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der Schweiz, sich jeder Einmischung in die Angelegenheiten anderer Staaten zu enthalten. Der „unentwegliche“ Fundamentalsatz von Furrer’s Politik mußte demzufolge die Neutralität sein, ein Fundamentalsatz, dessen Richtigkeit nur Solche anzweifeln können, welche die Schweiz und die Schweizer nicht kennen.

Wie in seinem Denken, Reden und Handeln, so ist Furrer auch in seiner Lebensführung ein Republikaner jeder Zoll gewesen. Nichts Gemachtes an ihm, keine Spur von Affectation oder Prätension. Der Bundespräsident Furrer war noch immer der schlichte Dr. Furrer von ehemals. Selten wohl hat ein Mensch Popularität, Erfolg und Ruhm mit solcher Gelassenheit hingenommen wie der Verewigte. Es war etwas Washington’sches in ihm. Der Bundespräsident führte den einfachen Haushalt fort, welchen der Advocat geführt hatte, und es mochte ihm, falls er überhaupt Notiz davon nahm, wunderlich vorkommen, wenn die Damen des Berner Patriciats sich darüber wunderten, daß die Frau des Staatsoberhaupts der Eidgenossenschaft ihren Hausgeschäften nachging, wie andere bürgerliche Hausfrauen auch. In unseren Tagen, wo so Vieles auf den bloßen Schein, auf die jämmerlichste Großthuerei und Eitelkeit angelegt ist, da ist es wahrlich eine doppelte Freude, das Bild der stillumfriedeten, prunklosen Häuslichkeit eines solchen ersten Bürgers einer Republik sich zu vergegenwärtigen. Da ist kein Tand und Flitter, sondern Wesenheit und Wahrheit … Und glaube man nur nicht, daß der schlichte, urbane, milde Furrer bei Gelegenheit seine und seines Landes Würde nicht zu wahren gewußt habe. Ich bin im Falle einen einschlägigen Zug beizubringen, der meines Wissens noch nicht bekannt geworden. Im Jahre 1856, zur Zeit, als die Neuenburger Frage in ihre bedrohlichste Phase getreten war, ging Furrer in diplomatischer Mission an die süddeutschen Höfe. Er wurde überall und von Jedermann mit der ihm gebührenden Achtung aufgenommen, einen Ort und eine Person ausgenommen, einen Minister, der seither die Treppe hinaufgeworfen, d. h. von seiner Ministerpräsidentschaft in’s Taxis’sche Palais in der Eschenheimer Gasse befördert worden ist. Dieser Herr läßt sich beikommen, dem schweizerischen Staatsmann gegenüber großartige Airs anzunehmen, ja denselben, wahrscheinlich aus alter Gewohnheit, förmlich zu schulmeistern und im reinsten Kreuzzeitungsstyl über die Schweiz zu raisonniren. Da hat aber der Jonas Furrer solcher Tölpelhaftigkeit nach Gebühr heimgeleuchtet, hat mit der Faust auf den Tisch geschlagen und die Excellenz mit einem Compliment verlassen, welches die Excellenz wohlweislich für sich behielt.

Es war ein tiefergreifender Anblick, einen solchen Mann auf der Höhe seiner Bahn von einem unerbittlichen Uebel, der Bright’schen Nierenkrankheit, ergriffen und vergeblich dagegen ankämpfen zu sehen. Mehrmals hatte ihm die Pfäferser Therme Linderung und Erfrischung verschafft. Als er, schon sehr leidend, auch voriges Jahr zu ihrem Gebrauche nach Ragaz sich begab, fand er daselbst am Fuße des Tabor Genesung von allen Lasten und Leiden des Lebens. Am 28. Juli empfing der Friedhof seiner Vaterstadt die Hülle ihres berühmtesten Sohns. Es war ein Tag der Trauer für die gesammte Eidgenossenschaft. Am folgenden Tage beschloß die Bürgerversammlung von Winterthur, von Gemeindewegen dem Verewigten ein Denkmal zu errichten.

