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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Als er nach dem Diner in sein Zimmer trat, sprang ihm der Hund bellend und wedelnd entgegen, schmiegte und drückte sich an seine Beine und beleckte die Hände des Herrn, der ihm freundlich den zottigen Kopf streichelte. Dann entledigte sich Michaelis seines Fracks, zog seinen blauen, langschößigen Hausrock an und schritt, vom Pudel begleitet, ein paar Mal im Zimmer auf und nieder. „Die Herrschaft thäte auch klüger,“ sagte er halblaut zum aufblickenden vierfüßigen Begleiter „wenn sie mich ein für allemal von ihrer Tafel fern hielte. Ich begnüge mich vollkommen mit Deiner Gesellschaft. Hol’ der Geier diese Diners! Langweile während und ein verdorbener Magen nach der Tafel sind der Gewinn davon. Diese hohlen Redensarten, diese Ziererei! Die Menschen, welche in Gesellschaft kommen, reden Einer dem Andern ein, daß sie sich amüsiren, und die ganze Gesellschaft ist eine große compacte Lüge von sechs oder sieben Gängen, in Madeira, Rheinwein und Champagner eingetunkt.“

Er brannte sich eine Cigarre an, rückte seinen Lehnstuhl an’s Fenster und ließ sich verdrießlich nieder. Seine Gedanken waren noch bei der Tafel.

„Einen neuen Heiligen hätten wir nun gefunden! Johann Jakob Günther, geheimer Secretarius und Rendant Sr. Majestät. Was für Criminalblicke mir zugeschleudert wurden, weil ich in die allgemeine Litanei nicht einstimmte! Ich weiß zwar gegen den Mann nichts zu sagen, aber ich traue den Leuten nicht, welche mit aller Welt Freundschaft halten. Er lobt immer und jeden; dafür lobt nun der Herr Jeder auch ihn! Habeat sibi!

Er zog die Klingel. Ein Diener erschien mit Licht.

Der Arzt stellte die Lampe auf seinen ungestalten, von Büchern, anatomischen Karten und Manuscripten überflutheten Schreibtisch und vertiefte sich bald in das Werk eines befreundeten Gelehrten. Nichts störte die Stille des Gemachs. Der Pudel lag stumm; nur zuweilen schmiegte er liebkosend sein Haupt an die Füße seines Herrn. Im Kamin knisterte die Gluth, und das Rauschen der umgewandten Blätter zeugte vom Eifer des Lesenden.

Eben verhallte der elfte Schlag der Schloßuhr, als auf dem Korridor eilige Schritte tönten und an die Thür heftig gepocht wurde. Der einsame Junggeselle, so später Besuche als Arzt gewohnt, rief ruhig sein Herein, erstaunte aber dennoch, da Pastor Reinhold in’s Zimmer schritt. Er trat dem späten Gaste fragend entgegen.

„Entschuldigen Sie,“ sagte dieser hastig, mit zerstörtem Antlitz und unverhehlter Aufregung. „Entschuldigen Sie, Herr Doctor, wenn ich Sie aus wichtigen Studien störe. Ihre Hülfe ist dringend noth. Meinen Schwiegervater hat ein heftiger Blutsturz befallen. Eilen Sie! helfen Sie!“

„Sie melden mir nichts Unerwartetes!“ erwiderte der Arzt. „Ich habe den Fall längst vorausgesehen!“

„Wie?“ rief der Andere empört, „und Sie haben den ausgezeichneten Mann, die liebenswürdige Tochter nicht gewarnt?“

„Davon später! jetzt kommen Sie!“ Michaelis hatte bereits Hut und Mantel ergriffen, und rasch schritten beide Männer hinab in’s Freie. Während sie den Weg nach der Stadt einschlugen, begann der Arzt: „Schon vor längerer Zeit sprach ich mit Günther über sein geheimes Leiden. Ich bat ihn, einige Monate sich der Geschäfte zu enthalten, bat ihn mit der vollen Aufklärung über die schwebende Gefahr, ich selbst wollte ihm einen Urlaub vermitteln; allein er hat mich mit heftigen Worten abgewiesen. Er wollte nicht gesund werden; dem Erkrankten kann ich die Schmerzen erleichtern, ihn heilen aber, Herr Pastor, das sage ich Ihnen vorher, ihn heilen kann ich schwerlich mehr.“

Reinhold erblaßte. „So geben Sie jede Hoffnung, ihn zu retten, verloren? Und das sprechen Sie so ruhig aus? Bewegt Sie denn der Verlust eines solchen Mannes, den Alt und Jung als Ehrenmann bewundert und liebt, dessen Charakter und Wandel so rein ist, daß selbst der Neid verstummt, und kein Feind ihm unter Allen, die ihn kennen, lebt – bewegt Sie denn das Leiden und der mögliche Verlust eines so seltenen, eines so einzigen Mannes nicht?“

„Ich bin Arzt, ich sah die besten und die schlechtesten Menschen dem gleichen Gesetze unterworfen. … Eilen wir!“

Nach den letzten bestimmten Worten des Arztes fühlte sich Keiner geneigt, das Gespräch fortzusetzen, sondern Beide eilten schweigend neben einander her.

