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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Des Reichs-Canarienvogels Entweichen.

Von einem Augenzeugen.

Der Reichs-Canarienvogel! – Wer fühlte sich bei der Erinnerung an diesem Namen nicht mitten in die Kämpfe von 1848 u. 49 versetzt! Wir sehen wieder Alles an unserem Geiste vorüberziehen – das feurige energische Vorparlament, das Parlament selbst und endlich das Rumpfparlament bis zu seinem schwäbischen Untergang. Wir können bei allen unsern Lesern ein so gutes Gedächtniß voraussetzen, daß sie weder einer Geschichte noch einer Kritik jener Begebenheiten bedürfen, um sich die Stellung des Reichstagsabgeordneten Rößler von Oels im Parlament zu vergegenwärtigen. Sie wissen, daß er der Linken angehörte, mit dieser nach Stuttgart ging und dann das Schicksal aller preußischen Mitglieder des Rumpfparlaments theilte: er mußte die Heimath meiden, deren damalige Regierung ihn als Verbrecher behandelt haben würde. Der Reichs-Canarienvogel, wie bekanntlich Rößler von seinen Freunden wegen seines nankingfarbigen Anzuges scherzweise genannt worden ist, hielt sich nach der Sprengung des Parlaments bei einigen Freunden in Würtemberg auf, wo er keinerlei politische Verbrechen begangen hatte und also unangefochten leben zu können hoffte, bis andere Zeiten ihm die Rückkehr ins Vaterland gestatten würden. – Aber was war bei der so schnell hereinbrechenden Reaction damals nicht Alles möglich! Auch der harmlose Reichs-Canarienvogel wurde eines schönes Tages während eines Besuches in Stuttgart verhaftet und nach dem Hohenasperg gebracht. Der „Asperg“ war jedoch nicht mehr der grause Aufenthalt, wie zur Zeit Schubart’s, und der damalige Commandant Sonntag war ebenfalls das gerade Gegentheil von dem Peiniger des unglücklichen Dichters, dem berüchtigten General Rieger. Oberst Sonntag war streng im Dienst und handhabte die Hausordnung unnachsichtlich; dagegen zeigte er sich persönlich mild gegen die Gefangenen und sorgte in jeder Beziehung für sie, so daß Niemand über die Behandlung sich zu beklagen hatte, welcher den Vorschriften nachlebte, deren Beachtung bei der großen Anzahl von Straf- und Untersuchungsgefangenen unumgänglich nöthig war.

Ueber schlechte Behandlung konnte sich also der Reichs-Canarienvogel nicht beschweren, ebenso wenig fehlte es ihm an frischer Luft und Bewegung, da er jeden Vor- und Nachmittag eine Stunde auf dem Walle sich ergehen durfte. Auch über Einsamkeit konnte der Reichs-Canarienvogel sich nicht beklagen: Rau von Gaildorf theilte sein Zimmer und seine Spaziergänge, und wer diesen je gekannt, wird sich keinen besseren Gesellschafter wünschen. So hatte denn der Canarienvogel außer der Freiheit Alles, was das Leben erträglich macht: gute Wohnung und Kost, schöne Spaziergänge, angenehme Gesellschaft und milde, wohlwollende Behandlung, und er konnte somit getrost der Zukunft ins Auge sehen, denn da er in Würtemberg nicht in Anklagestand versetzt war, so konnte seine Gefangenschaft selbst nicht von langer Dauer sein.

Da durchdringt ein dunkles Gerücht seine Kerkermauer, scheucht den Schlaf von seinem Lager und giebt ihn der Sorge und Verzweiflung anheim: Preußen, so heißt es plötzlich, betreibe seine Auslieferung, und diese soll in kurzer Zeit wirklich stattfinden, wie ihm treue Freunde zuflüstern. Die Auslieferung an Preußen aber ist Rößler’s Todesurtheil oder Begnadigung zu lebenslänglichem Zuchthause. Diesem Loose durfte der Reichs-Kanarienvogel nicht verfallen, die Hand, welche mit der Feder in klangvollen Versen wie in begeisterter Prosa so beredt für die Freiheit und für die Ehre des Vaterlandes wirkte, durfte nicht von der Spindel entweiht, dem schwäbischen Volk durfte nicht die Schmach auferlegt werden, einen Kämpfer für die deutsche Reichsverfassung dem Hasse preußischer Junker ausliefern zu müssen. Es gab noch Männer im Lande, welche vor einer solchen Calamität errötheten und sie ihren Mitbürgern um jeden Preis zu ersparen suchten. Und die Zeit drängte, denn die Auslieferung sollte in kurzer Zeit stattfinden. – Es galt, den Reichs-Canarienvogel am hellen lichten Tage über Mauern und Gräben wegfliegen zu lassen, und dazu waren wirkende Kräfte innerhalb und außerhalb der Festungsmauern nöthig.

Zwar hätte ich wohl Nichts zu befürchten, wenn ich die Mitwirkenden hier namentlich vorführen wollte, denn eines Theils sind die Hauptbetheiligten längst nach Amerika ausgewandert, und zum Zweiten ist die ganze Sache verjährt, und da sogar die damals in contumaciam Verurteilten jetzt frei zurückkehren dürfen, so wäre für die übrigen Begünstiger der Flucht wohl ebensowenig zu befürchten; aber ich unterlasse es dennoch Namen zu nennen, um gegen keine Seite hin anzustoßen; ich erzähle einfach die Thatsachen, wie ich sie selbst angesehen und mit erlebt habe.

