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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

weiß und fein, sondern von harter Arbeit und Frost einst roth und rauh gewesen war. „Kommst Du vom Dome schon zurück?“

„Ja, Väterchen.“

„Heute also ist Weihnacht,“ sagte er lächelnd. „Hast Du in unserer Nachbarschaft schon Christbäume brennen sehen?“

„Es ist noch zu früh.“

„Ja, ja, es ist noch zu früh.“ Er lächelte wieder. „Später sollst Du auch Deinen Christbaum haben.“

„Mein guter, guter Vater,“ rief sie und strich über sein emporstehendes, schneeweißes Haar. „Ich habe für Sie eine kleine Arbeit gemacht, aber die lege ich unter den Christbaum.“

„Ja, wir legen unsere Geschenke unter den Christbaum,“ erwiderte Michaelis und lachte.

„Väterchen,“ fragte Amanda mit unschuldiger Neugier, „wo haben Sie denn den Weihnachtstisch gerüstet?“

„St!“ sagte er geheimnißvoll und wies nach dem Alkoven; „dort! – Gehe jetzt und mache das Abendbrod und den Thee zurecht. Notabene, ich habe heute Hunger für Zwei. Währenddessen zünde ich den Christbaum an.“

„O Vater,“ rief sie gerührt, „ich wollte, ich könnt’ es der ganzen Welt erzählen, wie gut Sie sind!“

„Und ich wollte, Du könntest Reinhold’s darüber fragen. Die sind anderer Meinung als Du. Er ist ein Egoist, ein gräulicher Egoist, würde der Pastor sagen.“

„Nein, Er nicht! Er nicht!“ rief Amanda.

„Aber, liebes Kind, ich war’s; wahrhaftig, ich war der größte Egoist, als ich Dich zu mir nahm! Welch ein trauriger Winter stand mir ohne Dich bevor! Wenn ich jetzt daran denke, wie schrecklich einsam ich früher lebte, fühle ich mit mir selber Mitleid! Als junger Bursch ohne Vermögen mußte ich mit Entbehrung und Niedertracht aller Art kämpfen. Das machte mich frühzeitig alt, herb und verschlossen. Als die Mittel kamen, das Dasein zu genießen, fehlten mir daher Lust und Anregung. Menschenscheu, bis an den Hals zugeknöpft, lebte ich vierzig Jahre nur meinem Beruf. Vormittags Kranke, Nachmittags Kranke; Abends meine Bücher und Hans, den Pudel! Hans ist gut und treu und hat sein genügend Theil Verstand, aber ein Pudel bleibt er doch. Da, in meinem siebenzigsten Jahr, führt mir der Zufall Dich entgegen.“

„Kein Zufall,“ unterbrach ihn Amanda, „mir hat Gott Sie gegeben! Ohne Sie schlug das Unglück über mich zusammen. Sie retteten und läuterten mich, wurden mir Vater und Lehrer.“

„Nicht doch, Amanda! das Unglück war Deine Schule. Es erhob Dich über das Gewöhnliche und über Dich selbst. Ich that Nichts, als daß ich Dir im Kampf die Losung gab: Sei stark und still!“

„Ach, theuerer Vormund,“ sagte das Mädchen traurig, „ich bin eine schwache Streiterin. Meine Thränen wollen nicht versiechen. … Ach,“ rief sie und barg, plötzlich aufschluchzend, ihr Antlitz in beide Hände, „ich kann, kann Reinhold nicht vergessen!“

Als sie sich wieder gefaßt und ihre Thränen gestillt hatte, fragte sie mit leiser, schüchterner Stimme:

„Sie erhielten heute einen Brief aus B…?“

„Von meinem fürstlichen Gönner,“ antwortete Michaelis.

„Schreibt er über – über Reinhold?“

„Wenig, aber Seltsames. Der Pastor will B… verlassen. Er kam hier um seine Versetzung ein.“

„Es ist doch kein Unglück, was ihn aus seiner Heimath treibt?“ fragte sie hastig.

„Hm, ich glaube nicht,“ brummte der Alte; „vielleicht sucht er eine neue Braut …“

„Wer und wo sie sei, Gott segne sie!“ rief Amanda mit einer Stimme, die aus tiefstem Herzen kam. Michaelis zog das edle, entsagende Mädchen zu sich hernieder und küßte ihm die Stirn.

„Amanda,“ sagte er bewegt, „Du verdienst geliebt zu werden; Amanda – –“

Ein kurzes Pochen an der Thür unterbrach ihn.

„Herein!“ rief Michaelis verwundert.

Die Thür wurde geöffnet – der unerwartete Besuch war Frau Reinhold!

„Ich bin’s,“ sagte sie kurz.

Der Arzt, der sich erhoben hatte, murmelte etwas zwischen den Zähnen und lud den Gast mit einer Handbewegung ein, sich niederzulassen. Sie setzte sich. Dann ruhte ihr Blick lang und forschend auf Amanda, die vor Ueberraschung und Schrecken wie versteinert stand. Das Antlitz des Mädchens war verändert; es hatte jetzt seine Geschichte, eine Geschichte von Kummer und Herzeleid.

