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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

die stolzen Fluges von dannen strichen. Wir glaubten sie gefehlt – hundert Schritte von dem Orte, wo sie eingefallen, lag die eine, unter dem Flügel in die Brust geschossen, todt hinter einem bergenden Steine. Es gelang auch, ein Nestküchlein zu fangen, dessen Mutter geschossen worden; die andern – denn es waren ihrer ohne Zweifel mehrere – entgingen jeder Nachforschung, obgleich man hätte glauben sollen, daß ein Versteck auf dem platten Boden gar nicht zu finden sei.

Kaum dürfte indessen die Jagdstreiferei auf die Schnelligkeit unseres Vorrückens einigen Einfluß geäußert haben; denn Drei von den Sechs waren unbewehrt, und je weiter der Weg sich spannte, desto mehr hielten die Nichtjäger darauf, den forteilenden Lappen zu folgen und dem Ziele sich zu nähern. Vielleicht mag auch zu diesem Eifer für die gerade Linie die Betrachtung, daß der Proviant den Lappen anvertraut war, das Seinige beigetragen haben. Zschokke’s kleine Erzählung in welcher die Compagnie nicht dem gegen die Feinde stürmenden Hauptmann, sondern dem Proviantwagen und dem Branntweinfäßchen der Marketenderin folgt, hat gewiß ihre menschlich berechtigte Grundlage.

Die halbe Meile aber spinnt sich endlos. Drei Stunden marschiren wir schon in ziemlicher Sonnenhitze; der Horizont des Meeres steigt immer höher; bei jeder Schwellung des Bodens glauben wir die letzte Höhe zu sehen; aber immer wieder kommt eine neue Senkung und eine neue Schwellung gegenüber, kaum höher als die erklommene. Deutschland kennt bis jetzt die Meilen, welche der Fuchs maß, indem er den Schwanz zugab; aber der Begriff der Lappenmeile scheint uns für den gewöhnlichen Hausmannsverstand fast ebenso unfaßlich, als diejenige einer Himmelsmeile. Zehnmal wurden die Lappen gefragt: Nordcap? und zehnmal kommt die Antwort zurück: Ikke![WS 1]

Endlich langen wir auf einer kleinen Höhe an und sehen vor uns ein kleines Querthal, über welches sich eine breite Kuppe erhebt, die mit entsetzlich steilen Wänden zu beiden Seiten gegen das Meer hinabfällt. Links und rechts dieselben senkrechten Abstürze, von welchen Risse ausgehen, die tief in den Hals des Vorgebirges einschneiden. Weit unten in der Tiefe, dem Spiele einer schäumenden Brandung ausgesetzt, eine kleine Bucht, in welcher Skansveg, die nächste Handelsstelle auf der Ostseite des Nordcaps, liegen soll. In der Ferne eine vorspringende Zunge, die in langem Zuge über den Ocean hinkriecht und ebenfalls mit steilen Wänden in die See fällt. Das ist Nordkyn, die vorspringendste, nördliche Spitze des Festlandes, während das Nordcap, auf dem wir stehen, nicht dem festen Lande, sondern der Insel Mageroe zugehört und auch hier, den Geographen zufolge, seinen Namen mit Unrecht trägt, da die nächste Kuppe zur westlichen Seite, Knioskjerodden, um etwas Weniges mehr nach Norden vorspringt. Es geht also dem Nordcap, wie vielen menschlichen Reputationen; es ist weder die nördlichste Spitze der Insel Mageroe, noch die nördlichste Spitze des Festlandes, und nichts destoweniger steht die Signalstange dort mit den Namen, die darauf eingeschnitten sind – und wer in Norwegen gewesen und das Nordcap nicht bestiegen hat, ist in Rom gewesen und hat den Papst nicht gesehen.

Also frisch hinauf nach der letzten Kuppe! Eine Rype, welche wie flügellahm vor uns her wackelt und uns offenbar von ihren Küchlein ablenken will, einige Goldregenpfeifer, die zur Verfolgung zu verleiten suchen, halten uns nur wenig auf. Um 5 Uhr ist die Höhe erreicht, die Signalstange begrüßt, ein Blick rundum auf die Aussicht geworfen, der Proviantsack aufgeschnallt und dann eine Runde zum fröhlichen Mahle gebildet, zu welchem Deutschland das solide, Norwegen und Frankreich das flüssige Element liefern. Schinken und Mettwurst, Bier und Champagner und ein durch vierstündigen Klettermarsch auf eine schwindelnde Höhe aufgestachelter Appetit – was kann der Mensch mehr verlangen?

