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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

warteten wir auf das zu gebende Signal. Tausend Herzen lauschten mit Angst auf dieses Zeichen, und aus dem Herzen dieser Tausend tönte ein einstimmiger Schrei, als durch den stillen, eben heranbrechenden Morgen drei dumpfe Glockenschläge über den Platz herüber tönten. Es setzte sich auf dieses Zeichen der Zug mit 1400 Menschen, unter Bedeckung der gesammten bewaffneten Mannschaft und unter dem Commando unseres tapferen Major Flandran, in Bewegung. –

Nie wurde wohl eine gefährlichere Reise durch die Wildniß unternommen, und jede Minute mussten wir eines Ueberfalls durch die Cannibalen gewärtig sein. Diese beständige Gefahr ließ uns die starken Strapazen weniger achten, und so begleiteten wir vierzig Meilen weit die Karawane zu Fuß, dann aber, als wir in die Nähe größerer Dörfer und Städte kamen, wurden wir abwechselnd von den Wagen aufgenommen und legten fernere 40 Meilen zurück. Dank sei es der kundigen Führung unseres tapferen Flandran, die ganze Karawane – die wohl mit Recht an den Auszug der Israeliten aus Aegypten erinnerte, langte endlich glücklich in Mankato an.

Hier trennte ich mich nach einigen Tagen der Ruhe von meinen übrigen Leidensgefährten, und unterstützt von edlen Menschenfreunden, die mich mit Kleidung, Lebensmitteln, ja sogar mit dem nöthigsten Gelde versahen, langte ich nach neunzehntägiger Dampfschiffahrt mit meiner Familie hier in Pittsburg (Pennsylvanien) an. Hier im vorläufigen Hafen der Ruhe eingelaufen, von Verwandten mit liebevoller, aufopfernder Theilnahme empfangen, schrieb ich das Vorstehende.

Wenn auch augenblicklich entblößt von den nöthigsten Bedürfnissen des täglichen Lebens, so ist unser Herz dennoch unendlich dankbar gegen Gott, daß er uns unter den Händen der Wilden und in den entsetzlichen Gefahren so gnädig beschützte, und mit Zuversicht blicken wir in die Zukunft, überzeugt daß Gottes Barmherzigkeit unser Loos bald freundlicher gestalten wird, indem er uns Ersatz für die verlorene Heimath giebt.

Möge aber New-Ulms Fall in die Ohren Derer, welche die Macht haben, die Mahnung erdröhnen lassen, daß, wenn sie nicht wollen, daß der Westen von Minnesota wieder eine Wildniß werde, die Grenze bewehrt und eine Kriegsmacht zum Ausrottungskriege gegen die Rothhäute gehalten werden muß, unter deren Schutze allein das der Cultur verloren gegangene Land wieder erobert werden kaun. –

R. L.




Ein preußischer Volksvertreter.

Wohl ist es ein auffallender Umstand, daß in der preußischen Volksvertretung ein Reichthum an tüchtigen und populären Männern, an glänzenden Rednern sich findet, wie nirgend anderwärts.[1] Man braucht dabei gar nicht die kleineren Landesvertretungen Deutschlands in Vergleich zu stellen, obwohl sie im Verhältniß doch viel localeren Charakter haben, als sie bei einer größeren Zahl von auf der Höhe der Zeit stehenden Capacitäten haben könnten. Nirgends in Europa, kann man behaupten, sind in den letzten dreizehn Jahren, seitdem in Preußen überhaupt Abgeordnete des Volks existiren, so viele glänzende und volksthümliche Parlamentsmänner erstanden, wie hier. Ihre Bedeutung, ihr Name reicht weit über die Grenzen des engeren Vaterlandes, vielfach sogar über Deutschland hinaus. Und dabei muß man bedenken, wie kümmerlich das constitutionelle und parlamentarische Leben gerade in Preußen bis zum Jahre 1859 gestaltet war, wie nichts unversucht blieb, es unvolksthümlich und zu einer leeren Form zu machen, und das eigentliche Volk davon fern zu halten. Aber trotz alledem ist neben den alten parlamentarischen Helden ein neues kräftiges Geschlecht, ein deutscher Kernschlag von Volksmännern entstanden, welches mit dem ersten Eintritt in die Landesvertretung eine Fülle des Talents und der Begabung entfaltete, wodurch der gekünstelten Form des preußischen Constitutionalismus ein lebendiger und volksthümlicher Inhalt gegeben und das preußische Abgeordnetenhaus schnell zu seiner jetzigen imposanten Höhe und politischen wie moralischen Bedeutung für ganz Deutschland getragen wurde. Männer wie Virchow, Hoverbeck, Forkenbeck, Hagen, Duncker, Baron von Baerst, Twesten, sie gehören alle zu dem jüngeren und jüngsten Geschlecht des preußischen Parlamentarismus, und Niemand wird leugnen, daß das deutsche Volk diese Namen kennt.