„Auch sie hat nicht vergessen!“ murmelte die Greisin und triumphirte, daß ihr Sohn nicht allein leide. Hierauf wandte sie sich zum Doctor.

„Ihren Diener traf ich auf dem offenen Flur; er wollte mich abweisen; entschuldigen Sie, daß ich ohne seine Erlaubniß eintrat.“

Michaelis verneigte sich blos.

„Sie wissen,“ fuhr Jene fort, „daß ich keine Freundin von vielen Worten bin. Also ohne Präambulen zur Sache, die mich hierher geführt! Wir sind doch unter uns?“ setzte sie mit einem Blick aus den verdeckten Alkoven hinzu.

„Hm, ja – freilich sind wir unter uns.“

Sie schwieg eine Weile, im Kampf mit ihrem Stolz. Endlich begann sie: „Doctor, seit Sie den Fürsten und unsere Stadt verließen, kam schweres Elend über mich. Anstatt mich einen ruhigen Sonnenuntergang erleben zu lassen, schickt mir der Herr harte, fast zu harte Prüfung und Heimsuchung. Um Ihnen meinen Gram mit Eins zu nennen: Mein Sohn ist mir untreu geworden. Seine Seele hängt an der Tochter des ungetreuen Knechtes, an Jener dort, und ihretwegen und aus Verzweiflung über die Trennung vergißt er seiner Mutter und, was wehevoller ist, vergißt seines Amtes, seiner Gemeinde, seiner Kirche. Ich kann mit Hiob sagen: Man hörete mir zu, und schwiegen und warteten auf meinen Rath. Nun aber lachen meiner, die jünger sind denn ich, welcher Väter ich verachtet hätte, zu stellen unter meine Schafhunde.“

Sie seufzte tief.

„Kamen Sie zu uns, um uns dies zu sagen?“ fragte trockenen Tones Michaelis.

„Hören Sie mich zu Ende! Wider meinen Willen hat Theodor das göttliche Amt in seiner Heimath fremden Händen übergeben, das Haus, wo ich ihn gebar und großzog, verlassen. Er eilte hierher mit dem trotzigen Entschluß, nie mehr in seine Vaterstadt zurückzukehren. Das Schlimmste zu verhüten, gürtete ich mich in meinen alten Tagen noch zur Reise und folgte ihm hierher, an den verhaßten Schauplatz weltlicher Lust und modernen Unglaubens.“

„Und was belieben Sie das Schlimmste zu nennen?“

„Doctor, hier steht die Zauberin, die mir meines Sohnes Herz entwendete … brauche ich Ihnen das Unglück, das mein graues Haupt bedroht, noch zu nennen? Gut, hier bin ich! Aug’ in Aug’ stehe ich meinem bösen Schicksal gegenüber und wiederhol’ es: Theodor darf dieses Mädchen nicht freien! er darf es nicht, oder ich sage mich in meinen letzten Lebenstagen noch von meinem einzigen Sohne los, eingedenk der heiligen Schrift. Es ist besser, ein frommes Kind, denn tausend gottlose, und ist besser, ohne Kinder sterben, denn gottlose Kinder haben.“

„Sollte Ihr Sohn wirklich die Absicht haben?“ begann der Doctor mit schneidender Kälte, allein die aufbrausende Superintendentin unterbrach ihn.

„Sollte? Mir hat er es nicht gesagt, aber ich weiß es, daß er kommen wird, vielleicht jetzt schon auf dem Wege ist! In seinen Augen las ich seinen Kampf. Und wenn er auch heute noch den Dämon der Leidenschaft niederringt, morgen unterliegt er dennoch, und alle seine Gedanken, alle Wege in dieser verhaßten Stadt führen ihn zu ihr! Ich aber duld’ es nicht; nicht von der Stelle weiche ich, bis mir das Mädchen dort mit Hand und Schwur, bei ihrem zeitlichen und ewigen Heil gelobt hat, ihn nicht zu sehen, von ihm zu lassen, für alle Ewigkeit zu lassen! Mein Vermögen will ich opfern, mich zur Bettlerin und sie reich machen, wenn sie heute noch geht, von hier entflieht, weit, weit, wo mein Sohn sie nie und nimmermehr findet!“

Doctor Michaelis sprang auf. Unfähig, seinen Zorn länger zu bändigen, stellte er sich dicht vor die stolze Frau und rief: „Madame, Sie müssen entschuldigen, wenn meine Meinung derb zu Tage kommt; aber wenn Sie eine Kaiserin wären und ich ein geborener Hofmarschall, verlöre ich jetzt die Geduld – darum entschuldigen Sie, wenn ich – Kreuz Millionen Donnerwetter, Madame, mit Einem Wort: Sie sind verrückt!“

Da trat Amanda rasch dazwischen. „Nicht also, mein Vater!“ bat sie mit ruhigem Ton. „Frau Reinhold ist Mutter. Sie hat das Recht, jene zu hassen, die an ihres Sohnes Kummer schuld ist. Auch verlangt sie ja nicht, daß ich von meiner Liebe scheide, nur, daß ich dem Glück entsage. Das that ich längst und will es jetzt auf’s Neue.“

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