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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

reicher, farbiger, vielgestaltiger, als jene am Piz Languard, dem gegenüberliegenden Concurrenten des Piz Ot. Drüben bei jenem ist’s bis hinauf Granit-Terrain, hier Kalkboden und erst weiter droben krystallinisches Gestein. Die Alpenpflanzen aber sind kleine eigensinnige Starrköpfchen, nichts weniger als kosmopolitische Weltbürger. Die Auswanderungssucht ist noch nicht in sie gefahren, und urpatriotisch gedeihen sie nur da, wo ihre eigenste Heimath, ihr rechter Grund und Boden ist. Da wuchert die schwarze süßliche Rauschbeere in miniatur-strauchartiger Form, ein kleiner Gerngroß, den aber die halbjährige Schneelast darniederhält. Daneben Senecio abrotanifolius[WS 1], mit seinen goldlack-gelben Blüthensonnen an Crepis aurea erinnernd. Dann Ranunculus parnassifolius und Arabis caerulea, sowie Dianthus glacialis und Viola calcarata, lauter Pflänzchen, die, in Verbindung mit den noch später zu nennenden, den Botaniker wohl reizen können, eine Wanderung zum Piz Ot zu unternehmen.

Nun biegt der Weg links ein, um den seltsam zerklüfteten Piz Padella herum. Drüben, uns zur Rechten, wächst ein sonderbar gestaltetes Felsengemäuer empor, die Cima da Spignas, vom Volke auch Chaste, d. h. Burg, genannt. Und in der That, je weiter wir kommen, desto mehr gleichen die scharfkantig abgeschnittenen, geradlinig gezackten Kalkmauern einem thurmreichen, zinnengekrönten Ritterschlosse aus alter Normannenzeit, das wie gefeiet und verfehmt hier oben, in der nun beginnenden Steinwüstenei, der Erlösung harrt. Denn mit jedem Schritt, den wir tiefer in das hier sich öffnende Hochthal eindringen, wird die Scenerie wilder, seltsamer, abenteuerlicher. Soweit das Auge umherschweift, allüberall begegnet es Merkmalen schrecklicher Zerstörung und Verwüstung. Alles ist Ruine, Ueberbleibsel einst noch größerer Verhältnisse, hier durch Frost und Wetter zerfressen und abgesprengt, dort durch Lawinenstürze zur glatten grauen Böschung umgewandelt. Auch die Vegetation schrumpft immer niedriger zusammen und zeigt sich nur noch höchst sporadisch; reizende Androsaceen, Saxifragen grüßen mit ihren porcellan-weißgelblichen Blüthensternchen, und Geum reptans, Phyteuma pauciflorum und die am Boden kriechende Sibbaldia (procumbens) lauschen zwischen dem Trümmergestein hervor.

Allmählich wendet sich der Pfad. Im Hintergrunde dieser großartigen Einöde rückt allmählich neben dem Kamme von Spignas ein Felsenkoloß hervor, senkrecht abfallend, mehrere tausend Fuß aufragend, dem Anscheine nach unerklimmbar. „Da ist er!“ ruft Papa Krätli und deutet auf den Piz Ot. Es ist der Standpunkt bei der Fontana fredda (kalte Quelle, die mit nur 2° Réaum. Temperatur unter einem gewaltigen Granitblock hervorquillt), von welchem unsere Zeichnung aufgenommen wurde. „Da hinauf geht’s?“ fragt Jeder ungläubig. Ja, prächtig, lustig geht’s hinaus. Früher war’s freilich ein Wagestücklein, zu dem ganz erprobte Alpengänger gehörten. Seit jedoch die Samadener mit Kostenaufwande von einigen Tausend Franken den Felsen aussprengen und treppenförmig Steine legen ließen, da wandert sich’s so gemächlich und sicher dort hinauf zu der 10,000 Fuß hohen Warte wie auf den Mailänder Dom oder den Straßburger Münster.

Hier wartet des Wanderers auf dem nun über rauhe Platten an der Cresta naira (dem Vorkopf des Piz Ot) sich emporwindenden Wege eine neue Ueberraschung. Man kann wochen- und monatelang in den Alpen reisen, einsame Bergthäler besuchen, wenig begangene Pässe überschreiten und doch nicht ein einziges Mal die Genugthuung haben, eines der vornehmsten Alpen-Attribute, ein Gemsthier, gesehen zu haben. Hier am Piz Ot ist’s keine Seltenheit auf Gemsen zu stoßen. Noch öfter erblickt man Schnee- und Steinhühner und zwar in solcher Nähe, daß man hinter denselben herläuft und sie mit dem Alpenstock todtschlagen zu können glaubt, da ihr Lauf schwerfällig und ihr Flug niedrig und unbeholfen ist.

