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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

ruhigen, reinen, heitern, umgrünten und umblüheten Familienasylen ab. Frauen und Kinder strecken glücklich ihre Arme nach ihnen aus. Das prächtigste Hauptmahl des Tages wartet. Sie Alle sind von nun an bis spät am Abend glückliche, unabhängige, von keinem Nachbar gestörte Menschen, Väter, Gatten, Kinder, Verwandte und Freunde. Diese Privat-Familien-Asyle, in denen Frauen und Kinder immer und der Hausherr die größte und schönste Hälfte jedes Tages „leben“, sie umranken London und andere große Städte Englands mit ihren Blüthentrauben von Villa-Vorstädten in solchen Gliederungen und Individualisirungen, daß überall ziemlich gleichartige Familien, in Vermögen, Bildungsgrad, Anschauungsweise und Stand einander ziemlich gleiche Menschen unabhängig neben einander wohnen. Störungen, Aergernisse, Rohheiten können daher so leicht nicht vorkommen. Jede Familie lebt von Mauern, Gittern und Gärten umhegt in ihrem „Schlosse“. Der Verkehr mit den Nachbarn ist entweder ein sehr höflicher, sehr gebildeter und wirklich herzensfreundlicher, oder er fehlt ganz. Wo die Häuser und Gärten unmittelbar aneinander grenzen, kommen Wohl auch Zwiste, Klatschereien vor, aber da Jeder auch hier sein „Schloß“ hat, eine eigene Stätte, worin er sich erholen, seine Nerven, seine abgehetzten Kräfte stärken, vollständig sein eigener Herr sein kann, werden sich die Nachbarn nie zu solcher Qual und Quelle unaufhörlicher Vergiftung, wie in den rinnsteinumgebenen, baum- und lebenslustlosen Miethskasernen Berlins, in denen sich die Menschen wirklich fortwährend gegenseitig Gift zuathmen, da sie das Bischen Sauerstoff verbrauchen und dafür Kohlensäure von sich geben, ohne daß sich die Luft zwischen diesen baumlosen Steinmassen mit offenen Rinnsteinen und ungeheuern Vorräthen von Unrath in den Höfen wieder verbessern kann. Auch ist längst medicinisch-statistisch nachgewiesen, daß die Menschen in Städten desto giftiger und ungesunder sind, je dichter neben und über einander sie athmen.

London ist nicht nur die größte, sondern auch die gesundeste große Stadt der Erde, weil es seinen Bewohnern die gesundeste Luft, die in Städten möglich ist, sichert und alle reichen, wohlhabenden und auch ärmeren ordentlichen Leute durch Nahrung, Arbeits- und Lebens-Organisation, durch rasches, ausschließliches Geschäft hinter einander und tägliche Erholung, Ruhe und Sittlichung in der Familie das gesundeste, reinlichste Leben führen. Wenn man von London nach Berlin kommt, erschrickt man vor diesen gelblichen, blassen, verbissenen Gesichtern, unreinlichen, knurzigen Gestalten. Die Engländer sind „pöbelhaft gesund“, sagt Heine. Die Hunderttausende namentlich, die alle Tage in der City ein- und auswandern, sehen durchweg klar, weiß, rothbäckig, außerdem ungemein rein aus, und sind durchweg größer, länger, gesunder, daher auch höflicher.

London ist voller Parks, öffentlicher Rasen- und Baumplätze, und die Vorstädte nisten im Grünen. Berlin ist in dieser Beziehung eine der verpfuschtesten, barbarischsten Städte der Welt, besonders in mehreren neuen Stadttheilen, die aus Steinen und Rinnsteinen bestehen. Da es in diesem Vandalismus gegen das grüne Leben rascher und rascher wächst, wird die Bestialität, Pestilenzialität und Mortalität in furchtbaren Steigerungen zunehmen, wenn nicht für Sittlichkeit, Gesundheit, Ruhe und Erholung, Familien- und Geschäftsleben den englischen Einrichtungen ähnliche Maßregeln sich geltend machen. Die Zerreißung des Tages durch ein Mittagsessen zwischen den beiden Hälften der Geschäftszeit ist so ungesund, zeitraubend und unpraktisch, daß sich wohl mit der Zeit und der immer gebieterisch werdenden Nothwendigkeit die Großherren der Geschäfte einmal zu der englischen Praxis entschließen werden. In Köln und anderen großen Handelstädten hat man damit, wie ich hörte, schon begonnen.

