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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

„So Gott will, wird er bald wieder seinen Pflichten nachkommen!“

„Gott gebe es!“ fiel er ein und ergriff in aufwallendem Gefühl die Hand des Mädchens. Dann trat er in die anstoßenden Gemächer, während Amanda auf ihr Stübchen eilte, um sich zum Gange nach dem Schloß anzukleiden.

Als sie, ihr Haar strählend, zufällig an’s Fenster trat, sah sie den Gerichtsrath und Kreisrichter durch den Garten schreiten, Beide schweigsam und mit ernstem Antlitz.

„Puh! welche Amtsmiene!“ dachte sie. „Was sie nur wieder haben! über welchen armen Menschen sie wieder den Stab brechen! Gott sei Dank, daß mein Bräutigam keine Gerichtsperson ist. Zwar könnt’ ich morgen Frau Actuarius werden; der Scybylski, der – – Aber Frau Pastorin klingt doch hübscher! Freilich, wenn mein Theodor im Schreiberrock steckte, dann dürften zehntausend Pastoren um mich werben, und ich würde zehntausend Körbe verabreichen.“

Ihr ganzes Gesicht lachte. „Zehntausend Ehrwürden als Anbeter! Wie komisch: diese Anträge, diese Erklärungen, Bitten, Betheuerungen und Schwüre! Aber am Ende wäre es doch langweilig, und nach dem ersten Dutzend schon müßte mich der Dreizehnte mit meinem Theodor trauen.“

Diese und ähnliche heitere Gedanken ausspinnend, vervollständigte sie ihre Toilette. Sie war sich ihrer körperlichen Vorzüge bewußt und besaß Geschmack und Kunst, dieselben durch eine gefällige, wenn auch einfache Kleidung zu heben. Sie wollte sich vom Vater verabschieden, aber die Zimmer im Parterregeschoß waren von innen verriegelt. „Als ob Jemand auf ihre Proceßgeschichten hören wollte!“ murrte sie und schlug, das Haus verlassend, den Weg durch die lange Pappelallee nach dem Schloß ein.

Die Luft war kalt, doch um so reiner und weiter. Der festgefrorene Schnee knirschte unter den Rädern der Lastwagen und Kohlenfuhrwerke, welche heute, am Sonnabend, die Straße belebten. Aus der Stadt wallte das Geläut der katholischen und protestantischen Kirche einträchtiglich über Wald und Gefild. In den Scheunen der fürstlichen Vorwerke aber dröhnte der fröhliche Sechsachteltakt der dreschenden Knechte. Von der Heerstraße abbiegend, wendet sich ein breiter und bequemer Weg die Höhe hinan, auf welcher das Schloß mit Basteien, Thürmen und altersgrauen Gebäuden stolz sich ausbreitet, ein ehrwürdiges Denkmal vielhundertjährigen Besitzes und wohlerhaltenen Reichthums.

Amanda wollte der Fürstin ihren Dank für die vielen Beweise zarter Aufmerksamkeit darbringen, welche dem Rendanten seit seiner Krankheit durch die edle, feinfühlende Dame zu Theil geworden waren. Allein die Herrschaft hatte den schönen Tag zum Besuch benachbarter Gutsherrn benutzt. Schnell entschlossen, schritt das Mädchen über den Schloßhof nach dem andern Flügel des Gebäudes und klopfte, nachdem sie sich mühsam über die vielen Treppen und in den langen Corridoren zurecht gefunden hatte, an die Thüre des alten Leibarztes.

Doctor Michaelis empfing die Tochter seines Patienten mit großer Freundlichkeit, denn ihm gefiel der schroffe Gegensatz seiner eigenen Weise, die heitere, sorglose Natur Amanda’s. Auch erinnerten ihn ihre Züge an ein geliebtes Wesen. Auf einem ähnlichen Antlitz hatte sein Auge in der Jugendzeit oft und schwärmerisch geruht und eine glückliche Zukunft gelesen.

Nach den ersten Grüßen und Fragen nöthigte er das Mädchen, in seiner Wohn- und Studirstube es sich bequem zu machen. Bücher und Schreibhefte wurden schonungslos vom Tisch geworfen, der vor dem Sopha stand.

„Sie sollen,“ rief der Greis, „mir nicht so bald wieder entfliehen! Solch angenehmer Besuch wird mir nur selten zu Theil. Auch sind Sie müde und von der scharfen Luft erkältet. Wir wollen ein Täßchen Thee trinken und eine Stunde angenehm verplaudern.“

Amanda erklärte sich ohne langes Zögern einverstanden, legte Hut und Mantel ab und bewegte sich frei und leicht wie daheim. Dem Diener, der auf Befehl das Nöthige zum Thee beschaffte, nahm sie alle weitere Sorge ab, mit Humor und Zärtlichkeit sich in die Rolle der Dame vom Haus schickend.

Als der Theekessel über die Gluth im Kamin gesetzt war, sah sie sich im großen, aber überfüllten und ungeordneten Gemach um.

