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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Gottfried Kinkel’s Befreiung.
Von Moritz Wiggers.[1]


Es ist Charfreitag – wir schreiben den 10. April des Jahres 1857 – und ich sitze, nachdem ich soeben, 11 Uhr Vormittags, die zinnerne Mittagsschüssel mit ihrem widerlichen Inhalt als ungenießbar bei Seite geschoben, melancholisch und den Kopf auf den Arm gelehnt in meiner Isolirzelle. Hinter mir liegen die Qualen einer fast vierjährigen Isolirhaft: drei Jahre und acht Monate war ich auf die Folter einer mittelalterlichen Untersuchungshaft gespannt, und seit einem Vierteljahre bin ich in die Züchtlingsjacke gesteckt. Vor mir habe ich zwei Jahre und neun Monate, welche ich noch im Bagno zuzubringen habe. Eine wie kurze Spanne Zeit für den, welcher sie hinter sich hat oder welchem eine goldene lachende Zukunft winkt! Aber welche Ewigkeit für mich, der ich, seit vier Jahren matt und mürbe gehetzt, sie in der Isolirzelle des Zuchthauses unter den raffinirtesten geistigen und physischen Entbehrungen verleben soll! Werde ich das Ende meiner Gefangenschaft erleben, und wenn dies, werde ich nicht körperlich ruinirt und geistig gebrochen das Zuchthaus verlassen? Wie traulich begleitet das gleichförmige Ticken von Mr. Humphrey’s Wanduhr das Gespräch im gemüthlichen Kreise von Freunden! Aber wie unheimlich wird das Ohr des Gefangenen in der Isolirzelle des Zuchthauses zu Dreibergen in der Stille des Feiertages durch den in langen und ungleichen Intervallen erfolgenden lauten, heiseren und stöhnenden Pendelschlag der Uhr im Corridor berührt! Der Gefangenwärter Burmeister sagte zu mir in den ersten Tagen meiner Haft in Bützow, als er mir meine Uhr brachte, wohl um mir das Gefühl meiner Einsamkeit zu mildern: „Uhren sind so gesellig, Herr Advocat.“ Ich finde dies nicht: Uhren quälen das Gehirn des Isolirgefangenen, gleichwie das monotone Geräusch des in der Stille der Nacht bohrenden Holzwurms den Fieberkranken martert.

Der Gedanke an theure Verwandte und Freunde, an ihre rührende Liebe, Treue und Anhänglichkeit erhellt wohl für den Augenblick die dunklen Gefängnißräume und entreißt den Gefangenen der traurigen Einförmigkeit der Gegenwart. Aber er hat auch die Nervenaufregung, die Unruhe und die Erschöpfung im Gefolge. Die Sehnsucht nach den Lieben da draußen ruft das Gefühl der Vereinsamung und Ohnmacht so recht lebendig hervor: man sieht sich um in seinen armseligen vier Mauern, man blickt unwillkürlich nach dem Fenster – dicke Eisenstäbe und ein schmales Stück Himmel, das ist Alles. Ja, wer den starken Geist der Madame Roland hätte und sich, wie sie in der Conciergerie gethan, in den Leiden der Gefangenschaft mit der Philosophie zu trösten weiß: Wie glücklich bist Du jetzt, Du hast nun gar keine Verantwortung und weiter nichts zu thun, als hier zu sitzen!

Mit meiner augenblicklichen Melancholie flüchte ich mich in die Erinnerung an die Erlebnisse einer schönen Vergangenheit. In lebhaften Farben wird ein Ereigniß in mir wach gerufen, das zu den schönsten Erinnerungen meines Lebens gehört. Ich finde Trost in dem Gedanken an den deutschen Mann und Dichter, der auch im Zuchthause schmachtete, der aber unter dem Jubel Deutschlands und der alten und neuen Welt durch seine Freunde den Klauen der Reaction entrissen ward. Noch danke ich Gott auf den Knieen, daß er mir vergönnt hat, einen bescheidenen Antheil an der Befreiung dieses Mannes zu nehmen. Meine alltägliche abschriftstellerische Thätigkeit ruht an den Feiertagen. Ich will nun meine freie Zeit benutzen, um die Fesseln der Gegenwart beim Niederschreiben jenes glänzenden Befreiungswerkes, das zum unvergänglichen Ruhme der demokratischen Partei im Buche der Geschichte verzeichnet ist, so viel möglich zu vergessen. In Einzelnheiten mag mein Gedächtniß mich täuschen, in der Hauptsache aber beruhen die Thatsachen der Erzählung auf strenger Wahrheit.[2]


1.

„Wach auf, Du, rasch!“ Mit diesen Worten weckte mich am Freitag Morgen, den 8. November 1850, eine mir bekannt klingende Stimme.

Es war noch dunkel in meiner Schlafkammer, so daß ich die Gesichtszüge meines frühzeitigen Weckers nicht erkennen konnte.

„Großer Unbekannter, wer Du auch sein magst, sei barmherzig und entreiße mich nicht den Armen meines Gottes Morpheus,“ rief ich in schlaftrunkenem Pathos, die Augen weit aufreißend und nach den dunken Umrissen des Unbekannten hinstarrend, der mich ungeduldig und heftig zu rütteln anfing.