Das Nothwendigste war, eine Verbindung mit dem Gefangenen herzustellen, durch welche man mit demselben ungehindert correspondiren konnte. – Die damalige Ueberfüllung des Hohenasperg mit Gefangenen erleichterte diese Absicht, denn zur Bedienung dieser vielen Leute waren einige Sträflinge des Ludwigsburger Arbeitshauses auf die Festung commandirt, welche als sogenannte „Hofschäffer“ die Bedürfnisse der verschiedenen Gefangenen herbeischaffen mußten und daher in jede Zelle ungehinderten Zutritt hatten.

Der unermüdliche Dr. R. hatte einen dieser „Hofschäffer“ gewonnen, die sichere Besorgung der Briefe an Rößler zu übernehmen; aber es bedurfte eines Vermittlers, welcher sie dem „Hofschäffer“ übergab, denn dieser durfte Briefe weder durch die Post noch durch den Boten erhalten.

Zu dieser Zeit wollte es das Glück, daß ich einen zweimonatlichen Festungsarrest wegen Preßvergehen abzusitzen hatte; ich konnte den ganzen Tag frei in der Festung umhergehen und Correspondenzen empfangen und absenden, ohne daß solche der Durchsicht des Festungscommandanten unterliegen mußten. Dazu kam noch der freundliche Zufall, daß zu Anfange des Monats Februar 1850 mich ein Bekannter besuchte, welcher auch Rau von Gaildorf zu sprechen wünschte. Ich suchte bei dem Commandanten um die Erlaubniß hierzu nach, erhielt sie, wie immer, bereitwillig und mit dem Beisatze, daß die Unterredung während des gewöhnlichen Spazierganges stattfinden könne. Dieser geschah, wie bereits bemerkt, stets in Gesellschaft des Reichs-Canarienvogels. Der Obermann, welcher beide Gefangene, Rößler und Rau, zu begleiten pflegte, brachte sie an jenem Abend gegen 5 Uhr auf das Zimmer des Aufsehers, wo wir bei einem Glase Wein die kurze Stunde in heiterem Gespräch zubrachten. Hier war es, wo Rau, der neben mir saß, mir in einem unbewachten Augenblicke die Frage zuflüsterte, ob ich meine Beihülfe leihen wolle zu der Entweichung Rößler’s, welche fest beschlossen sei, da die Auslieferung an die preußische Regierung unter allen Umständen vereitelt werden müsse. Einer Ueberlegung bedurfte es hier nicht – ein Händedruck unter dem Tische versicherte ihm meine Zustimmung, und von diesem Tage an vermittelte ich alle Communicationen durch den Hofschäffer in den Käfig des Reichs-Canarienvogels. – Aufregende Tage begannen, denn es war ein gewagtes Unternehmen, allein es stand zu viel auf dem Spiele, um nicht Alles an sein Gelingen zu setzen.

Der Fluchtversuch sollte am lichten Tage, während des Morgenspazierganges in’s Werk gesetzt werden, und Rau übernahm es, die Aufmerksamkeit des begleitenden Soldaten abzulenken, um dem Flüchtling wenigstens fünf freie Minuten zu verschaffen. Dies reichte hin, ihn außer dem Bereich der Verfolgung zu setzen, da er geborgen war, sobald er den äußern Wall unangefochten erreichen konnte. – Alle Vorbereitungen waren getroffen, und das Glück begünstigte das Unternehmen sichtbar, denn zwei Mal drohte eine voreilige Entdeckung, aber Gott belegte die Augen der Wächter mit Blindheit, und Niemand hegte eine Ahnung vor dem Augenblicke der Ausführung. – Die Leitern zur Uebersteigung des Festungswalles waren mehrere Tage vorher schon in den nahen Weinbergen bereit gelegt worden, und obschon die den äußern Wall begehenden Patrouillen diese liegen sehen mußten, obschon mehrere Bewohner des Dorfes Asperg ebenfalls die Leitern bemerkten, so fiel doch merkwürdiger Weise Niemand die Anwesenheit derselben zwischen den Traubenstöcken auf, und so wenig man sich auch einen Grund denken konnte, warum an diesem Orte Steigleitern liegen sollten. so dachte dennoch Niemand entfernt an den wahren Zweck derselben.

Zwei Tage vor der zur Ausführung bestimmten Zeit hing die Entdeckung abermals an einem Haare. – Ich sitze Nachmittags hinter einem Glase Bier in der Restauration Barthle, als ein Fremder Hereintritt und mir einen Brief überbringt. Das Schreiben war vom Gastwirth X. aus der Nähe; es besprach die letzten Maßregeln, gab zum Schluß noch die näheren Verhaltungsvorschriften und verlangte Nachricht, ob Alles in Ordnung und kein Hinderniß eingetreten sei. – Soweit war Alles gut: das Unternehmen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 776. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_776.jpg&oldid=- (Version vom 13.12.2020)