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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

langen fruchtlosen Versuchen, weiter empor zu dringen, mußte er, wie früher (und wohl auch noch oft nach ihm) die Anderen, unverrichteter Sache wieder umkehren. Es war am hohen Nachmittage. Aber wehe! Als er auf dem Rückwege an seinen Eisstufen wieder ankam, hatte die Sonne dieselben hinweg geschmolzen, so daß sich ihm nur eine jedes Anhaltpunktes beraubte, glatte, fast verticale Eiswand darbot. Unerschrocken begann er das einzige mögliche, aber lebensgefährliche Auskunftsmittel durchzuführen, nämlich mit der rechten Hand Stufen unter seinem Standpunkt in’s Eis zu hauen, während die Linke krampfhaft an das tödtendkalte Frostgebilde sich anklammerte. Für einige Dutzend Tritte gelang ihm das schwindelnde Werk. Da aber, weiß der Himmel, durch welchen unbedeutenden Umstand, glitt der Unglückliche aus und stürzte dem Abgrunde zu. Zerschmettert würde er drunten angekommen sein, wenn nicht eine hervorragende Felsenzacke ihn aufgefangen und in die mit frischem Schnee weich ausgepolsterte Gabelung gebettet hätte, wo er allmählich wieder zur Besinnung kam. Unter Mühsalen erreichte er endlich die sichere Thalsohle wieder. Nach dieser Abschweifung zu unserem Thema zurück.

Eben diese Schnee- und Gletscher-Passagen bedingen in der Regel ferner, daß nicht etwa eine Gesellschaft von Touristen nur einen Führer bei sich habe, sondern daß jeder Reisende für seine Person einen Führer engagirt, der wiederum mit Eissporen, Leitseil und anderen Bergsteiger-Requisiten ausgerüstet sein muß.

Man pflegt nämlich Firnfelder und Gletscher in der Weise zu überschreiten, daß der Hauptführer (der Geübteste, Hochgebirgskundigste und Besonnenste) vorangeht, ihm dann in Entfernung von etwa fünf bis sechs Schritten einer der Reisenden folgt, nach abermals gleicher Distanz der zweite Führer und dann der zweite Tourist kommen, bis ein Führer oder Träger den Schluß bildet. Alle sind durch ein um die Hüfte geschlungenes Seil mit einander verbunden. Diese Vorsicht wendet man deshalb an, um einer trügerischen, heimtückischen Eigenschaft der Gletscher und Firnfelder zu begegnen. Wie bekannt, sind die Gletscher und zum Theil auch die mit sogen, „ewigem Schnee“ bedeckten Flächen im Hochgebirge von Querspalten durchzogen und zerrissen, die das Marschiren auf denselben sehr beeinträchtigen und aufhalten. Nun begegnet’s, daß bei frisch gefallenem Schnee (der, wie wir aus den Flachlands-Erscheinungen wissen, in feucht angewehtem Zustande frei in die Luft hinaus stehende Vorsprünge ansetzt) sich sogenannte Schneebrücken über jene Risse und tiefen Spalten wölben, welche dieselben völlig verdecken, so daß der auf der Oberfläche Marschirende, wenn er nicht ein ungemein geübtes, gleichsam instinctiv die Gefahr erkennendes Auge hat, unbesorgt über die gräulichen Abgründe hinwandert, aus denen in manchen Fällen Rettung unmöglich ist. Da aber solche Spalten nicht breiter als einige Fuß sind, so können von einer Bergsteigungs-Expedition, wenn die Theilnehmer derselben in Gänsemarschlinie mit Distanzen gehen, nie Alle zu gleicher Zeit, sondern höchstens Einer durch solch eine Schneebrücke einbrechen. Um nun die Folgen solchen Einsinkens zu paralysiren, findet eben das oben berührte Anbinden an’s Seil statt, so daß, wenn einer der Alpengänger plötzlich einbricht, er nicht tief fallen kann, sondern im Augenblick von den Anderen wieder herausgezogen wird. Dieses Manöver erregt bei Neulingen einiges Grauen, aber man lernt so rasch, diese Gefahr mißachten, daß die Durchfälle zu den lustigsten, die allgemeinste Heiterkeit unterhaltenden Episoden gehören. Von allen diesen Bedingungen, Vorkehrungen und Inconvenienzen hat unser zehntausend Fuß hoher Piz Ot nicht die Spur. Man braucht bei ihm nicht, wie bei den andern hohen Alpen-Magnaten, stundenlang auf Schnee und Eis zu antichambriren, ehe man in das Allerheiligste der Pracht- und Wunderwelt eingelassen wird. Einfach, gerade und biderb, aber auch ein wenig rauh, wie eine echte, urchige Bündner Natur, steht er da. Er macht nicht viel Wesens, es bedarf keiner besondern Einführungs-Weitläufigkeiten; selbst den des Steigens ungewohnten Flachlandssohn läßt er leicht auf gänzlich unbeschwerlichem Wege bis an die Sockel seines Felsenschemels herankommen, und dann ruft er dem ihn besuchenden Fremdling zu: „Jetzt, Bursch, wenn du Courage hast, versuch’s, komm herauf zu mir; der Lohn für dein Mühen soll dir werden.“

Und das ist’s, was den Piz Ot vor Tausenden seiner Commilitonen auszeichnet. Dadurch, daß er von dem Ober-Engadin, einem der am höchsten gelegenen bewohnten Thäler Europa’s, aus erstiegen wird, hat man von Samaden (5360 Fuß überm Meeresspiegel), dem schönen, großen, reichen Dorfe, in dem man übernachtet, nur noch 4640 Fuß eigentlich zu steigen, also etwa so viel wie von Wäggis am Vierwaldstätter See bis auf den Rigi. Wer diese zuletzt genannte, weltbekannte Favorit-Bummel-Promenade gemacht hat, weiß, wie wenig dies besagen will. Auch nicht mehr als vier Stunden Zeit, gerade wie auf den Allerwelts-Rigi, braucht man von Samaden bis den Gipfel des Piz Ot, und der ganze an großartigen, mächtig sich aufdrängenden Eindrücken so überreiche Weg ist für den, der nicht gar zu sehr Stuben-Pantöffler ist, so recht eine Partie, die ganz in den mittleren Kräften liegt.

