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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Ein bleiches Mädchen tritt mit funkelnden Augen auf die Dame: „Das ist nicht wahr, das hat mein Vater nicht gethan!“ Und sie schlägt einen Blick, einen verzweiflungsvoll bittenden Blick zum Justizrath empor. Vertheidige den Geschmähten! Wie sie die Verwirrung, das rasche Erröthen und Erbleichen des Mannes sieht, wie nach einer Minute athemloser Spannung dieser schweigend sich abwendet, da bricht sie ohnmächtig in den Armen Reinhold’s zusammen, mit dem sie kurz vorher in seliger Liebe geschwärmt hatte.

Man bringt sie zu sich; man bittet, beschwört sie, man schmeichelt ihr, man tröstet das arme Kind – aber sie ist kein Kind mehr. Sie hört nicht auf das Nichts der glatten Worte, sie fühlt nur die einzige, furchtbare Wahrheit. Stumm lehnt sie jede Hülfe, jede Beileidsbezeigung, selbst die Hand ihres Geliebten ab und verläßt das Haus, das zum Grab ihres Glücks geworden.

Wie sie nach Hause kam, wußte sie nicht. Was sie den Vater dort fragte und sagte, wußte sie nicht. Aber dieser schreit gegen die Tochter, wie gegen eine Gespenstererscheinung, die zur Gruft winkt. Und als sich gleich darauf die Thür des Krankenzimmers öffnete und der Justizrath mit fahlem, unglücksweissagendem Antlitz auf der Schwelle sich zeigte, da war’s dem kranken Mann zu viel – er schlug krampfhaft die Hände in die Luft – aus der Brust riß sich der Strom des gepeitschten Blutes – er röchelte – er sank zurück – wollte noch sprechen – verstummte, verstummte für die Ewigkeit.

Und als die schöne, friedselige Nacht mit Mond- und Sternenlicht heraufgezogen war, ging das neue Gerücht durch Häuser und Hütten: der Rendant Günther ist gestorben.


6.

Im Haus, das eine Leiche beherbergt, herrscht heilige Scheu. An seiner Thür lagert eine ernste Sphinxgestalt, unlösbare Fragen auf den Lippen. Stumm und gedemüthigt treten wir an ihr vorüber zum Sarg.

Hätte Günther seine Schande überlebt, wären fürderhin die Freunde von ehedem ihm aus dem Weg gewichen und Aller Augen würden ihn gemieden haben. Da er aber in seinem Zimmer lag, starr, kalt und fahl, schaarten sich Freunde und Bekannte um ihn, und das tiefere Räthsel des Todes drängte die Frage: Wie konnte dieser Mann so handeln? zurück.

Es war ein lichter Nachmittag, an dem man sich zu Günter’s Begräbniß versammelte. Die Sonne begann den hartgefrorenen Boden zu erweichen, und von den Dächern sprühte der geschmolzene Schnee.

In dunkler Kleidung, mit gemeßnem Schritt und ernstem Antlitz kamen nach und nach die Städter, die Amtmänner und Landleute der Nachbarschaft vor dem Trauerhause an. Garten und Thüren stauden Jedermann offen, und ein schweigsames Aus- und Eingehen begann. Jeder drängte sich in des Verstorbenen Zimmer, um jenen letzten, scheuen Blick, womit wir fremde Leichen betrachten, auf die regungslos hingestreckte Gestalt zu werfen. Durch’s Fenster scheint freundlich die Sonne herein; trotzdem brennen Kerzen rings um den Sarg. Der Mann auf dem Schragen, der weiland Allbeliebte, ist inmitten der Lebendigen wie das Kerzenlicht am Tage.

Was dann in Günther’s Zimmer erfolgte. … im Palast und in der Hütte ist es dasselbe düstre, jammervolle, hoffnungslose Bild. Wiederholt warf sich Amanda über den Entseelten; unbekümmert um die Gegenwart so vieler Fremden, dem Schmerz ganz hingegeben, weinte sie laut, rief mit gebrochenen Tönen den Theuern und küßte sein Antlitz, als müßten ihre warmen Lippen diesem marmorgewordenen Vaterbild Athem und Leben einhauchen. Immer noch verzögerte sie den letzten Abschiedsblick, immer noch hoffte sie auf ein Wunder, auf ein plötzliches Erwachen und Auferstehen des Todten, bis man sie mit sanfter Gewalt entfernt, und die Hammerschläge, welche auf den Sargdeckel niederfallen, ihr das Bewußtsein rauben. – –

Als Amanda wieder die Augen aufschlug, war Niemand außer der Todtenfrau im Zimmer. Die ausgelöschten Kerzen rauchten noch, aber der Raum zwischen den Leuchterpaaren war leer. Die Leichenwärterin, durch die Gewohnheit abgestumpft, öffnete die Fenster und legte alle Stühle um, weil sonst – nach dem Aberglauben jener Gegend – „der Leiche im Hause bald eine andere nachfolge“. Dann packte sie das Kirchengeräth zusammen und ging.

Amanda warf einen wirren Blick um sich. Nur zu bald ward sie an die Wirklichkeit gemahnt. Das Glockengeläute, das durch’s Fenster dringt, begleitet ihren Vater auf dem letzten Wege!

