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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Der Ring des Salomo.
Prolog zu Lessing’s „Nathan der Weise“.
Von Ludwig Storch.


Tief aus des Ostens heil’ger Morgenfrühe
Tönt eine Sage, wie aus Kindermund,
Und doch voll hohen Sinns uralter Weisheit
Und Gleichniß der Entwicklung unsres Geistes:

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Das Märchen von dem Ring des Salomo.

Des Ringes werden wir noch heute froh.

An diesen Ring – so flüstert das Gedicht –
Gebunden war der Weisheit höchster Schatz
Und ob der Geisterwelt gewalt’ge Herrschaft.

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Der Siegelring des weisen Königs war

Der Talisman, der jedes Uebel abhielt
Und seinem Herrn zur größten Macht verhalf.
Denn der verstand nicht nur der Vögel Wort;
Der Dichtung Zauber und der Weisheit Hort,

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Der Liebe Süße und der Eintracht Segen,

Sie haben – sagt man – in dem Ring gelegen.

„Auch hatt’ er die geheime Kraft, vor Gott
Und Menschen angenehm zu machen, wer
In dieser Zuversicht ihn trug. Was Wunder,

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Daß ihn der weise König darum nie

Vom Finger ließ und die Verfügung traf,
Auf ewig ihn bei seinem Hause zu
Erhalten? Nämlich so. Er ließ den Ring
Von seinen Söhnen dem Geliebtesten

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Und setzte fest, daß dieser wiederum

Den Ring von seinen Söhnen dem vermache,
Der ihm der liebste sei, und stets der liebste
Ohn’ Ansehn der Geburt, in Kraft allein
Des Rings, das Haupt, der Fürst des Hauses werde.“

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Nun werdet ferner ihr aus Nathan’s Munde

Erfahren, wie’s der große Meister Lessing
Hinein gelegt, daß jenes Ringes Schatz
An einen Vater dreier Söhne kam,
Die alle drei er gleich sehr zärtlich liebte.

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Und so geschah’s, daß er mit schwachem Herzen

Der Söhne jedem seinen Ring versprach,
Den Andern unbewußt. Sein Wort zu halten,
Ließ heimlich solcher Ringe er noch zwei
Verfertigen, dem echten täuschend ähnlich,

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Und giebt nun jedem Sohne Ring und Segen,

Um ruhig sich vom Thron in’s Grab zu legen.

Als dies geschehen, tritt mit seinem Ringe
Ein jeder Sohn hervor und nimmt die Herrschaft
Des Hauses und des Reichs sofort in Anspruch.

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Und jeder schwört, sein Ring nur sei der echte,

Weil er vom Vater selber ihn empfangen.
Doch da mit Zuversicht ihn keiner trägt,
So äußert sich die Kraft des echten nicht.
Und wie auch jeder mag den seinen preisen,

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So kann doch keiner je sein Wort beweisen.


Die Brüder hassen und verfeinden sich
Und treten klagend vor den Richterstuhl.
Doch statt des Spruchs, den er nicht geben kann,
Ertheilet guten Rath der brave Richter.

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„Nehmt nur die Sache, wie sie liegt. Hat von

Euch jeder seinen Ring von seinem Vater,
So glaube jeder sicher seinen Ring
Den echten. Möglich, daß der Vater nun
Die Tyrannei des Einen Rings nicht länger

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In seinem Hause dulden wollte. Und gewiß,

Daß er Euch alle Drei geliebt und gleich
Geliebt, indem er zwei nicht drücken mögen,
Um Einen zu begünstigen. – Wohlan!
Es eifre jeder seiner unbestochnen

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Von Vorurtheilen freien Liebe nach!

Es strebe von Euch jeder um die Wette,
Die Kraft des Steins in seinem Ring an Tag
Zu legen, komme dieser Kraft mit Sanftmuth,
Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohlthun,

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Mit innigster Ergebenheit in Gott

Zu Hülf’! Und wenn sich dann der Steine Kräfte
Bei Euern Kindes-Kindeskindern äußern,
So lad’ ich über tausend tausend Jahre
Sie wiederum vor diesen Stuhl. Da wird

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Ein weisrer Mann auf diesem Stuhle sitzen

Als ich und sprechen: Geht!“
 So weit hat Lessing
Durch seinen Nathan uns das sinn’ge Märchen
Erzählen lassen. Aber er verschwieg,

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Daß es der Ring des Salomo gewesen. –

Erlaubt nun mir, der ich den Namen nannte,
Daß ich’s fortspinne und zu Ende führe,
So gut ein Mensch von heute dies vermag!

Der Ringe einer erbte auf den Teut,

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Der zog mit seinem Stamm aus Morgenland

Gen Abend und ward unser Aeltervater.
Man glaubt, daß er den echten Ring besessen.
Und weiter – wird erzählt – vermehrte sich
Der Ringe Zahl, und Tausende von Enkeln

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Besaßen Ringe und wohl Jeder meinte,

Daß er des echten Rings Besitzer sei,
Da gab es neuen Streit, und manche Hand
Troff von des Bruders Blut. Unsel’ger Hader,
Den selbst des echten Rings Besitzer nicht

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Vermocht zu stillen, weil mit Zuversicht

Er nie getragen ward. Das deutsche Volk
War nah daran an diesem Streit zu sterben,
Oder doch zu verkümmern und verderben.

Sieh, da vererbte sich der echte Ring

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An eines schlichten Pfarrers großen Sohn.

Der wurde sich der alten Kraft bewußt,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 65. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_065.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)