Freilich muß der Piz Ot-Gänger Einer sein, der ein wenig frisch in die Welt hinauszusehen gewohnt ist, – dem die märchenhafte Herrlichkeit unseres Hochgebirges, die wir alte Bursche jubelnd anjauchzen wie die kleinen Schulbuben, während uns die Augen voll Thränen stehen und das Herz puppert und stößt, als ob es aus seinem Brustkämmerlein heraushüpfen möchte, – freilich muß es Einer sein, sage ich, dem der Kopf nicht schwindelt ob alle dem, was da rundum sich aufbaut. Denn mit dem Wege da hinauf hat’s folgende Bewandniß:

Drunten in Samaden haben wir in dem kleinen, nur über vier freundliche Zimmerchen gebietenden, aber ungemein heimlichen Gasthofe zum Piz Ot bei Herrn Bernhard logirt. Das Mamachen hat in gewinnender, ruhiger Freundlichkeit Alles aufgeboten, was Küche und Keller vermögen, um von ihren Gästen mit einem anerkennenden Händedruck erfreut zu werden, und Meister Bernhard, der seines Zeichens eigentlich ein Giftmischer und Pillendreher, vulgo Apotheker ist, daneben aber famose Veltliner Weine conservirt, in seinen Mußestunden recht frisch hervorquellende Gedichte improvisirt und nur nebenbei Gastwirth zu sein scheint, hat dem altehrwürdigen Papa Krätli, dem hochgewachsenen, mit seinem langen grauen Barte einem Alpengeiste gleichenden Botaniker in Bevers (eine halbe Stunde von Samaden), es wissen lassen, daß wieder Bergsehnsüchtige aus der Ferne da sind, und siehe, der gute treue Alte hat sich eingestellt, uns zu begleiten. Denn ihm macht’s Freude, wenn er sieht, wie die zu seinem Herzen, zu seinem Leben gehörenden Alpen auch Andere mit Begeisterung erfüllen.

In schweigender Nacht sind wir ausgewandert. Rings hehre heilige Stille unter dem funkelnden Sternenheere. Nur fernher braust’s von dem zu einem allgemeinen, großen, unbestimmten Naturlaute ineinander zerfließenden Rieseln und Schäumen und Plätschern der Bergbäche, die dem Innstrome zueilen; das Wehen des frühen Morgenwindes durch die Wipfel der Arven und Lärchen mischt sich darein und umhüllt jedes einzeln sich hervordrängen wollende Rauschen mit seinen linden, leisen Accorden. So geht’s hinauf durch thaubenetzte Bergwiesen, am einsam liegenden, uralten St. Peterkirchlein vorüber, in dessen Mauermarken die zur großen Friedensheimath eingegangenen Bewohner von Samaden den Todesschlaf schlummern. Horch! Glockengeläute unterbricht das große Schweigen. Es ist 3 Uhr; der Thurmruf mahnt das Volk, in die oft stundenweit entfernten Heuwiesen zum Mähen zu gehen. Drüben überm Piz Mezzem und tiefer hinein, ob den Bergen des Unter-Engadins, dämmert’s hell am Horizonte auf. Wir steigen immer leicht bergan. Nun nimmt uns Waldung auf, und längs einer Schlucht windet der immer erkennbarer werdende Pfad im Zickzack sich empor. Ein leuchtend schöner Tag ist im Anbruch; denn im Osten zieht’s durchsichtig purpurn auf und sendet seine Lichtströme immer weiter herauf durch die unendlichen Räume des Universums, daß der Sterne blitzendes Feuer ermattet. Kein Wölklein hemmt den freien vollen Ausstrom von Lucifers flammender Fackel; nur leichte Nebelflaggen zerflattern da und dort an den Felsenspitzen und Firnzinken. Nun, nach etwa dreiviertelstündigem Wandern haben wir die Baumregion schon unter uns, ein Zeichen, daß wir in einer Höhe von mehr als 6000 Fuß weilen. Jetzt Halt! ein Augenblick der Rast, – des Schweißabtrocknens, – der erste Rückblick und der erste Jubelruf aus Aller Munde; denn drüben an dem Riesenbau der Bernina hat die Sonne die höchsten, blendend weißen Spitzen mit ihren Strahlen vergoldet, während drunten das Thal noch im bläulichen Morgenschatten schlummert.

Am Wege eine Schäferhütte. Der borstbärtige Insasse, wohl ein Bergamaske, durch seines Hundes Ruf unter die Thür gelockt, mag am Polenta-Kochen oder am Milchgeschäfte sein; denn aus den Fugen des rohen Steingemäuers dringt träg emporsteigender Rauch hervor. Die Alpenregion beginnt, so zeigen es uns die kleinen zierlichen Pflänzchen an. Die Flora dieses Weges ist weit

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 830. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_830.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)