Es hieße dem Andenken Furrer’s einen schlechten Dienst erweisen, es hieße seinen schlichten Bürgersinn noch im Grabe beleidigen, wollte man übertreibendes Lob auf seinen Namen häufen. Man braucht, scheint mir, nicht mehr aus ihm zu machen, als er war: er war genug. Nicht ein Alles überragender, Alles mit sich fortreißender, die Zeit mit seinem Gepräge stempelnder, leidenschaftliche Bewunderung und leidenschaftlichen Haß weckender, nein, nicht ein solcher Geist ist Jonas Furrer gewesen. Man kann ihm keine Genialität zutheilen. Aber er war ein seltenes Talent und, was mehr, ein so zu sagen providentielles Talent, d. h. ein solches, wie sein Vaterland es gerade brauchte. Jede Fiber in ihm war schweizerisch. Er ist der verkörperte Ausdruck des schweizerischen Liberalismus in dessen bestem Wollen und höchsten Zielen gewesen. Ein Mann der Ordnung, ein Schildhalter des Rechts, ich wiederhole es. Allem Plötzlichen, Unberechenbaren, allem gewagten Experimentiren abhold. Kein bahnbrechender Stürmer, aber ein Ordner, Organisirer, Ausbildner. Im Innern entschieden vorwärts auf der Bahn eines verständigen Demokratismus, aber nach außen vorsichtig, behutsam und neutral, neutral immer und immer! denn wir sind nun einmal keine Großmacht, und die Rolle des Frosches spielen, der sich zum Ochsen aufblasen möchte, dazu sind wir viel zu praktisch. So war Furrer’s Politik, und das Schweizervolk wußte, daß sich des Mannes Politik auf’s Innigste mit seinem Charakter, mit seinem Gewissen verschmolz. Daher Furrer’s außerordentliche und dauernde Popularität, auf welche gestützt er so Gutes, so Großes zu leisten vermochte. Sein Verhalten im Einzelnen und Ganzen bietet der Kritik Raum, keine Frage. Aber gewiß ist dies: auf einem reinsten und schönsten Blatt der Geschichte unsers Jahrhunderts steht unvergänglich der Name von Jonas Furrer.




Die deutsche Turnmacht!
Von Georg Hirth.


Deutschlands Turner eröffneten vor zwei Jahren jenen Reigen nationaler Feste, die seitdem von der größten Bedeutung für die Entwickelung des deutschen Volkslebens geworden sind. Die denkwürdigen Tage von Coburg (17–19. Juni 1860) zündeten wie ein Frühlingssonnenstrahl: Turnen und abermals Turnen ward die Losung des deutschen Jungthums, und was das Volk, gestützt auf die unabweisbaren Forderungen unserer vorwärtsschreitenden Zeit und auf dem Wege friedlicher Vorstellung, verlangte, konnten die Regierungen nicht mehr verwehren. Dem Turnen wurde wiederum seine Anerkennung, es wurde heimisch in Hunderten neuer Volksvereine; der Schule ward es, freilich nicht allerwärts und fast nirgends durchgreifend, als nothwendiger Erziehungstheil, dem Heere als unerläßliche Grundlage der Wehrtüchtigkeit beigeordnet; der Vereinszwang wurde in den meisten Staaten unseres zerklüfteten Vaterlandes aufgehoben, und so konnte sich ungehindert ein reges turnerisches Leben entfalten auf den Uebungsplätzen, auf Festen und Fahrten. Das zweite allgemeine deutsche Turnfest in Preußens Hauptstadt (10–12. August 1861) fand somit schon einen viel ergiebigeren Boden vor, zu dessen weiterer Bebauung es nicht wenig beitrug.

Ueberhaupt sind es die Feste, welche, gleich Brennpunkten die Strahlen der gesammten volksthümlichen Bestrebungen sammelnd und wiederausstrahlend, weit und breit befruchtend wirken. Wie im Kleinen die Hunderte von Gau- und Vereinsturnfesten die Sache fördern halfen, im engern Kreise anregten und Abschnitte in der Entwickelung einzelner Vereine und Vereinsgruppen bilden, so sind nun namentlich jene zwei größeren Feste zu Coburg und Berlin Abschnitte in der Geschichte des deutschen Turnwesens geworden. Ein Jahr vor dem Coburger Feste zählten wir in Deutschland 241 Turnvereine mit 23670 Mitgliedern. Im Winter nach dem Feste (1860/1861) bestanden schon 506 Vereinigungen mit etwa 50,000 Mitgliedern, während wir heute mehr als das Doppelte nachweisen können, nämlich 1309 Vereine mit etwa 120,000 Mitgliedern. Freilich ist das Turnen noch nicht in allen deutschen Gauen gleich heimisch. Verhältnißmäßig die meisten Vereine bestehen in Mitteldeutschland, im Königreich Sachsen allein 180.

Nur wenige von diesen Vereinen stammen also, wie aus den gegebenen Andeutungen hervorgeht, aus früheren Jahren, da fast alle, die sich zur Zeit Jahn’s im zweiten Jahrzehnt des Jahrhunderts, sodann in den dreißiger und vierziger Jahren bildeten, wieder eingingen. Die ältesten der jetzt bestehenden Gemeinden sind die zu Friedland (1814), die Hamburger Turnerschaft und der Turnverein zu Neustrelitz (beide 1816). Vom Jahre 1828 her stammen noch München und Wolfenbüttel, vom Jahre 1832 die Schulturnvereine zu Hannover und Hildesheim, von 1833 die Vereine zu Frankfurt a. M. und Wismar, von 1838 Blankenburg i. H., von 1842 Königsberg i. Pr., Mainz und Parchim, von 1843 Neubrandenburg, Reutlingen, Schwerin. Von 1844 her haben sich 9, von 1845 5, von 1846 15, von 1847 8, von 1848 27 Vereine erhalten.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 781. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_781.jpg&oldid=- (Version vom 13.12.2020)