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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Der Zuschauerraum des Gerichtssaales war gefüllt. Herren und Damen waren da, vom Militär und Civil. Die Damen und die Officiere saßen in den vorderen Bänken, weniger vornehme Herren und Damen hinten. In einer deutschen Provinzstadt ordnet sich auch so etwas. Die Geschworenen waren ebenfalls schon da, alle sechsunddreißig. Es fehlte kein einziger. Sie saßen in drei geraden Reihen auf den drei langen Bänken. Man übersah so die kräftigen, braven, mitunter intelligenten Gesichter der reichen Bauern, der wohlhabenden Handwerker, der kleinen Kaufleute. Die drei adeligen Herren unter ihnen zeichneten sich fast nur durch ihre wohlgepflegten Vollbärte aus.

Die Richter waren noch nicht da. Aber der Staatsanwalt, der öffentliche Ankläger, saß schon auf seinem hohen Sessel vor seinem Pulte, in Acten blätternd. Er war ein Mann in mittleren Jahren, mit dem vollen Ausdrucke der Klugheit, der Ruhe und des Ehrgeizes in dem angenehmen Gesichte. So müssen Staatsanwälte sein; denn sie müssen Carriere machen – wenn sie schon in mittleren Jahren sind, Präsidenten werden.

Gensd’armen und Gerichtsdiener standen, Wache haltend, an den Seiten des Saales. Eine Uhr oben im Saale schlug neun Uhr, und um diese Zeit sollten die Gerichtsverhandlungen beginnen. Eine Thür öffnete sich, und ein Gerichtsdiener trat in den Saal. Das Gericht folgte ihm, voran der Präsident, hinter ihm die vier anderen Richter. Sie nahmen ihre Plätze an dem langen Tische ein. Der Präsident eines Schwurgerichts pflegt ein aristokratischer Mann, die Mitglieder pflegen gewiegte Männer der Bureaukratie zu sein.

Drei Minuten darauf wurde der Angeklagte in den Saal geführt. Sein Vertheidiger trat mit ihm ein. Die allgemeine Aufmerksamkeit wandte sich den beiden Männern zu, die heute eine bedeutende Rolle spielen sollten, von denen der Eine um sein Leben kämpfen, der Andere jenem beistehen sollte, sein Leben zu rette. Der Eine, der Angeklagte, war den Anwesenden nur wenig bekannt, den Anderen kannte vielleicht noch Niemand.

Der Angeklagte war ein schöner, junger Mann von einigen dreißig Jahren, mit einem blassen, etwas südlich geformten Gesichte, mit großen, dunklen, kühn blitzenden Augen, mit einem stolzen, raschen, entschlossenen Wesen.

Sein Vertheidiger, der erste Advocat der Residenz, war ein Mann von mittlerer Größe, etwas mager; das hellblonde Haar lag glatt an, das frische, nichts weniger als markirte Gesicht war unbeweglich; die hellblauen Augen blickten klar und ruhig; seine Bewegungen waren leicht und doch etwas gemessen.

„Das der erste Advocat des Landes?“ fragte man sich, nachdem man den Mann betrachtet hatte. „Man sieht ihm nicht einmal besondere Klugheit an. Nur gutmüthig scheint er zu sein. Ah, er will schon vor den Geschworenen ein Ruhespiel aufführen und sie dadurch gewinnen. Da kommt er hier schlecht an!“

Der Präsident des Gerichts verkündete den Anfang der Verhandlung. Die zwölf Geschworenen für die Sache wurden ausgeloost. Weder der Staatsanwalt noch der Vertheidiger verwarfen einen von ihnen. Das Loos hatte in bunter Mischung die kleinen Leute getroffen, reiche Bauern, wohlhabende Handwerker, kleine Kaufleute. Von den drei adligen Herren war nur einer aufgerufen.

Die Herren, mit denen ich am Abend vorher im Gasthofe gewesen war, warfen mir fragende Blicke zu, ob ich auch hier nicht an den Zufall des Looses glauben wolle. Ich verbeugte mich gläubig gegen sie.

Die ausgewählten Geschworenen nahmen ihre Plätze ein.

Der Präsident fragte den Angeklagten nach seinen persönlichen Verhältnissen.

„Ihr Name?“

„Joseph Maria Freiherr von Wallberg.“

„Ihr Alter?“

„Zweiunddreißig Jahre.“

„Wo sind Sie geboren?“

„Zu Valencia in Spanien.“

„Sie führen einen deutschen Namen!“

„Mein Geschlecht ist ein altes deutsches Adelsgeschlecht. Mein Vater war als junger Officier nach Spanien gegangen. Er heirathete in Valencia eine edle, reiche Spanierin. Ich verließ nach dem Tode meiner Eltern meine Heimath, reiste mehrere Jahre und ließ mich vor zwei Jahren in dem hiesigen Kreise nieder.“

„Sie sind verheirathet?“

„Ja.“

„Ihre Ehe ist ohne Kinder?“

„Ja.“

Der Prästdent ließ die Zeugen hereinrufen. Es waren zwei junge Officiere, Cameraden des Ermordeten, ferner Diener und Dienerinnen aus dem Schlosse des Angekagten und Landleute aus der Gegend. Sie wurden vereidigt und wieder entlassen.

