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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)


Leben alle mögliche Glaubenszünftelei. Daher haben wir denn nacheinander „Jerusalemsfreunde“, die das Christenthum mit Kalk und Steinen aufbauen, „Michael-Hahner“, pure Erbauungsmenschen, die aber der Staatskirche weit aus dem Wege gehen, „Neukirchliche“, mit dem Kirchendogma zerfallene Ultras des Pietismus, und wie alle die Secten heißen mögen, welche von ihrem schwäbischen Winkel aus die Augen der gesammten Christenheit auf ihre frommen „Bestrebungen“ gerichtet wähnen.

So hat sich das Volk mit Ausnahme weniger Orte, in welchen die Geistlichen ganz auf dem Boden des Volkes standen und ein echt patriarchalisches Verhältniß keine Störung aufkommen ließ, in tiefgehender Reaction gegen das Neue, welches seiner ganzen gut protestantischen Art zuwider ist, selber geholfen oder zu helfen gesucht. Da und dort, in Dorf und Stadt, stand ein „Mann“ auf – wie das Volk charakteristisch genug solche Leute heißt – verließ seinen Schusterschemel, seinen Ladentisch, seinen Schneiderstuhl, ja selbst die Kanzel, und erzählte den ihm andächtig lauschenden Zuhörern von den Resultaten seiner inneren Erleuchtung. Vergebens suchte man diesen „Mann“ von der Amtsstube und der Kanzel aus zu „dämpfen“, d. h. zu maßregeln; je mehr moralische Dragonaden man gegen ihn losließ, um so kräftiger wuchs sein Ansehen, sein Anhang unterm Volke; denn wie dieses früher in den Nationalistengeistlichen nur Miethlinge sah, die, vom Staate bezahlt, das „Pfarrgeschäft“ betrieben, so wendet es sich meistens mit noch größerem Mißtrauen jetzt von seinen pietistischen Seelsorgern ab, weil sein gesunder, kerniger, zur That drängender Sinn das Krankhafte, Naturwidrige und Gewaltsame des neuen Bekenntnisses wittert und deshalb nach wie vor zu seinen „Männern“ hält.

Wohl die hervorragendste, durchgebildetste und darum auch würdigste Erscheinung in der Reihe dieser „Männer,“ und dabei von durch und durch schwäbischer Art, ist der schon früher in dieser Zeitschrift (Jahrgang 1862 Nr. 15) geschilderte, aus dem geistlichen Staatsdienst ausgetretene Reiseprediger Werner; ihn hat auch unser Künstler, der junge Historienmaler Heck, als Repräsentant seiner gleichstrebenden Genossen gewählt; indessen geht doch aus der ganzen Anordnung seines Bildes zur Genüge hervor, daß nicht eine Portraitfigur Werner’s beabsichtigt war, sondern die Darstellung jenes so tiefen und schönen Zuges der Schwabennatur, das Streben nach Vergeistigung des Lebens und Erforschung der höchsten Wahrheiten.

Wie glücklich Robert Heck seine künstlerische Aufgabe gelöst hat, wie wirksam er einen an sich spröden Stoff, ohne der Natur untreu zu werden, zum lebensvollen idealen Kunstwerk gestaltet hat, wird auch der nicht in Schwaben lebende Beschauer seines schönen Bildes auf den ersten Blick inne werden. Jede Gestalt in dieser reichen Composition ist eine Repräsentation schwäbischen Lebens, ohne daß sie darum ihre tiefe ausdrucksvolle Beziehung zu dem allgemein Menschlichen verleugnen könnte. Von der tief-religiösen Andacht im Haupte des Dorfpatriarchen bis zu dem unschuldvollen Aufblick des kleinen Bauerkindes, von der intelligent freundlichen Miene der schönen jungen Pfarrerin bis zu dem skeptisch, fast wie geheime Polizeispionage dreinschauenden Gesicht der alten, von Devotion nach oben, von Sorge nach unten gekrümmten Dorfschulmeistergestalt ist jeder Zug, jede Figur eine treue Copie der schwäbischen Menschen, wie sie sich hier theilnahmvoll, dort neugierig, ohne Unterschied von Alter und gesellschaftlicher Stellung um den berühmten Reiseprediger in der Dorfscheune versammeln und seinem begeisterten Vortrage lauschen, dessen Eindruck sich in jeder Miene, je nach der Individualität und Stimmung des Einzelnen, verschiedenartig abspiegelt.

Aber nicht blos das Volksthümliche, das Localinteresse macht uns diese reiche Gruppirung um die edle Lessingsgestalt Werner’s anziehend; das Bild ist auch zugleich ein in Zeichnung und Farbe so wohl gelungenes harmonisches Kunstwerk, daß wir gleichsam von ihm den nämlichen künstlerischen Eindruck empfangen, den der Redner als religiöse Weihe in die Herzen seiner Zuhörer ausgießt.