Diesem glanzvollen Rednertalent und der volksthümlichen, mannhaften Gesinnung, welche so viele Männer des preußischen Abgeordnetenhauses besitzen, verdankt die große Debatte über das Budget vornehmlich die Bedeutung, welche sie in ganz Deutschland und selbst im Auslande gefunden. Der 11., 12. und 15. September, der 6., 7. und 13. October, das waren heiße Tage im Abgeordnetenhause, aber auch große Ehrentage, die das deutsche Volk aller Stämme nicht vergessen wird. An diesen Tagen schlug das preußische Abgeordnetenhaus die Schlacht gegen die geheime Partei im Lande, welche die Ausübung wirklicher Rechte des Volks nicht ertragen kann; an diesem Tage zwangen die Volksmänner Preußens den Scheinconstitutionalismus, sich offen zu erkennen zu geben als der falsche Freund und der alte Feind. Klarheit mußte in das Verhältniß kommen; es mußte erprobt werden, ob denn die Ausübung der noch unverkümmerten Volksrechte in der Verfassung eine leere Form oder eine Wahrheit sei.

Die Volksmänner des preußischen Abgeordnetenhauses sagten: Ihr Minister habt unserer Meinung nach ohne gesetzliche Berechtigung eine neue Heeresorganisation eingeführt, die Millionen jährlich mehr kostet. Gut, wir wollen weiter darüber reden, aber erst bringt das Gesetz für diese neue Organisation ein und bittet uns, wie es euere Schuldigkeit ist, das ohne unsere Zustimmung von euch dafür verausgabte Geld nachträglich zu bewilligen. Si non, non. Thut ihr das nicht, so handelt ihr nicht constitutionell und verfassungsmäßig, und dann gebrauchen wir unser Recht und bewilligen euch das verausgabte Geld für die ungesetzliche Heeresorganisation nicht. – Den Ministern indessen schien diese Haltung des Hauses völlig über dessen Befugniß hinauszugehen, und sie erklärten geradezu, daß die Rechte des Königs verletzt würden, wenn die Rechte des Volkes sich soweit erstrecken sollten. In der Schlacht am 11. und 12. September wurde diesem Theil des Scheinconstitutionalismus die Maske von den Abgeordneten abgerissen, und als er nun so nackt und offen dastand, da sagten 308 von 319 Abgeordneten: Nein, wir sind dieser Nichtachtung unserer Rechte müde. Ihr respectirt diese nicht; gut, so wenden wir sie an und bewilligen euch nicht die sechs Millionen, welche ihr ungesetzlich für eine neue ungesetzliche Heeresorganisation verausgabt habt.

Am 6. und 7. October fand die zweite Schlacht statt. Ein neuer Minister, Herr von Bismarck, wollte sich das Regieren erleichtern. Da die Abgeordneten das Budget für 1862 um sechs Millionen vermindert hatten, so hätten sie dies natürlich auch bei dem Budget für 1863 gethan, welches gleichfalls für die Reorganisation seine Millionen enthielt. So hielt’s denn Herr von Bismarck für angemessener, sich sein Budget für 1863 zurück zu nehmen. Aber darauf erklärten 251 Abgeordnete gegen 36, daß die Regierung verfassungswidrig handle, wenn sie für 1863 Gelder ausgebe, die ihr nicht bewilligt seien. Herr von Bismarck lächelte; er hatte schon längst sich die „beklagenswerthe“ Freiheit gesichert, ganz ohne Budget zu regieren, falls die Abgeordneten nicht ihr Recht so verstehen, daß sie sich der Regierung zu fügen haben.

Während im Abgeordnetenhause das einzige Bollwerk der Verfassung vertheidigt wurde, begann auch das Herrenhaus Hand an dies Bollwerk zu legen. Es erklärte in seiner junkerlichen Neigung, der Regierung immer Recht zu geben, den Etat, wie ihn das Abgeordnetenhaus feststellen wolle, zu verwerfen und die Vorlage der Regierung anzunehmen. Das war Seitens des Herrenhauses ein offener Bruch der Verfassung, und noch in der letzten Stunde seines Lebens erklärte das Abgeordnetenhaus einstimmig: Was die Herren beschlossen, ist null und nichtig; wir halten fest an unserem guten Recht!

Ganz Deutschland, das ganze gebildete Europa hat erwartungsvoll auf diesen Kampf gesehen; denn dabei handelte es sich nicht um ein paar Millionen mehr oder weniger, sondern darum, ob das klare

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 747. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_747.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)
  1. Hier dürfte der preußische Patriotismus doch etwas ungerecht sein. Benningsen in Hannover, Hölder und Sigm. Schott in Stuttgart, Fries in Weimar, Friedleben in Frankfurt, Metz in Darmstadt, Völkel in München, Giskra und Berger in Wien, Braun in Wiesbaden geben den preußischen Rednern an Capacität und glänzendem Vortrag nichts nach.
    D. Red.