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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

vernahm. Mich rasch umwendend, sah ich meinen Kranken todtenbleich außerhalb des Lagers stehen, den Rücken gegen die Thür gelehnt, und in seinen grünlich schillernden Augen erkannte ich sofort den Blick des vollen Wahnsinn. Noch ehe ich es indessen vermocht, einen entscheidenden Gedanken zu fassen, hatte er nach dem an der zweiten Seite der Thür befindlichen Toilettentisch gegriffen, ein kleines Etui von dort genommen, und im nächsten Augenblick glänzte in jeder seiner Hände ein geöffnetes Rasirmesser.

Ich gestehe ehrlich, daß ich im ersten Moment ein Gefühl hatte, als laufe mir ein Tropfen eiskaltes Wasser über den Rücken; dazu war der Wechsel von der bewegungslosen Ruhe dieses Menschen zum Handeln unter der wildesten nervösen Erregung ein so plötzlicher, unerwarteter gewesen, daß ich mich vollig überrumpelt sah, daß mir nichts zu thun übrig blieb, als ihn regungslos zu bewachen – welchem krankhaften Gedanken er gefolgt war, davon hatte ich natürlich nicht die geringste Ahnung und nur des Einen war ich mir bewußt, daß ich versuchen mußte, auf jede seiner Ideen einzugehen, bis ich seinen eigentlichen Zustand erkannt.

Es waren sicher mehrere Minuten, in denen er mich vollkommen regungslos anstarrte; dann begann er mit einer Stimme, die nichts mehr von seinem gewöhnlichen Tone hatte und mit einer eisigen Bestimmtheit zwischen seinen geschlossenen Zähnen hindurch drang: „Doctor – niedersitzen!“ und zugleich deutete seine Rechte gebieterisch nach einem Stuhle am Fenster, unweit von uns.

Wenn nur die Rasirmesser nicht gewesen wären, wäre ich seiner Aufforderung wohl gefolgt – so hieß dies aber, mich dem Wahnsinnigen wehrlos preisgeben; ich regte mich also nicht. Noch einmal wiederholte er den Befehl, und seine Lippen schienen sich dabei kaum zu bewegen; als ich aber in meiner Stellung blieb, nahm er seine beiden Messer in die Linke und schritt leise, fast katzenartig auf mich los. Ich fühlte, ehe ich nur zu einem Entschlusse gelangen konnte, mich mit unwiderstehlicher Gewalt bei der Brust gefaßt, zurückgeschoben und auf den Stuhl niedergedrückt, während er mit dem Tone eines unbeugsamen Entschlusses mir in’s Ohr sprach: „Doctor, Sie müssen niedersitzen!“

In diesem Momente fühlte ich, wie mich das Entsetzen packte – ich wußte, daß, wenn es dieser Kraft des Wahnsinns gegenüber noch eine Rettung für mich gab, diese nur aus einer völlig duldenden Haltung meinerseits erwachsen konnte, und doch bürgte mir auch hierbei nichts dafür, daß er mich nicht gelassen abschlachtete. Mit Macht indessen meine Fassung zusammenraffend, gelang es mir, meinen ersten Schrecken zu überwinden, und als jetzt ein neuer Befehl erklang: „Setzen Sie sich aufrecht!“ dem er zugleich mit seinen Händen Nachdruck gab, „jetzt die Arme gekreuzt! jetzt den Kopf in die Höhe!“ folgte ich bereitwillig seinen Worten und vermochte es sogar, ihm mit einer heitern Miene, als betrachte ich Alles wie einen Scherz, in das todtenbleiche Gesicht, das zeitweise nur in einem leichten krampfhaften Zucken eine Bewegung zeigte, zu blicken.

Jetzt ließ er seine unheimlichen Augen langsam über meine ganze Gestalt laufen, und augenscheinlich mit meiner Stellung und meinem Verhalten zufrieden, trat er rückwärts wieder nach der Thür zurück. „Doctor,“ sagte er hier in verhältnißmäßig ruhigerer Weise, „Sie werden diese Nacht bei mir bleiben, ich brauche Sie!“ In mir schoß jetzt der Gedanke auf, zu versuchen, durch eine ruhige Vorstellung Einfluß auf seinen Geist zu gewinnen; kaum hatte ich indessen unwillkürlich den Kopf bewegt, als sich sein ganzes Gesicht verzerrte. „Stillsitzen – kein Glied rühren!“ klang es in den frühern Lauten des Wahnsinns, und ich sah nur zu wohl, daß mein einziges Heil in regungslosem Ausharren lag. Er aber hielt den mißtrauisch beobachtenden Blick fest, unermüdlich auf mich gerichtet, und so verging Minute auf Minnte, Viertelstunde auf Viertelstunde. Wie lange ich eigentlich so in steter Furcht eine unwillkürliche Bewegung zu machen gesessen, weiß ich nicht, aber die lebhafteste Phantasie kann sich kein richtiges Bild von der Pein, welche die lautlose Stille mit jeder Minute mehr auf mich ausübte, machen. Außer kleinen Mauerstückchen, welche zeitweise im Innern der hohlen Wände niederfielen, oder den Regentropfen, die von der Dachrinne regelmäßig auf das Fenstergesims schlugen, unterbrach kein Laut das Schweigen – dazu aber kam noch die Qual meiner Unbeweglichkeit, die ich, wie ich von Neuem belehrt werden sollte, unter keinen Umständen aufgeben durfte.

