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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Zu Seume’s hundertjährigem Geburtstage, 29. Januar 1863.
Von Ludwig Storch.


Das Würmlein Schamir.
Talmudische Legende.

Oben in der offenen Säulenhalle seines prächtigen Palastes sitzt der junge stolze König Schlomo[1], der Sohn David’s, der Erbauer des Jehovahtempels, zu Thron, umgeben von Leviten, Kriegern, Schreibern und Knechten, und das Volk, das unten steht und geht vor dem Königshause, sieht ihn sitzen im Glanze seiner Majestät und verneigt sich vor ihm in Ehrfurcht und begrüßt ihn mit lautem Jubelrufe. Denn das Volk verehrt und liebt den König, den Sohn des geliebten Königs aus dem Volke, und nennt ihn den Gerechten und den Weisen, und es befolgt willig seine Befehle und ist gehorsam seinen Gesetzen. Jedermann wußte, wie er im Streite zweier Frauen um ein Kind die Mutter durch weisen Spruch erkannt, und sein Urtheil war berühmt in allen Reichen. Sein eignes Reich aber blühte unter seiner Herrschaft, und er ward groß und mächtig.

So wie ein Spruch aus seinem Munde hervorging, verkündeten ihn die Priester und Hauptleute dem unten harrenden Volke, die Schreiber schrieben ihn auf, und die Boten und Knechte trugen ihn weit in das Land hinaus bis an dessen Grenzen. Und alles Volk war treu und fest in der Liebe zum König, selbst wenn seine Befehle nicht immer Wohlthaten waren.

So vergingen die Jahre, und der weise Schlomo ward alt und thöricht und fiel ab von Jehovah durch das Schmeichelwort buhlerischer Frauen und diente fremden Götzen. Fremde Priester verkündeten nun seine Sprüche. Und das Volk nimmt sie hin und gehorcht ihnen wie vormals, wenn auch nicht mehr mit Jubel und Begeisterung. Und es ehrt immer noch die Boten Schlomo’s und sein Königswort aus ihrem Munde. Denn der es gesprochen, ist sein Herr und König, und wenn er thörichte Befehle ertheilt, so befolgt sie das Volk dennoch ohne Murren, um seiner großen Vergangenheit willen, und nennt ihn nach wie vor den weisen Schlomo. Und wenn der greise König Recht sprechend in der offnen Halle sitzt, gestützt auf den Stab der Herrschaft und Macht, begrüßt es ihn ehrfurchtsvoll wie vordem.

Und er saß oben auf seinem goldnen Throne, umgeben von Priestern und Hauptleuten, als unvermerkt der Engel des Todes zu ihm trat und ihn berührte auf Jehovah’s Befehl. Die Königschen standen vor einer Leiche, die da saß wie ein Lebender, gestützt auf den festen Stab. Und sie wurden schnell eins untereinander, daß es kein Mensch weiter erfahren solle im ganzen Lande, daß der König todt sei. Und nach wie vor verkündeten die Priester des Königs Sprüche dem Volke, die Schreiber schrieben sie, und die Boten der Hauptleute trugen sie in’s Land, und Niemand wußte, daß sie erlogen waren von den Priestern, Schreibern und Hauptleuten. Zwar murrt das Volk den ungerechten Sprüchen, die nur den Priestern, Schreibern, Hauptleuten und Knechten des König zu gut kommen, aber es gehorcht ihnen, denn es sieht den König sitzen in seiner Halle und meint, die Sprüche kommen von ihm. Aber Tag für Tag wird die Tyrannei der übermüthigen Priester, Schreiber und Hauptleute und der Knechte des Königs ärger und schamloser. Sie vollführen zu ihrem Vortheil, was noch kein König zu thun gewagt, Alles im Namen des weisen und gerechten Schlomo. Und immer höher steigt des Landes Noth und Drangsal, und immer stärker murrt das Volk, aber es wird von den Priestern verdammt und von den Knechten gestraft, und es sieht den König sitzen und gehorcht ihm.

Die Engel Jehovah’s melden dem Herrn des Himmels und der Erde das verruchte Spiel der Priester, Schreiber, Hauptleute und Knechte des längst verstorbenen Königs, und Herr Zebaoth spricht in seinem Zorne: „Nicht lange mehr sollen diese Buben also schalten und walten und alles Volk belügen und betrügen. So lange es die Leiche auf dem Throne sitzen sieht, gehorcht es den Sprüchen zu seinem Verderben, und die Leiche wird sitzen, so lange der Stab sie stützt, der Stab der Macht und Herrschaft aber ist von festem Holz. Wir müssen die Stütze der Lüge entfernen.“