So geht’s im treppenförmigen Zickzack zur Cresta naira hinauf. Links baut sich der verwitterte, höchst wunderbar ausgezackte Felsenkamm der „trais Sruors“ (drei Schwestern) auf, aus deren phantastischen Verwitterungs-Gebilden besonders zwei sofort die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Das Volk nennt sie Fra Scala und Donna Lucrezia; und wirklich sehen beide wie mittelalterlich costümirte menschliche Figuren aus, Reminiscenzen an Mönch und Nonne zunächst der Wartburg, nur ausgeprägter und bestimmter in den Formen, so daß wenig Spiel der Phantasie dazu gehört. Bald darauf erreicht der hochaufathmende Wanderer einen Prachtaussichts-Punkt „alla veduta della Bernina“ genannt. Hier überblickt man zum ersten Mal über den Kamm des Piz Padella mächtig herauswachsend das kolossale, über und über mit Firn bedeckte Bernina-Massiv mit allen seinen Spitzen, Gräten, Zacken und Ausgipfelungen. Doch wir sättigen uns noch nicht an diesem auf Abschlag gegebenen Partial-Panorama; wir behalten uns den ganzen Vollgenuß vor. Jetzt gilt’s nun kniefest und frischen Auges, behenden, rasch auswählenden Trittes vorwärts zu dringen. Denn es kommt die letzte, etwa eine Stunde beanspruchende Erklimmungstour des eigentlichen Piz Ot-Obelisken. Wer am Schwindel leidet, mag hier seinen Führer immer zur Handhülfe bereit haben; schwindelfreie Touristen steigen so fröhlich, so sicher, so unbehindert über den treppenförmigen Pfad hinauf, daß sie überrascht sind, wenn man ihnen zuruft: „Noch fünf Minuten, dann ist’s gewonnen.“

Und endlich, endlich ist’s gewonnen, das hohe, herrliche Wanderziel; endlich stehen wir droben auf dem halbmondförmig gebogenen, für mehr als vierzig Personen Raum gebenden Gipfel, und unter uns ausgebreitet liegt, gleich einem im wildesten Wogen-Aufruhr versteinerten Meer, die unendliche, prachtvolle Alpenwelt. O, was ist alle Menschenmacht und alle durch Menschenhand und Menschenfleiß geschaffene Größe und Majestät gegen diese unerreichbare Natur-Erhabenheit, von welcher der, der sie noch nie zu sehen Gelegenheit hatte, sich wohl kaum einen Begriff zu bilden vermag!

Ich breche ab, denn mir fehlen Worte, um den gewaltigen Eindruck nur einigermaßen annähernd zu schildern. Das bekenne ich offen, ich habe mit diesem Artikel Propaganda für einen der herrlichsten Aussichtspunkte unseres Alpenlandes machen wollen, Propaganda im Interesse der Touristen-Welt selbst. Vielleicht begegnen wir uns, lieber Leser, nächsten Sommer droben auf dem schönen, schönen Piz Ot!




Blätter und Blüthen.

Leipziger Erinnerungen. Nr. 1. Es war an einem Sommervormittage des Jahres 1833, als in das Lesezimmer des Leipziger literarischen Museums, welches damals im ersten Stockwerk des neben Auerbach’s Keller gelegenen Hauses befindlich und dem Buchhändler Reclam gehörig, ein nicht zu großer, aber ziemlich wohlbeleibter Herr mit gutmüthigem Gesicht trat und, ohne von den am großen, mit grünem Tuch behangenen ovalen Lesetisch versammelten Museum-Stammgästen irgend weiter Notiz zu nehmen, am kleinen Tisch am Fenster Platz nahm und sich sofort in die Zeitungen vertiefte.

Die damaligen Besucher des literarischen Museums, die sich fast täglich zu einer bestimmten Stunde des Vormittags oder am Spätnachmittage am großen Tische zusammen fanden, waren sich einander persönlich so bekannt, daß die Erscheinung eines Fremden stets die Aufmerksamkeit des Stammtisches auf sich zog. Zu den hervorragendsten Persönlichkeiten dieses Stammtisches gehörten damals der in Leipzig seit einer langen Reihe von Jahren wohnhafte Prinz von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augusteburg Emil, ein ebenso humaner wie gebildeter und sich für die Tagesereignisse sehr interessirender alter Herr, der nur die für uns andern Leser etwas störende Angewohnheit hatte, daß ihm Hamann, der Museumdiener, die neuangekommenen Zeitungen jedesmal zuerst bringen mußte. Das hätte sein mögen, wenn Se. Durchlaucht, so wurde der Prinz genannt, sofort zur Lectüre der neuen Zeitungen übergegangen wäre; aber nein, erst wurde die bereits in der Hand befindliche Zeitung gelesen und die Neulinge gleichsam als Reserve darunter versargt. Spazier, der bekannte Polenfreund, ebenfalls ein Museenbesucher, sprach sich einmal ziemlich ungenirt über diese zeitweilige Confiscation aus. Neben dem Prinzen, der am oberen Ende der Tafel seinen Platz hatte, saß Professor Traugott Krug, der Philosoph, der mit Sr. Durchlaucht sehr befreundet schien. Anderweitige Stammgäste waren: der Professor Bülau, der Herausgeber der Pölitzischen Jahrbücher, stets sehr schweigsam und immer lesend; der für die Wissenschaft viel zu früh durch den Tod entrissene Prof. Richter, eine der liebenswürdigsten Persönlichkeiten; dann ein damals sehr radicaler Geschichtsschreiber aller Revolutionen, jetzt Mitarbeiter einer sehr conservativen Zeitung –; ferner Friedrich Gleich, der Herausgeber des „Eremiten“, nächst der Zwickauer „Biene“ damals das einzige sächsische Oppositionsblatt; der als freisinniger Publicist nicht unbekannte Dr. Hermes, der bereits erwähnte Dr. Spazier, der durch seine ultramontanen und absolutistischen Gesinnungen in Leipzig bekannte Dr. d’Alnoncourt, der Buchhändler Molbrecht und einige Kaufleute. Auch Ernst Ortlepp, damals eine recht geachtete Persönlichkeit, und Schreiber dieses erschienen oft auf dem Museum. Sobald die Stammgesellschaft Vormittags zwischen

11 und 12 Uhr beisammen war, wurde die lex regia eines Lesemuseums,

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Senecio obrotanifolius
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 831. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_831.jpg&oldid=- (Version vom 22.12.2020)