Athemlos lauschte sie. Ihre Gedanken gingen mit dem Zug hinter dem schwankenden Sarge her. … Jetzt lenkt man von der Heerstraße rechtsab, wo der kurze, gerade Weg zum neuen Kirchhof fuhrt. … Die Glocken verstummen; man steht vor dem offnen Grab.

Die Rede des Pastors tönt nicht bis zu ihr – es ist ja nicht Reinhold! Ein fremder Prediger gab ihrem Vater das letzte Geleite. Rings still!

Rings still! In diesen stummen Minuten überdenkt sie zum erstenmal seit dem Unglücksabend ihre trostlose Lage; zum erstenmal ruft sie sich auch die Ereignisse vor Günther’s Tod in’s Gedächtniß, und mit seinem ganzen Jammer überfällt sie der Gedanke, daß ihr Vater entehrt gestorben ist! Nicht mit reiner Anerkennung und ungetheiltem Lob wird jetzt an seinem Grab gesprochen, sondern in der vieldeutigen Sprache des Mitleids und der Nachsicht. Das Blut schießt Amanda in’s Gesicht: zum erstenmal fühlt sie außer dem Schmerz um den Verlorenen die Last seiner Schuld und seiner Schande.

Welch ein trostloser Blick in die Zukunft! Wohl stimmt heute noch das Schauspiel des Todes die Herzen weich und rücksichtsvoll, allein wenn sich erst die Erde über dem Sarg geschlossen haben wird, werden Unwille und Lästerung auf’s Neue laut werden. Man wird das Kind fühlen und entgelten lassen, was der Vater verbrach. Und selbst wenn gegen alle Menschenart Keiner ihr Herz verletzen, Niemand sie geringer achten würde, so kann sie doch selber nie mehr lächeln unter Menschen, welche ihr Vater belog und bestahl.

Und nun sammelt sie die Erinnerungen der letzten zwei Tage. Die Fürstin, der Gerichtsrath und Viele kamen; Doctor Michaelis war Morgens und Abends bei ihr, aber Reinhold’s Stimme hatte sie nicht gehört. O wenn Einer sie trösten konnte, war’s Reinhold, aber er, er allein war nicht erschienen!

„Das ist mein Urtheil,“ sagte sie und weinte auf’s Neue.

Horch! die Glocken tönen wieder, und Knabenstimmen singen ein schwermüthig Lied.

Jetzt rollt der Sarg – – – Plötzlich erhebt sich Amanda; eine goldne Kette, das Geschenk ihres Vaters, nimmt sie sich vom Hals, einen Ring vom Finger und legt sie weg. „Ich habe kein Recht auf dieses Gold. Fürderhin schmuck- und freudelos, arm und elend!“

Ein Entschluß reifte in ihr, sie eilte hinauf in ihre Kammer und schrieb dort. Als sie damit fertig war, schnürte sie in fliegender Eile das Nothwendigste ihrer Habseligkeiten in ein Päckchen; die seidenen Kleider und hübschen Hüte, ehedem ihr Stolz und ihre Lust, ließ sie unberührt. Den Brief, welchen sie geschrieben, nahm sie hinab in die Wohnstube, um ihn zu Ring, Kette und andern Schmucksachen auf den Tisch zu legen. Dann trat sie in’s Freie.

„Dies Haus meiden Diebe!“ sagte sie bitter, als sie den Schlüssel in der Thüre stecken ließ.

Hastig schritt sie nun nach dem Marktplatz. Er lag still und menschenleer; Alle waren auf dem Kirchhof. Nur der Posten vor der Wache bewegte sich hin und her, wie ein Pendel. Am Fenster der Wachtstube saß ein Officier, mit dem Amanda auf dem Fürstenschloß oft getanzt hatte, und las. Sie aber warf nur einen Blick hinüber nach dem Pfarrhause. Die Gardinen waren herabgelassen. „Fahrwohl! Fahrwohl!“ flüsterte das Mädchen unter Thränen und winkte mit der Hand.

Bald befand sie sich auf der Landstraße. Behend wie ein flüchtiges Reh eilte sie auf dem nassen, glatten Weg dahin, Hügel auf, Hügel ab, durch einsamen, schneebelasteten Forst, an traulichen Dörfern vorüber.

Der Tag verglühte, und dichte Nebel hüllten die Landschaft ein. Da und dort stahl sich das Heerdfeuer eines stillen Weilers hindurch. Die Straße selbst war wenig belebt, arme Frauen trugen ihre Reisigbündel heimwärts, zuweilen schlich ein Fuhrwerk träg vorbei, oder ein Stück Wild sprang über den Weg waldeinwärts. Amanda schritt ohne Aufenthalt vorwärts, bis endlich bei sinkender Nacht die grünen Laternen und die erleuchtete Halle der Bahnstation K. … ihr entgegenglänzten.

Ein Stationshaus ist kein gastlich Haus. Wer drinnen Einkehr hält, legt nicht Hut und Wanderstab bei Seite, sondern drückt in Mienen und Gebahren Eile und Fortverlangen aus. Die Gäste kennen sich nicht; sie schreiten verdrießlich auf und nieder oder

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 35. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_035.jpg&oldid=- (Version vom 24.4.2018)