Als sie durch den kahlen, schneeverwehten Garten schritten, welcher des Rendanten Haus von der Landstraße trennte und im grünen Sommer heiter einrahmt, konnte sich der Geistliche eines Seufzers nicht enthalten. Er dachte an die schonen Juni- und Julinächte, die er hier mit Amanda, ihrem Vater und gemeinsamen Freunden verbracht hatte. War denn dieser wüste, traurige Fleck Erde derselbe, welcher vor wenig Monaten mit duftigen Blumenbeeten und dicht verschlungenen Lauben ihn gleich einem lieblichen Eden gefesselt hatten? Wie gespenstisch erschien ihm das sonst so trauliche Haus! Statt der luftigen Last tausendfach verschlungener Rebenranken trägt nun das Dach die Wucht des Schnees, welche den leichten Bau zu erdrücken droht. Und dräut nicht auch im Innern Zusammensturz und plötzliche Vernichtung schöner, reiner Verhältnisse? Die Räume, welche ehedem vom süßen Gelächter des Mädchens wiederhallten, erfüllt heute Weinen und Wehklagen. Der Tod, der schon die Mutter entriß, scheint auf’s Neue hier sein Fest feiern zu wollen.

Schon im Flur begegnen die Ankommenden ängstlichen, fragenden Gesichtern. Im Gemach, das an des Hausherrn Schlafzimmer stößt, sind außer der Tochter die Vorgesetzten des Rendanten und die angesehensten Bürger versammelt. Jedermann ist für Günther zur Hülfe bereit. Bei der Ankunft des Arztes wird es still. Was wird er verkünden? Der Kranke, jetzt von den Theilnehmenden umringt, liegt schwerathmend auf seinem Lager. Wenige Stunden haben ihn furchtbar verändert. Amanda beugt sich über ihn. Er spricht nichts. Nur seine Finger hasten fieberhaft über die Decke, und seine verglasten Blicke sind nach der Thür gerichtet, durch welche der Arzt eintritt. Dann leuchten sie neubelebt und hangen an den ruhig prüfenden Augen des Doctors, als wollten sie durch den klaren Spiegel in die Seele dringen und dort einen rettenden Gedanken erfassen. Es ist still – todtenstill! Der Arzt befühlt die Brust, zählt den Puls des Kranken, lauscht seinen Athemzügen – dann schreibt er … das Kritzeln der Feder hört auf. …

„Nur Ruhe – und es wird vorübergehen!“

Ah! – Ein tiefer Athemzug entringt sich Allen. Amanda eilt in’s Nebengemach und bricht dort in krampfhaftes Weinen aus.

Die Freunde, auch der Pastor, drücken Michaelis die Hand. Der Kranke aber sinkt aufseufzend in die Kissen zurück und fährt mit der Rechten langsam über die Stirn, als wollte er einen bösen Traum verlöschen. Die Bekannten und Freunde verlassen beruhigt das Haus. Nur Amanda’s Bräutigam und der Doctor bleiben am Krankenbette zurück.

Jetzt schließen sich die Lider des Leidenden. Der Arzt winkt Reinhold. Dieser tritt in die Wohnstube und reicht dort seiner schluchzenden Braut noch einmal die Hand. Dieser stumme Händedruck aber in diesem Augenblick ist ein Schwur heiliger Treue, der Treue, welche auch über’s Grab hin dauert! – Dann folgt der junge Mann dem Doctor.

An der Gartenthür scheiden sich ihre Wege. Noch hält Reinhold den Arzt zurück. „Hier unter dem ewigen Himmel geben Sie mir Wahrheit! Hoffen Sie?“

„Ja. Es ist Hoffnung. Ich fürchte nicht die Krankheit, aber den Kranken. Wenn Sie Gewalt über ihn haben, so bestimmen Sie ihn, ruhig zu sein!“

Damit trennen sich beide Männer. Die Nacht ist unterdeß sternhell geworden. Reinhold geht langsam in die Stadt, wo neben der Kirche im stillen Pfarrhause schon die Mutter schläft. Er aber liegt noch stundenlang auf den Knieen und sucht Trost in den heiligen Sprüchen der Bibel, während fern von ihm, hoch auf seiner Warte, der Arzt im verschlungenen Reigen der Gestirne den ewigen Gesetzen nachsinnt.


3.

Durch die Wohnstube des Pfarrhauses zieht am Morgen eine angenehme Wärme. Ein wolken- und nebelfreier, stahlblauer Winterhimmel blickt herein und verlockt den Canarienvogel im Bauer zum Gesang. Auf dem Tisch steht das Frühstück, das die greise Mutter mit ihren noch immer schönen Händen bereitet und dem Sohne darreicht. Er aber schlürft nicht mit gewohnter Behaglichkeit den braunen Trank, sondern kauert schweigsam im Lehnstuhl, nur dann und wann das blasse, überwachte Antlitz nach der Wanduhr erhebend. Seine Gedanken fliegen ihm schon voraus zur Braut, zum kranken Vater. Die Mutter, eine hohe, stattliche Greisin mit vollem,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 3. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_003.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)