„Um’s Himmels willen, ermuntere Dich, steh’ auf so schnell Du kannst, längeres Säumen bringt Gefahr!“ rief der Fremde in höchster Aufregung.

Ich sprang rasch auf, zog ihn an’s Fenster und erkannte in der kleinen, vollen und beweglichen Figur meinen lieben Freund aus der weiland-mecklenburgischen Abgeordnetenkammer, den Amts- und Stadtrichter Dr. Petermann aus Strelitz.

„Petermann! Was in aller Welt führt Dich an diesem finsteren Novembermorgen hieher? Gab es bei Euch eine zweite verschlechterte Auflage des 7. September, und warst Du gezwungen, Dich Deinem großen Vaterlande durch die Flucht zu entziehen?“

„Ei was, halte Deine maliciöse Zunge. Wir haben jetzt andere Dinge zu thun, als Erinnerungen an strelitzer Junker und Kammerherren aufzufrischen. Ich habe zwei Fremde mitgebracht, welche ich Dir vorstellen will.“

„Wo sind sie?“

„Im Wirthshause zum weißen Kreuz habe ich sie zurückgelassen.“

„Wer sind sie?“

„Wie Du ungeduldig bist! Du sollst rasch mitkommen und sie persönlich kennen lernen. Es sind ein paar liebe Kerls. O prächtig, prächtig, prächtig!“

Und jedes der drei letzten Worte betonte der liebe Herr Stadtrichter mit besonderem Nachdruck und begleitete es mit geheimnißvollem, glückverheißendem Lachen, wobei er sich mit gewohnter Lebhaftigkeit verschiedene Male im Kreise herumdrehte. Sein Gesicht strahlte vor Freude.

„Aber mein lieber, theurer Petermann, sei doch gesetzt und vernünftig und versetze Dich in die Lage eines armen Kerls, der vor Neugierde brennt, den Grund Deiner Ekstase kennen zu lernen. Sag’ mir doch endlich, wer die beiden Fremden sind.“

„Es sind zwei Flüchtlinge. Der eine kennt Dich, Du kennst ihn auch, er ist diesen Sommer in der Braunschweiger Demokratenversammlung gewesen.“

„In jener Versammlung, die mir die ungerechtfertigte Haussuchung des Bützower Criminalcollegiums zuzog?“ fragte ich nachdenkend und hielt einen Augenblick mit dem Anziehen meiner Weste inne – soweit hatte ich inzwischen meine Toilette beendigt. „Sein Name?“

„Sein Name ist Hensel. Du aber hast ihn unter dem Namen Hesse kennen gelernt.“

„Ich erinnere mich, daß ein Hesse, der ein Rheinländer war, dort gewesen ist. Und wie heißt der Andere?“ fragte ich neugierig.

Kaiser,“ erwiderte Freund Petermann lächelnd.

„Kaiser? das ist keine mir bekannte Persönlichkeit. Doch nach Deinem Lächeln zu schließen, wird das ein angenommener Name sein. Und sein wirklicher Name?“

Ich sah meinem Freunde forschend in’s Auge und nahm seinen triumphirenden Blick wahr, wie wenn er sagen wollte: Du wirst es schwerlich errathen, welche kostbare Beute ich mit mir führe. Ehe er antwortete, sah er sich um, ob wir auch belauscht würden. Dann wandte er sich zu mir und flüsterte mir ganz leise in’s Ohr: „Kinkel.“


  1. Wir brauchen den Verfasser obiger Schilderung unseren Lesern nicht erst vorzustellen; sie Alle kennen den Ehrenmann, der als Präsident der mecklenburgischen Kammer, wie durch seine längere Haft sich Achtung und Theilnahme in ganz Deutschland erworben. Von ihm ist keine andere, als eine ruhige und durchaus würdige Darstellung jener denkwürdigen Begebenheit zu erwarten. Die Nennung der Namen der Hauptbetheiligten geschah, so weit sie vorkommt, mit ausdrücklicher Zustimmung derselben.
    D. Red.
  2. Im Wesentlichen habe ich die nachfolgende Erzählung in der Isolirzelle des Zuchthauses niedergeschrieben. Vervollständigt habe ich sie später. Bei der Darstellung der Flucht aus Spandau ist mir die Einsicht wichtiger Actenstücke in Sachen des Gefangenaufsehers Brune, des Rathsherrn und Gastwirths Krüger und des Studenten der Medicin Carl Schurz, betr. die Befreiung Kinkel’s, welche mir nach meiner Entlassung aus dem Zuchthause zu Gebote stand, sehr zu statten gekommen. Diese Einsicht war auch insofern sehr werthvoll für mich, als sie mich beurtheilen ließ, in wie weit ich die mir bekannten Thatsachen veröffentlichen durfte. Um Niemanden nachträglich zu compromittiren, habe ich Einzelnes, das nicht ohne Interesse gewesen wäre, verschweigen müssen.
    D. V.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 104. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_104.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)