Die Anklageschrift wurde durch den Gerichtsschreiber verlesen.

Der Freiherr Joseph Maria von Wallberg war seit drei Jahren verheirathet mit Therese Ida von Hauenstein, Tochter des –schen Consuls in New-York, die er während seines Aufenthaltes dort kennen gelernt, und mit der er bald nach der Trauung nach Europa gegangen war, um zunächst sein Vermögen in Spanien zu realisiren und sich dann in Deutschland, dem Beide durch ihre Familien angehörten, niederzulassen. Er hatte vor zwei Jahren das Gut Hard, vier Meilen von der Stadt entfernt, angekauft und dort seinen Wohnsitz genommen. Die beiden Gatten machten ein angenehmes Haus. Sie waren reich, gastfrei, jung, liebenswürdig; sie liebten die Wissenschaften, die Künste; die Frau war schön, geistvoll, musikalisch; der Mann war lebhaft, ein muthiger Reiter, ein rastloser Jäger. Das Schloß Hard sah beinahe täglich Gesellschaft, und die Gesellschaft war die ausgesuchteste der Gegend. Die Liebe der beiden Gatten zu einander war eine innige, zärtliche. Auf Seite der Frau schien es wenigstens so. Das angenehme Leben auf Schloß Hard, das Glück der Ehegatten war durch nichts gestört. Da trug sich vor einem Vierteljahr, am Dienstag, den 10. April, Folgendes zu.

Der Angeklagte hatte an diesem Tage des Morgens früh das Schloß verlassen, um nach H. zu verreisen, wo er Geschäfte hatte. Wie gewöhnlich, wenn er dahin reiste, was öfters der Fall war, ritt er allein und ohne Bedienten bis zu der nächsten, eine Meile von dem Schlosse entfernten Eisenbahnstation – Wiekel hieß sie – übergab hier den Leuten des Gasthofs sein Pferd und fuhr auf der Eisenbahn weiter. Er hatte erst am folgenden Tage, am Mittwoch, zurückkehren wollen. In der Nacht vom Dienstag zum Mittwoch aber wurden die Bewohner des Schlosses plötzlich durch einen ungewöhnlichen Lärm aus dem Schlafe geweckt. Fast Alle hatten unmittelbar an der Rückseite des Schlosses, nach dem Garten hin, einen Schuß fallen hören. Dem Schusse war ein schwerer Fall, dann der laute Hülferuf eines Mannes gefolgt; dem Rufe der Angstschrei einer Frauenstimme. Ehe die aus dem Schlafe aufgeschreckten Menschen sich besinnen konnten, war ein zweiter Schuß gefallen. Darauf war Alles still geworden und still geblieben. Die Bewohner des Schlosses – es waren nur Domestiken – waren aus ihren Betten aufgesprungen. Die Besorgteren und Entschlosseneren waren in den Garten geeilt, wo man die beiden Schüsse hatte fallen hören. Sie hatten die Thür des Schlosses, die in den Garten führte, offen gefunden; schon das war ihnen aufgefallen. Als sie in den Garten traten, fiel ihnen sofort weiter das Wiehern eines Pferdes auf, das hinten im oder am Garten unmittelbar an der Hecke sich befinden mußte. Einige wollten dahin eilen, während Andere sich anschickten, in der Nähe des Hauses zu suchen, wo die Schüsse gefallen waren, wo man den Hülferuf des Mannes und den Angstschrei der Frau gehört hatte. An Allen vorüber stürzte plötzlich vom Schlosse her in wilder Hast ein Mann. Er rannte nach der Gegend hin, in der man das Wiehern des Pferdes vernommen hatte.

Alle erkannten den Mann. Es war ihr Herr, der Freiherr von Wallberg, der Angeklagte. Sie erkannten ihn deutlich, bestimmt. Der Mond schien, der Himmel war klar, und der Mann war kaum drei bis fünf Schritte an ihnen vorüber gerannt, er hatte keinen andern Weg gehabt. Sie hatten sein Gesicht erkannt; es war leichenblaß gewesen. Die ihnen wohlbekannten großen, feurigen Augen hatten ihnen befehlende, drohende, wilde Blicke zugeworfen. Sie hatten seine Gestalt erkannt, die Kleidung, in der er am Morgen ausgeritten war; es war eine Jagdmütze und ein langer, grauer Reitermantel. An dem Mantel, an den Händen des Mannes glaubten sie Blut gesehen zu haben. Der Anblick hatte die Leute mit lähmendem Schreck erfüllt. Keiner hatte gewagt, ihm zu folgen, ihn zu verfolgen. Einen Augenblick nachher hörten sie hinter dem Garten im Galopp ein Pferd davonjagen. Sie zerstreuten sich in dem Garten umher, um zu suchen. Schon nach einer halben Minute fanden sie sich wieder zusammen.

Einer war auf einen Menschen gestoßen, der unbeweglich am Boden lag. Er rief die Anderen herbei. Man besichtigte, untersuchte

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 98. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_098.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)