und mir hatte wohl Keiner sie gesehen. Der Angeklagte hatte die Augen nicht aufgeschlagen. Ob sie in irgend einer Beziehung zu dem Angeklagten oder dem Vertheidiger stand, konnte ich in keiner Weise enträthseln.

Es waren neue Zeugen eingetreten. Die Leute aus dem Kruge an der Eisenbahnstation Wiekel wurden vernommen. Der Angeklagte hatte, als er auf der Eisenbahn weiter nach H. fuhr, sein Pferd in dem Kruge stehen lassen und wollte erst am Morgen um fünf Uhr mit dem ersten Zuge von H. wieder angekommen und von da nach kurzer Rast zum Schlosse zurückgeritten sein. Nach der Behauptung der Anklage wäre er schon am Abend um zehn Uhr mit dem letzten Zuge von H. wieder in dem Kruge angelangt, sofort zum Schlosse geritten und nur zum Scheine nach Wiekel zurückgekehrt. Ueber die eine und über die andere Behauptung wurden die Leute des Kruges vernommen.

Der Präsident bemerkte dabei, daß die sorgfältig in der Voruntersuchung abgehörten Eisenbahnbeamten nicht die geringste Auskunft hätten geben können; keiner von ihnen wolle den Angeklagten gesehen haben; bei dem großen, stets wechselnden Verkehr auf der Bahn könne man aber auch unmöglich auf den Einzelnen achten. Die Beamten seien deshalb um so weniger heute wieder vorgeladen, da der Umstand, daß der Angeklagte wirklich in H. gewesen, unzweifelhaft festgestellt sei.

Die Leute aus dem Kruge wußten gleichfalls nichts, was die Angaben der einen oder der anderen Seite hätte bestätigen oder bestreiten können. Auch in dem Kruge war ein großer und verwirrender Verkehr gewesen, und da wußte man nichts, als daß der Angeklagte, als er nach H. gefahren, dem Hausknechte sein Pferd zur Besorgung bis zu seiner Rückkehr am andern Morgen mit dem Frühzuge übergeben, und daß er am andern Morgen gleich nach der Ankunft des Zuges wieder dagewesen und nach einiger Zeit nach Schloß Hard zurückgeritten sei. Ob er auch in der Nacht dagewesen und auf seinem oder einem anderen Pferde fortgeritten und wieder zurückgekehrt sei, davon wußte Niemand etwas. Es könne sein, es könne nicht sein; der Stall des Kruges habe offen gestanden und es seien viele Pferde darin gewesen.

Die Leute des Schlosses Hard wurden vernommen, und sie bestätigten die Anklage. Sie hatten fast Alle den Freiherrn gesehen und erkannt, auf das Bestimmteste, Unzweifelhafteste, an seinem Gesichte, seiner Gestalt, seiner Kleidung. Er war nur wenige Schritte weit an ihnen vorüber gerannt; sie hatten den zornigen, befehlenden, drohenden Blick in seinem Gesichte gesehen; der Blick hatte sie zurückgeschreckt. Sie hatten unmittelbar darauf gehört, wie er davongejagt war, und sie hatten dann den Todten in seinem Blute unter den Fenstern der Freifrau gesehen. Die Freifrau selbst hatte sich nicht blicken lassen. Die Anklage hatte nichts übertrieben; sie hatte nicht genug gesagt.

Nur ein einziger von den Zeugen sagte anders aus; er behauptete, der Mann, der auch an ihm, wie an den Uebrigen, in der Nacht vorüber gerannt, sei nicht der Freiherr, sei ein Anderer, ein Fremder gewesen, der allerdings mit dem Freiherrn große Aehnlichkeit gehabt habe. Er verblieb bei dieser Behauptung aller Vorhaltungen ungeachtet mit einer Beharrlichkeit und Zähigkeit, die nur in seiner festen inneren Ueberzeugung wurzeln konnte.

Aber die Erscheinung des Menschen, der in solcher Weise allen den Anderen widersprach, bot so sehr das Bild des Schwachsinnes, fast des Blödsinnes dar, daß auch jene Beharrlichkeit eben nur als die Zähigkeit des Blödsinnes aufzufassen war. Der Zeuge war der Hundewärter des Schlosses, ein Bursche von achtzehn Jahren, auch körperlich verkrüppelt, aus Mitleid schon von der früheren Schloßherrschaft aufgenommen, und wegen seiner Liebe zu den Hunden, zu allem Anderen aber untauglich, als deren Wärter und Pfleger bestimmt. Mit seinen Hunden lebte und verkehrte er seitdem, bei ihnen schlief er; er habe nicht mehr Verstand als sie, behaupteten die Leute des Schlosses. Er hatte auch in der Nacht des Mordes neben dem Hundestalle geschlafen, und ein Knurren der Thiere hatte ihn geweckt. Gleich darauf hatte er die beiden Schüsse gehört. Er war in den Garten gelaufen und hatte den fliehenden Mann gesehen, der auch unmittelbar an ihm vorübergerannt war. Aber es sei nicht der Herr, es sei ein ganz fremder Mensch gewesen, der nur dem Herrn ähnlich gesehen habe.

„Aber alle Anderen sagen, es sei der Herr gewesen!“ hielt ihm der Präsident vor.

„Aber ich sage, daß er es nicht war.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 113. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_113.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)