Die Aussicht, welche wir von dem Cap aus umspannen, ist großartig durch die scheinbar unendliche Ausdehnung der Flächen, welche wir beherrschen. Ueber die Hälfte des Horizontes streckt sich die See, deren Bewegung, von solcher Höhe aus gesehen, fast gänzlich der Beobachtung sich entzieht, so daß nur die Brandung an den Küstenklippen, die wie ein ferner Sturm herauftönt, uns von dem hohen Seegange Kunde bringt. Zwei Schooner, die von Archangel aus gen Hammerfest zu segeln scheinen, liegen wie Punkte auf windstiller Fläche. Die See zeigt Streifen, wo das Wasser vom Winde gekräuselt ist, und unregelmäßige Flächen, welche, glatt wie ein Spiegel, das Bild der Wolken wiedergeben, die am Himmelsgewölbe fest zu stehen scheinen. Kaum wagt man, an den Rand der schauderhaften Abstürze vorzugehen, welche auf den Seiten in die Tiefe gähnen. Spitze Schieferplatten, nach dem Inneren des Landes zu einschießend, strecken ihre scharfen Kanten in die Luft hinaus, und unmöglich scheint es, daß ein Weg von unten her über diese überhängenden Klippen und Risse nach der Höhe führen könne. Die Fläche des Caps selbst ist so breit und so abgerundet, daß man links und rechts nur wenig von den ähnlichen Vorgebirgen sieht, die ihm nahe stehen, sobald man sich nur so weit von dem Stande entfernt, als nöthig, um einen sichern Standpunkt zu gewinnen. So bildet denn nördlich das weite Meer, südlich die weite Steinöde des Fjelds das trostlose Panorama, über das sich ein nebliger Himmel spannt.

Die Stunde, welche wir dem Gipfel widmen konnten, war bald in fröhlicher Weise vollbracht. So einfach das Gelage war, so trefflich mundete es; denn glücklich genug hatten unsere Lappen nur einige Bierflaschen zerbrochen, die Flaschen edlen Getränks aber verschont, das Moët und Chandon uns geliefert. Zum Schlusse nahmen wir die Stange, welche die Inschriften der Namen trägt, von ihrem Steinpostamente herab, schnitzten sie oben so zu, daß eine Champagnerflasche mit ihrem Halse wohl darauf befestigt werden konnte, und bargen in der Flasche einen Papierstreifen mit unseren Namen und Adressen und folgendem schlechten Verse, dem das Album des Brockenwirthshauses oder der Grimsel zur Entschuldigung dienen mögen:

Wer diesen Zettel uns wird bringen,
Dem sollen volle Gläser klingen,
Und kömmt er gar zur Mittagszeit,
Steht ein Couvert für ihn bereit.

Um sechs Uhr wurde der Rückmarsch angetreten. Die Lappen, deren Bürde trotz der Erinnerungssteine, womit wir den Proviant theilweise ersetzt hatten, wesentlich erleichtert war, verdufteten wieder in ungesehener Ferne vor uns her, während wir uns nach ihnen, den aufgerichteten Schieferplatten und der gewonnenen Kenntniß des Fjeldes leicht zu orientiren wußten. Zum letzten Herabsteigen wählten wir nicht den steilen Schuttkegel, den wir am Morgen erklommen hatten, sondern bogen etwas südlich in den Thalriß des Baches selbst ein, dem wir so gut als möglich auf meist üppig bewachsenen Schuttflächen folgten. Obgleich aber unser Weg bergab führte, gewannen wir doch nicht viel Zeit; denn auf der Hochfläche des Fjeldes ist es fast gleichgültig, in welcher Richtung man geht, und die Abhänge sind so steil, daß sie durch diese Steilheit großentheils wieder den Vortheil aufheben, welchen ihre Senkung für den Marsch gewährt.

Die Boote waren um halb 10 Uhr erreicht. Wir hofften jetzt günstigen Wind zu haben, da wir am Morgen gegen den Wind hatten aufkreuzen müssen; allein der Wind hatte sich gedreht, unserem gewöhnlichen Schicksale zufolge, das nach dem Ausspruche eines unserer Matrosen darin besteht, daß der Wind immer daher kommt, wohin wir wollen. Das keine Boot konnte noch aufkreuzen; unser „Grundsegler“ aber mußte bald sein Segel fallen lassen und einzig mit den Rudern die Rückfahrt vollbringen.

Das war gerade kein Vergnügen! Der Himmel hatte sich bedeckt, die wärmende Sonne war verschwunden, eine kalte Brise schnob aus Westen her feucht und neblig uns entgegen. Wir waren erhitzt, ja selbst in Schweiß gebadet von dem anstrengenden Marsche, der uns um so mehr ermüden mußte, als wir länger schon auf dem Schiffe nicht große Bewegung uns hatten geben können. So griff am Ende doch die Kälte durch trotz des Pelzwerkes, das wir vorsichtig in’s Boot genommen hatten. Wir saßen oder lagen still auf unseren Plätzen, Cigarren schmauchend und den Tag in Gedanken an uns vorüberziehen lassend.

Da rauscht etwas zur Seite an den Klippen des Tu-Fjordes in der Nähe der rothen Granitschichten, deren ich oben erwähnte und die bei heller Beleuchtung selbst vom Schiffe aus noch zu erkennen sind. Wir sehen auf, wenden die Blicke dorthin, da rieselt, strömt, springt und rast es herab von einer vorspringenden Klippe, ein wüthender Strom von Blöcken! Hoch auf spritzt das Meer, an hundert Stellen zugleich von den herabsausenden Felsmassen getroffen! Eine ungeheuere Staubwolke wälzt sich am Grunde der Klippe hervor, wirbelt nach oben, hüllt mehr und mehr mit weitem faltigem Mantel die ganze Erscheinung ein und breitet sich langsam über den Fjord aus. Nun bricht auch ein rollender Donner hervor und hallt tausendfältig in Klippen und

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Norwegisch: Nicht.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 23. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_023.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)