Damit wäre denn auch die Grundbedingung für örtliche und zeitliche Trennung des Geschäfts- und Familienlebens gewonnen. An Eisenbahnen fehlt es ja schon jetzt nicht mehr. Wenn sich erst gebildete Baucapitalisten oder lieber Compagnien finden, die endlich Ernst damit machen, draußen weit im Felde an Eisenbahnen wirkliche menschliche Häuser zu bauen, Häuser in Blüthentrauben um die Stadt herum, Häuser mit Bäumen und Gärten und grünen Parks dazwischen, wie meilenweit um London und alle großen englischen Städte umher: dann können Familien, die Ruhe, Sittlichkeit, Reinheit, Unabhängigkeit, Gesundheit brauchen, auch danach wohnen. Es käme nur auf einen Anfang an. Ein paar intelligente Männer von Geld und Bedeutung mit rechtem Willen und Einsicht würden hinreichen, um diesem vertrackten giftigen Berlin auf die Bahn des Heils zu verhelfen. Wenn sie ein paar Dutzend geschmackvolle Wohnungen irgendwo draußen an einer Eisenbahn neben statt über einander bauen und etwa noch mit der Eisenbahn übereinkommen, daß sie dort halte, wenn’s etwas auszuladen oder mitzunehmen giebt, dann ist Bahn gebrochen. In Berlin seufzen alle gebildeten Familien unter dem Fluche des rinnsteinumdufteten Miethskasernen-Systems. Sie wohnen nicht in ihren Wohnungen, geschweige, daß sie darin leben. Sie suchen Zerstreuung nach außen, so lange sie darin stecken, und rechnen schon im October wieder, wie lange es noch dauere bis zur nächsten Sommerwohnung oder Vergnügungs- und Badereise. Es giebt kein Familienleben in Berlin. Das ist furchtbar richtig, wenn man weiß, wie Engländer in ihren „Schlössern“ Familienleben genießen.

Solche Familien würden sich leidenschaftlich nach jenen Asylen drängen. Die Rentabilität solcher Vorstadts-Dörfer oder Colonien unterliegt nicht dem geringsten Zweifel. Was nothwendig, gesund, schön, Sittlichkeit und Cultur fördernd ist, bezahlt sich immer. Dasselbe gilt von der Vereinigung der zerschnittenen Geschäftshälften jedes Tages.

Berlin ist die im Schwindel-Casernismus am weitesten fortgeschrittene Stadt und muß daher am ersten und ernstlichsten Auswege und Asyle gegen sein inneres Gift bahnen, wenn es nicht darin umkommen will. Aber auch die andern großen Städte, die als Eisenbahnschwingungsknoten sich ansehen und ausdehnen, sollten bei Zeiten dafür sorgen, daß sie, indem sie Felder, Bäume und Gärten um sich her verschlingen, sich in den steinernen Bauten nicht selbst Grabgewölbe mauern. Das Land muß in die Stadt kommen, indem die Stadt auf’s Land geht. Die Barbaren, die sich jetzt größtentheils mit Häuserbau abgeben, speculiren so, daß sie denken, den als Baustelle getauften Garten und dessen Bäume desto besser zu verwerthen, je höher sie Steine darauf thürmen. Die Vandalen! In euren Steinmassen wird blos kohlensaures Gift ausgeathmet, und wenn die Bäume fehlen, sie wieder zu verzehren und dafür mit Lebenslust zu bezahlen, so werden eure Häuser wirklich blos zu Giftfabriken, in denen ihr selbst mindestens zehn Jahre eures Lebens verliert. Wenn das speculiren und Profit machen heißt (ich rechne in euren Egoismus alle die Andern nicht, die für den Aufenthalt in euren Giftbuden schwere Miethe bezahlen), so wartet wenigstens erst auf eure Doctor-, Apotheker- und Todtengräberrechnungen, um dann Facit und Probe zu machen!





Die Auster und die Austernparks bei Husum.

Es sind noch nicht zwanzig Jahre her, da waren eines schönen Herbsttages die Feinschmecker Breslaus in einer ganz entsetzlichen Aufregung. Die Austern waren wieder eingetroffen. Eine Stunde vor der gewohnten Zeit hatte sich der Commerzienrath B., die erste Autorität in derartigen Geschmackssachen, in den Keller begeben. Der Küper sucht die schönsten dieser Muschelthiere aus dem Korbe, bricht die Schalen auseinander und überreicht ein herrliches Exemplar dem sehnsüchtigen Gourmand, der noch den letzten Schluck Weißwein in seinem Munde umherquält. Ein prüfender Blick, – eine sicher geführte Operation, wodurch der Bart losgetrennt wird, – ein rascher Schnitt, der die Auster von der untern Schale löst – einige Tropfen Citronensaft – dann ein Schließen der Augen, der Kopf biegt sich sanft hinten über, und das Thierchen wird eingeschlürft. Aber Einschlürfen, Ausspucken und mit dem Fuß auf dem Boden kratzen, war ein und dasselbe.

„Pfui Teufel! – wie können Sie mir so’n Schundding vorsetzen? das hat ja weder Saft noch Kraft – gieb her!“ damit langte der Getäuschte nach einer zweiten Auster, aber nur um sie ebenso verächtlich wieder auszuspucken; einer dritten, vierten ergeht

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 763. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_763.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)