Daß der fromme Denker und humane Menschenfreund Werner auch seine ästhetische Seite hat, diesen neuen interessanten Aufschluß über den merkwürdigen Charakter des seltenen und darum selten richtig gewürdigten Mannes danken wir diesem Bilde seines talentvollen Freundes Robert Heck.

E. R.


Zum Nordcap.
Von Carl Vogt in Genf.
(Schluß.)


Trotz ihrer schweren Bepackung trabten unsere Führer wie Rennthiere leichtfüßig über die Flächen weg, auf denen wir erst später einige aufgerichtete Schiefertafeln entdeckten, die ihnen nebst dem Kompaß zur Richtschnur dienten. Jetzt zeigten sie sich als Silhouetten auf der Höhe eines langen Rückens, wo man sie eben noch mit den Augen entdecken konnte; dann verschwanden sie in einer Terrainfalte, die sie den Blicken entzog. Man beeilte sich, ihnen nachzusetzen; aber auf der Höhe angekommen, zeigte sich nichts als öde Fläche, ähnlich der durchschrittenen, ohne erkennbaren Anhaltspunkt für die Richtung, welche sie genommen. Nun jodelt Hasselhorst seinen Tyroler Alpenschrei, der unserem Schiffsvolk schon längst zum Signal geworden; Vogt schreit mit aller Kraft seiner Parlamentslunge, und man horcht begierig nach einer Antwort von Seiten der Führer. Ein Regenpfeifer, der sein langweiliges Tü tü ertönen läßt, täuscht wohl in dem ersten Augenblicke, dann aber bleibt es still. Nun wird das Fernrohr hervorgenommen und jeder Felsen, der einen Mann vorstellen könnte, genau untersucht – keine Spur! Man wettert, flucht sogar trotz der genossenen christlichen Erziehung, dreht sich zehn Mal herum – da sitzen unsere Lappen, stumm wie Fische, hinter einem großen Steine und wundern sich sichtlich über unsere Aufregung.

Man schreitet wieder fürbaß; Vogt mit Herzen voran im Gespräche; Berna und der Capitain seitlich auf den Flanken, begierig ein Wild zu erschauen; Greßly halb am Boden kriechend, um der gedrückten Flora ein einsames Kind zu entreißen. Hasselhorst bildet dieses Mal ausnahmsweise den Nachtrab. Das „Auge der Expedition“, wie er seit der Adlerjagd genannt wird.

Läßt verzückt die Augen schweifen,
Gleich als hätt’ er was zu greifen
Auf dem öden Felsenplan.

Aber es ist nichts zu greifen; die Mappe bleibt geschnürt bis zur Rückkehr. Fläche und flache Steine – wie könnte da der Maler ernten?

Plötzlich schauert es vor unseren Füßen auf: zehn, zwanzig Rypen[WS 1], ein ganzes Volk in unmittelbarer Nähe. Unsere Jäger tragen noch die Flinte ungespannt im Bandelier; – bis sie fertig sind, haben die Rypen sich in der nächsten Vertiefung gedeckt. Der Springinsfeld Freitag jagt hinter ihnen her, und vergeblich versucht Hasselhorst, der sich der Erziehung des verwahrlosten Hundeviehs mit mehr oder weniger Erfolg gewidmet hat, ihn mit Rufen und Steinwürfen zurückzubringen. Endlich bewirken Jugenderinnerungen, was Scheltworte vergebens bezweckten. Der Hund ist offenbar einst dazu benutzt worden, Schafe zusammen zu treiben; er betrachtete uns nun als seine Heerde, die er verpflichtet ist zu decken, und so streicht er nach einigem Klaffen hinter den Rypen her, zuerst zu dem Nachzügler Greßly und dann den beiden Lappen nach, die wieder einen unabsehbaren Vorsprung gewonnen haben. Jetzt erst läßt sich die Verfolgung der Rypen organisiren. Von drei Seiten suchte man ihnen beizukommen; aber sie halten nicht weiter, und nur aus großer Ferne kann ihnen ein vergeblicher Schuß nachgejagt werden.

Indessen ist nun der Jagdeifer geweckt, und so geht es zum Theil auf Umwegen vorwärts. Rypen und Regenpfeifer locken bald nach rechts, bald nach links, und theils auf dem Hinwege, theils während der Rückkehr fallen in der That einige schmackhafte Braten in die Taschen der Jäger. Wunderbar scheint es manchmal, welch zähes Leben diese nordischen Vögel besitzen. Nicht zu sprechen von den Wasservögeln, welche unmittelbar in den Kopf oder Hals tödtlich getroffen sein müssen, sollen sie nicht in dem nassen Elemente aus Nimmerwiedersehen verschwinden – auch die Rypen fallen nur im Todeskampfe, und selbst dann noch wissen sie sich unter Steinen so gut zu verbergen, daß ohne Hund es unmöglich ist, sie aufzufinden. So schoß Berna auf ein paar Rypen,

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Schneehühner
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 22. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_022.jpg&oldid=- (Version vom 17.9.2016)