Mein Peiniger schien endlich mit seiner Beobachtung fertig zu sein und zu seinem Hauptwerke schreiten zu wollen. Seine Rasirmesser plötzlich hebend und sie schwingend, kam er auf mich zu; er schwang sie, während er einen Kreis um mich beschrieb, nach allen Richtungen, über mir und rings um mich. Dann faßte er meinen Arm und bezeichnete mit der Schneide eines der Messer einen Kreis um denselben, als wolle er ihn amputiren; nun galt es meinem Halse und Gesichte – erst brachte er das Rasirmesser so nahe meiner Kehle, daß ich jeden Augenblick einen Schnitt in die Luftröhre erwartete, dann funkelte es dicht vor meinen Augen, und er rasirte mich in Gedanken über und über. Seine Hauptaufmerksamkeit aber schien er zuletzt einer kleinen Glatze auf meinem Hinterkopfe zugewandt zu haben. Ich kann nicht sagen, was er damit anfing, ich fühlte jedoch abwechselnd seine Hand und die flache Klinge des Messers darauf. Am Ende trat er, als ob er sich eines gelungenen Werks freue, wieder rückwärts nach der Thür und betrachtete mich unverwandt – Gott weiß es, welche Hallucination ihm vorschweben mochte – ich aber meinte nächstens unter der mir gebotenen Regungslosigkeit und Nervenanspannung ohnmächtig werden zu müssen. Einige Male war ich daran, auf jede Gefahr hin aufzuspringen, nur um eine einzige kräftige Bewegung machen zu können, aber immer erhielt meine Besonnenheit noch zeitig genug den Sieg. Meine größte Sorge blieb es indessen, daß ich meine Besinnung verlieren, und so vertheidigungslos einer neuen tollen Idee des Irrsinnigen preisgegeben werden möchte.

Da war es mir während einer unwillkürlichen Bewegung, sei es unter dem Zwange der Nerven oder um meiner Hand einen Stützpunkt zu schaffen, unbemerkt gelungen, die Hand unter das Brusttheil meiner Weste zu schieben. Welche Erleichterung mir dies schon verschaffte, läßt sich nicht beschreiben – ich konnte jetzt wenigstens meine verborgenen Finger bewegen. Ich ballte die Hand, ich öffnete und schloß sie, wiederholte dies schnell und mehrmals und preßte sie endlich gegen mein Herz. Das schien mir neues Leben zu geben; ich fühlte mich stärker, selbstvertrauender, besser im Stande das Ende dieser Qual abzuwarten.

Jetzt bemerke ich, wie etwas Neues meinen Wahnsinnigen eingenommen haben mußte; er hatte ein leichtes, unzusammenhängendes Murmeln begonnen und wandte zeitweise den Kopf nach der Thür, als stehe dort Jemand, mit welchem er sich unterhalte. Aber er hatte mich dabei nicht vergessen. Plötzlich hob er den Kopf und befahl mir in seiner früheren bestimmten Weise aufzustehen und mich auf das Bett zu legen. Glücklich darüber, endlich meine halbgelähmten Beine wieder bewegen zu dürfen, erhob ich mich und legte mich, gehorsam wie ein wohlgezogenes Kind, auf das Bett; bald merkte ich hier, daß meine Lage sich durch diesen Umzug bedeutend gebessert hatte. Erstens konnte ich mir durch eine leichte Bewegung jede gewünschte Stellung geben; zweitens konnte ich jedes Wort, welches der Kranke murmelte, verstehen; als Hauptsache aber betrachtete ich, daß ich jetzt kaum über einen Fuß weit von der Thür entfernt war und das Thürschloß sich an meiner Seite befand. Noch hatte ich keinen Plan, wie zu entrinnen, aber ich sah, daß ich jetzt wenigstens an einen solchen denken durfte. Angestrengt horchte ich vor Allem seinen Worten, und bald wurde mir klar, daß er sich einbilde, es stehe Jemand vor der Thür, welcher einzutreten verlange, um mit mir zu sprechen. Was ich hörte, waren natürlich nur die Antworten, welche er auf die eingebildeten Fragen von außen gab. Kaum hatte ich aber den Sinn des so geführten Gesprächs erkannt, als ich mich auch gerettet meinte. Mit Zuversicht und Kälte, als ob ich schon frei wäre, konnte ich jetzt denken und handeln.

Ich begann zuerst auf die von ihm gegebenen Antworten leise neue Fragen zu stellen und gab ihm sodann Erwiderungen auf seine Aeußerungen. Mich dem Tone seiner Stimme anbequemend ward auch ich etwas lauter, und bald hielten wir ein völliges Zwiegespräch. Ich, als der Außenstehende, hatte ihm vorgeschlagen die Thür einige Zoll weit zu öffnen, durch welche Spalte dann der „große Unbekannte“ mir, dem Doctor, seine Wünsche mittheilen sollte, und er stimmte diesem endlich zu. Ich faßte krampfhaft das Kopfkissen. Mein Plan war, die Thür, sobald sie geöffnet, plötzlich aufzureißen, meinen Kerkermeister hinter sie zu drängen, im Nothfalle ihm das Kissen in’s Gesicht zu schleudern und dann nach dem Zimmer des Geschäftsführers zu flüchten.

Es wäre dies zwar recht schnell und verhältnißmäßig leicht auszuführen gewesen, wenn nur meiner eigenen Erschöpfung nicht die sonderbare Kraft des Wahnsinns gegenüber gestanden hätte. So geschah es, daß, als ich gegen ihn sprang, er kaum wankte.

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