„Herr Doctor,“ hub sie an und drohte schelmisch mit dem Zeigefinger, „Sie werden bald genug Ihre Gastfreundschaft bereuen! Es ist ein gefährlicher Kobold in die Gelehrtenwohnung eingedrungen. – Sie haben da ein schönes Gemach, liebster Doctor, ehrwürdige und bequeme Möbel und tausend hübsche Gegenstände. Aber – verzeihen Sie einem naseweisen Mädchen – dies Alles könnte noch hundertmal schöner, behaglicher sein, wenn – wenn Sie mehr auf Ordnung hielten! Erlauben Sie, bester Herr Doctor, daß ich hier nur ein Viertelstündchen die Hausfrau spiele und aufräume … Haben Sie keine Sorge um den Schreibtisch,“ fügte sie lächelnd hinzu, als der Gelehrte zögernd auf das traute Chaos seines Arbeitstisches sah. „Dies Heiligthum dürfen wir nicht berühren, das weiß ich leider vom Väterchen. Uebrigens steht jenem Riesenrücken die gelehrte Verwirrung recht wohl an.“

Der Doctor mußte lächeln und blickte wiederholt seinen alten Zimmergenossen, den verwundert starrenden Pudel an, während Amanda die Revolution in’s Werk setzte.

Unter ihren flinken Händen schien Alles sich von selbst zum schönen Ganzen zu ordnen, so daß Michaelis in wachsender Freude darüber dienstfertig nach ihren Winken darreichte und zurecht legte. Die Bücher stellte man wohlgeordnet in die Repositorien zurück; hier ward ein schwerer, geschnitzter Lehnstuhl vor ein bestimmungsloses Tischchen gerückt und auf das letztere eine Lampe oder Vase gestellt; dort mußte ein altes Gemälde seinen Platz mit einem andern tauschen. Die große, prächtige Büste einer Pallas Athene wurde hinterm Bollwerk schweinslederner Folianten hervorgeholt und auf den Schreibtisch gestellt; dort ward eine leere Console mit pompejanischen Schalen und Terracotten geschmückt. Die schwere Standuhr, die antiken Leuchter, die Instrumente und Globen, die hundert Gegenstände, welche der begüterte Mann während eines langen Lebens und auf weiten Reisen gesammelt hatte, erhielten einen besseren Platz und schienen jetzt erst da zu sein. Zuletzt wurde noch das Sopha in eine freiere Lage gerollt, wo es eine Ecke traulich ausfüllte. Für den Tisch davor fand sich eine Decke, und Amanda schuf ihn rasch zum einladendsten, freundlichen Theetisch um. Dann endlich trat sie an’s große Bogenfenster und faltete die schweren, dunkelfarbigen Vorhänge davor so, daß der Sonnenschein hereinströmen konnte und sich golden in die veränderten Räume ergoß.

Der alte Doctor sah sich eine Weile schweigend im Gemache um. Er fühlte in diesem Augenblick die Einsamkeit, in der er bisher gelebt und sich allen heitern Genüssen entfremdet hatte.

„Ich danke Ihnen, meine gute Fee,“ sagte er bewegt. „Zum ersten Male ist dem Einsiedler seine Klause behaglich!“

Nun setzte man sich an den Tisch, um den würzigen Trank zu schlürfen, welcher die Stirn erheitert und die Säfte lebhafter kreisen läßt. Auch des Pudels vergaß man nicht, und bald schmiegte sich dieser dankbar schmeichelnd an seine neue Freundin.

Michaelis ward im traulichen Gespräch mit seinem jungen Gast selbst verjüngt. Er sprach lebendig und mit offenem Gefühl, was Amanda an dem sonst so wortkargen Gelehrten nicht wenig überraschte. Belehrend und unterhaltend zugleich, wußte er des Mädchens Wißbegierde zu befriedigen, welche durch die wissenschaftlichen Apparate, die vielen alten Holzschnitte und Kupferstiche an den Wänden erregt wurde.

Als man sich endlich und ungern trennte, hatten wenige Stunden Beide einander näher gebracht, als jahrelanger Umgang es vermocht hätte.

… Dem Actuarius Scybylski war’s in des Rendanten Stube nach dreistündiger Verhandlung zu heiß geworden. Er trat vor die Hausthür und setzte sich in der kahlen Laube auf den Pfahl, welcher während der Sommerszeit eine Tischplatte trug. Die Laube war in den grünen Monaten mit der wilden Rebe und Rosengesträuch bewachsen. Er gedachte eines Juniabends, an dem Amanda ihm auf dieser Stelle eine Rose gepflückt und scherzend gegeben hatte. Heimlich küßte er damals die Blume, preßte sie zu Hause sorgfältig und trug sie seitdem, in feines Papier geschlagen, in seiner Brieftasche wie einen Talisman.

Als er vor wenigen Stunden in seinem Portefeuille ein Blatt mit Notizen suchte, die er zu schwerer Beschuldigung eines gewissen Mannes zusammengestellt hatte, fand er es zufällig neben dem Papier mit der Rose stecken. Er stützte das Haupt auf beide Hände und überließ sich unsäglich traurigen Gedanken.

„Wer wird bei solcher Kälte mit bloßem Kopf im Freien sitzen!“ sagte eine Stimme hinter ihm. Er sprang erschreckt empor.

„Fräulein Günther!“

„Ist die geheime Sitzung zu Ende?“

„Noch nicht – und ich weiß nicht, ob – –“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 19. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_019.jpg&oldid=- (Version vom 29.7.2021)