Und der Herr des Himmels und der Erde that nach seiner Weisheit. Er sandte nicht den Engel des Himmels, daß er den Stab mit dem Blitz verbrenne; er sandte auch nicht den Löwen der Wüste, daß er den Stab mit seiner Branke zerbreche; er sandte auch nicht den Adler der Lüfte, daß er den Stab mit seinem Schnabel zermalme; er sandte vielmehr das Würmlein Schamir, daß es den Stab allmählich und unvermerkt zerfresse. Das Würmlein war so klein, daß es Niemand sah in der Königshalle. Und es bohrte sich in den Stab der Gewalt und fraß still und unbemerkt weiter und weiter und zernagte das Holz und dessen Kern nach allen Seiten und nur die Schale des Stabs ließ es unberührt. Und nichts vermochte dem unscheinbaren Würmchen zu widerstehen, nicht das Holz, nicht der Kern, so fest sie waren. So ward der Stab endlich selbst zu Trug und Schein gleich dem Königsbilde, dieses dem Volke, jener den Betrügern.

Nun blies eines Tags ein Sturmwind in die Halle und zerbrach ohne Mühe den morschen Stecken, und die Leiche stürzte plötzlich mit ihm zusammen und ward ein Häuflein Staub und Moder.

Und alles Volk sah, wie es von den Königschen belogen und betrogen worden war, aber es verzieh den mit ihrem Raube fliehenden Priestern, Schreibern, Hauptleuten und Knechten und ging nicht mit ihnen zu Gericht, sondern huldigte vielmehr dem neuen jungen Könige.


Diese jüdische Legende ist von weltgeschichtlicher Bedeutung, und weil sie ein Bild des Menschengeistes in seiner fortschrittlchen Beziehung zur staatlichen Entwicklung ist, so trägt sie vorzugsweise deutsche Züge. Sie ist ein treffliches Bild unsrer eignen Zustände.

Der junge, weise und gerechte König ist die Herrlichkeit des deutschen Kaiserthums in seiner Blüthe, der greise, thörichte König ist das deutsche Kaiserthum in seinem Verfall; der todte, scheinlebende König ist das Gespenst der mittelalterlichen Kaisermacht, das von Pfaffen, Schreiben und Junkern für die lebende, gewaltige Kaisermacht ausgegeben wird, in deren Namen sie das Volk zu ihren eignen Zwecken beherrschen und bedrücken. Der Stab der Macht und Herrschaft hält den lügnerischen Moder zusammen; der Stab stützt und hält die Lüge aufrecht. Gott schickt nicht den Engel, nicht den Löwen, nicht den Adler, um den Stab zu entfernen; er schickt das winzige Würmlein, das man kaum mit bloßen Augen zu gewahren vermag, geschweige daß man ihm seine unwiderstehliche Kraft ansähe, mit welcher es langsam, aber sicher die Stütze des Moders vernichtet. Nicht der große Gelehrte, nicht der große Dichter, nicht der große Forscher und Denker sind berufen, dem Volke, den großen Massen der deutschen Lande, die faulende Lüge unsrer öffentlichen Zustände aufzudecken und zu entfernen, sondern der einfache schlichte Mann des gesunden Menschenverstandes, der in unscheinbarer Gestalt auftritt, aber ehrlich und unermüdet die Wahrheit sagt und ohne Scheu fort und fort sagt; mit einem Worte: der einfache Mann des Rechts und der Wahrheit ist es, den Gott berufen hat, die Stütze der Lüge zu vernichten. Ein einfacher, grundehrlicher, gesinnungstreuer Mann, der ruhig, aber fest seine redliche Ueberzeugung, die aufgefundne schlichte Wahrheit ohne Furcht und Scheu mit dem Zusatze ausspricht: „Hier stehe ich! Ich kann nicht anders. Gott helfe mir!“ ein solcher Mann ist bestimmt, daß in seinem Munde die Wahrheit zur unwiderstehlichen Waffe werde. Sie bohrt und schrotet unermüdet und unbemerkt den Stab der Lüge entzwei. Der schlichte ehrliche Menschenverstand hat einen nicht genug zu preisenden Segen in sich: er macht die Wahrheit allen Menschen zugänglich; er überzeugt Jeden, der nicht durch Dummheit oder Selbstsucht die Geistesaugen verschließt, und fordert von selbst zur Nachfolge und zur That auf. Die schlichte Wahrheit des gesunden Menschenverstandes rastet und feiert nicht in ihrer stillen, unscheinbaren, gewaltigen, unwiderstehlichen Thätigkeit, bis sie das alte Wort der Verheißung wahr gemacht: Gott will, daß allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntniß der Wahrheit kommen.

Nicht der Engel ist’s, nicht der Löwe und nicht der Adler, es ist das Würmlein Schamir, das die Leiche des Mittelalters, von Pfaffen, Schreibern und Junkern zu ihrer selbstischen Lüge mißbraucht, umzuwerfen bestimmt ist.


  1. Richtigere Form für das gewöhnliche Salomo.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 59. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_059.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)